Ein älteres Video von Robert Habeck sorgt auf Twitter erneut für Aufsehen. „Warum muss sich Deutschland so reinhängen?“, fragt Habeck in einer Ansprache an die Deutschen, die in voller Version vom Wirtschaftsministerium im Oktober 2022 zur UN-Klimakonferenz veröffentlicht wurde.
„Ich glaube, weil Deutschland alle Möglichkeiten hat, sind sehr viele Augen auf Deutschland gerichtet. Wenn wir es in Deutschland mit all unseren finanziellen und technischen Möglichkeiten, auch mit der breiten gesellschaftlichen Bereitschaft, Klimaschutz jetzt umzusetzen, – wenn wir es nicht hinbekommen, dann werden die anderen 98 Prozent sich ebenfalls nicht daran beteiligen.“ Dann, erwartet Habeck, würden die Beteiligten schlussfolgern: Wenn Deutschland es nicht schafft, warum sollten wir uns reinhängen?
ist das echt?
— Ulf Poschardt (@ulfposh) June 4, 2023
pic.twitter.com/xugtblwKQz
Mit 98 Prozent meint Habeck die restliche Welt, denn Deutschland hat schätzungsweise einen Anteil an globalen CO₂-Emissionen von zwei Prozent. „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!“, reagieren die Twitter-Nutzer ironisch auf die Ansprache. Andere Länder wie Dänemark und Norwegen hätten längst eigene Antworten auf die notwendige Dekarbonisierung gefunden und würden Deutschland nicht brauchen, so der Tenor der Kommentatoren.
China baut Kohlekraftwerke aus: Der Strompreis liegt bei acht Cent pro kWh
Fairerweise muss man an der Stelle erwähnen, dass Länder mit einem viel größeren Emissionsanteil, allen voran China mit rund 30 Prozent, für günstige Energie ebenfalls auf Atom und Kohle setzen. Mit einer „außergewöhnlichen“ Geschwindigkeit bauen die Chinesen vor allem Kohlekraftwerke, das folgt aus einem Bericht des finnischen Zentrums für Energieforschung (CREA) und des Global Energy Monitor (GEM). Rund 60 Prozent des chinesischen Energiebedarfs werden derzeit mit Kohle gedeckt. Im letzten Jahr hatten die chinesischen Behörden die Errichtung von Kohlekraftwerken mit einer Gesamtkapazität von 106 Gigawatt genehmigt: viermal mehr als 2021 und mehr als der Rest der Welt zusammen. Die Baugeschwindigkeit entspricht damit zwei Kohlekraftwerken pro Woche.
Die Expertengruppe Carbon Tracker bezifferte Ende 2021 Pekings gesamtes Planungsvorhaben auf 368 neue Kraftwerke. Aus der heutigen Perspektive entspricht das einer neu entstehenden Gesamtkapazität von über 200 Gigawatt. Ob direkt oder indirekt, auch der chinesische Strompreis profitiert davon: Im letzten Jahr kostete eine Kilowattstunde Strom im Durchschnitt nur acht Cent und damit 6,6-mal weniger als in Deutschland. Aktuell ist die Tendenz in Deutschland sinkend; der Verbraucherpreis liegt jedoch noch bei durchschnittlich 48,16 Cent pro kWh.
Die Berliner Zeitung erreichen derzeit Briefe besorgter Leser, die sich fragen, ob Habecks Wärmewende mit dem Verzicht auf Öl- und Gasheizungen sowie die Neutralitätsziele bis 2045 das Klima überhaupt beeinflussen können, wenn China und andere Länder künftig noch mehr Kohle verbrennen. Auch der deutsche Strom stammte 2022 zu 33,3 Prozent aus der Kohle, doch bis spätestens 2038 soll hierzulande das letzte Kohlekraftwerk abgeschaltet werden, und es werden keine neuen gebaut – anders als in der Rest der Welt. Weitere neue Kohlekraftwerke mit einer Gesamtkapazität von rund 170 Gigawatt entstehen parallel in Bangladesch, Indonesien, Indien, Mongolei, Pakistan, Türkei, Vietnam. Ist es gut für Deutschland, dass ein Land wie China weit weg von Deutschland ist, oder kann die deutsche Klimapolitik zumindest die lokalen Verhältnisse in Deutschland verbessern?
Habecks Wärmewende vs. Kohlekraftwerke in China: „Ein Schritt in die falsche Richtung“?
„Mit dem geplanten Gebäudeenergiegesetz und anderen Klimaschutzmaßnahmen leistet Deutschland einen Beitrag zum globalen Klimaschutz, aber leider nicht zu nationalen Klimaverhältnissen“, sagt der globale Klima-Experte der Boston Consulting Group und Mitbegründer des firmeneigenen Zentrums für Klima und Nachhaltigkeit, Jens Burchardt, der Berliner Zeitung. Die Klimapolitik möge national sein, das Klima sei dagegen global. „Es müssen sich sogar auch andere Länder bewegen. Egal, wie weit China von Deutschland ist: Die neuen CO2-Emissionen werden Deutschland trotzdem betreffen und das Klima in Europa in einem ähnlichen Maße gefährden.“ Trotzdem müsse Deutschland jetzt die Verantwortung übernehmen, um den eigenen Beitrag zu leisten, so Burchardt.

Die Expertengruppe Carbon Tracker mit Sitz in London, die Auswirkungen des Klimawandels auf die Finanzmärkte erforscht, warnt ihrerseits vor der Annahme, China würde von der Kohle profitieren. „Die Pläne der chinesischen Regierung sind sehr enttäuschend und für China ein Schritt in die falsche Richtung“, kritisiert der leitende Datenexperte bei Carbon Tracking, Durand D’Souza. Das Land sei bereits Hitzewellen, Dürren und anderen Katastrophen ausgesetzt, die durch den Klimawandel noch verschärft würden. Zudem zeigt der jüngste Bericht des Carbon-Tracker-Analysten Sam Clissold, dass geplante chinesische Investitionen in neue Kohlekapazitäten zu einer Wertvernichtung in Höhe von 26 bis 40 Milliarden US-Dollar durch sogenanntes Asset Stranding führen könnten. „Die Fertigstellung aller geplanten Blöcke birgt erhebliche finanzielle Risiken und könnte die Kosten einer rechtzeitigen Dekarbonisierung des Energiesektors erhöhen“, warnt er in seinem Bericht. Mit anderen Worten: Wenn China bis 2060 die Klimaneutralität erreichen will und jetzt neue Kraftwerke baut, wird es am Ende viel Geld durch vorzeitige Abschreibungen und Abwertungen der vielen unnötigen Kapazitäten verlieren.
„Wenn einige Länder in Europa stattdessen in die LNG-Falle tappen...“
Aber was sind 40 Milliarden US-Dollar für ein Land wie China? Das sind kaum 0,2 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes im letzten Jahr – 18.100 Milliarden US-Dollar: ein verdaulicher Preis für die globale wirtschaftspolitische Hegemonie. Doch wird diese die Chinesen vor den Klimakatastrophen retten, vor denen alle warnen?
Man darf allerdings nicht vergessen, dass China neben dem Ausbau der Kohlekraftwerke auch weltweit führend bei neuen Wind- und Solaranlagen und aufgrund der riesigen Inlandsnachfrage – der Stromverbrauch ist zehnmal so hoch wie in Deutschland – der weltweit führende Hersteller sauberer Technologien ist. Im Jahr 2022 hatte China etwa 87 Gigawatt Photovoltaik zugebaut: Das ist 58-mal so viel wie die Leistung des kürzlich abgeschalteten Blocks 2 des Kernkraftwerks Isar in Bayern. Diese Führung bei grünen Technologien und nicht nur die Verbrennung eigener fossiler Energieträger spiegelt sich auch in dem relativ niedrigen Strompreis wider, erklärt der Experte Jens Burchardt. Europa sei dagegen ressourcenarm und habe nur einen Weg: weg von den teuren fossilen Energien.
„Wir befürchten, dass jede Abschwächung der Klimaschutzmaßnahmen im Ausland Anreize zur Schwächung europäischer Ziele schafft“, sagt Durand D’Souza von Carbon Tracking. Jedoch hätten der Ukraine-Krieg und die Energiekrise die Notwendigkeit deutlich gemacht, von volatilen fossilen Brennstoffen auf heimische Energiequellen wie Wind- und Solarenergie umzusteigen. Wenn „einige Länder“ in Europa stattdessen in die LNG-Falle tappen und zahlreiche neue Importterminals bauen würden, stelle dies nicht nur einen schlechten Präzedenzfall für andere große Emittenten wie China, Indien und die USA dar, sondern trage auch zu höheren Energiepreisen, mehr Volatilität, höheren Emissionen und einer geringeren Energiesicherheit in der EU bei. „Alternativen wie Wärmepumpen, Isolierung, Modernisierung der Netzinfrastruktur und Energiespeicherung würden langfristig zu weiteren Einsparungen statt zu höheren Kosten führen“, erklärt der Forscher. Hat er recht?




