Wirtschaft

Abwanderung der deutschen Industrie: „Das ist ein neuer Schlag in die Magengrube“

Wegen Steueranreizen, günstigerer Energie und schneller Regulierung: Chemiekonzerne zieht es lieber in die USA und nach China. Der Verband der Chemischen Industrie und die IGBCE schlagen Alarm.

Wirtschaftsminister Robert Habeck hatte Anfang Mai sein Konzept für einen Industriestrompreis vorgestellt, doch die Maßnahme hat es noch nicht in den Haushalt geschafft.
Wirtschaftsminister Robert Habeck hatte Anfang Mai sein Konzept für einen Industriestrompreis vorgestellt, doch die Maßnahme hat es noch nicht in den Haushalt geschafft.dpa

Die fetten Jahre der blühenden deutschen Wirtschaft sind vorbei. Den Erfolg verdankte sie zum Großteil der leistungsstarken Industrie und nicht zuletzt den günstigen Gaspreisen. Mit dem Ukraine-Krieg erlebt die deutsche Wirtschaft jetzt eine eigene Zeitenwende. Aber liegen die Gründe nicht tiefer?

Ein gutes Beispiel liefert dafür die Chemieindustrie. Deutsche Chemiekonzerne schauen jetzt verstärkt ins Nicht-EU-Ausland, wenn es um Investitionen geht. „Investitionen in neue Anlagen und neue Technologien … strömen aus Deutschland“, bedauerte Michael Vassiliadis, Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie und Aufsichtsrat bei der BASF, neulich in der Financial Times. Dieser Trend habe sich „seit dem Energieproblem“ nur beschleunigt.

Grüne Energie und weniger Steuern: USA und China bieten Unternehmen Komplettpakete an

Die Hauptnutznießer sind laut Vassiliadis China und die USA, die deutschen Unternehmen Komplettpakete aus Steueranreizen, einem Zugang zu grüner Energie und einer beschleunigten Regulierung anbieten. Vor allem die USA werben die Unternehmen ab: Im vergangenen Jahr stellte Washington im Rahmen seines Inflation Reduction Act – eines Gesetzes zur Inflationsreduzierung – umfangreiche Subventionen bei Investitionen in verschiedene grüne Technologien vor, um ausländische Direktinvestitionen in Schlüsselsektoren anzuziehen.

China habe ebenfalls in der Staatskasse gestöbert, um bestimmte Branchen zu stärken, darunter die Chemiebranche, so Vassiliadis. Die BASF hat bereits im September 2022 eine Produktionsanlage im chinesischen Zhanjiang für rund zehn Milliarden Euro eröffnet. Auch Covestro aus Leverkusen will das größte Werk des Unternehmens für thermoplastische Polyurethane (TPU) in China bauen.

Es drängt sich allerdings eine berechtigte Frage auf: Wie unterscheidet man noch zwischen der logischen Erschließung der ausländischen Märkte und der eigentlichen Abwanderung der Industrie, vor der in Deutschland seit Monaten gewarnt wird? Wo enden die berechtigten Warnungen und wo beginnt die Panikmache? Selbst die BASF hatte zuletzt den Eindruck widerlegt, der Konzern würde vor hohen Energiepreisen ins Ausland fliehen. Man sei schon länger in China aktiv und habe das neue Werk bereits 2018 geplant, bevor die Energiepreise in Deutschland explodiert seien, hieß es im letzten Jahr auf Anfrage der Berliner Zeitung.

Deindustrialisierung? „Das kann nicht erklären, weshalb in Deutschland so wenig investiert wird“

„Selbstverständlich gehen die Unternehmen dahin, wo ihre Kundinnen und Kunden sind“, gibt die IGBCE auf Nachfrage zu. „Das war aber schon immer so und kann nicht erklären, weshalb aktuell in Deutschland so wenig investiert wird.“ In der Tat macht den Verbänden nicht die Tatsache Sorgen, dass deutsche Unternehmen zunehmend ins Ausland investieren. Es wird im Vergleich dazu immer weniger in Deutschland investiert, das ist das Problem. Zu strukturellen Problemen zählen laut der IGBCE die hohen Energiekosten, die langen Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie die Regulierung.

So seien im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr die Investitionen in der Chemieindustrie in Deutschland um 24 Prozent zurückgegangen, bemängelt die Gewerkschaft. Dies sei eine dramatische Entwicklung für die Chemieindustrie, weil sie am Beginn eines neuen Investitionszyklus stehe. Dieser sei für die deutsche Wirtschaft notwendig, um die Transformation zu bewältigen.

„Im vergangenen Jahr investierte unsere Branche 11,2 Milliarden Euro im Ausland“, teilt auch der Verband der Chemischen Industrie (VCI) auf Anfrage mit. Die Investitionen im Inland seien dagegen mit 9,4 Milliarden Euro deutlich niedriger ausgefallen. Das sei keine Ausnahmeentwicklung für ein Jahr, sondern ein langfristiger Trend. Er zeige, dass die Auslandsinvestitionen schneller wachsen würden als die Investitionen im Inland, kommentiert der VCI-Geschäftsführer Wolfgang Große Entrup.

Die wichtigsten Zielregionen für Auslandsinvestitionen der deutschen Chemiebranche sind mit 40 Prozent zuerst Nordamerika, mit 27 Prozent die gesamte EU und mit 20 Prozent allein China. „Die USA locken ausländische Investoren mit guten Standortbedingungen an, vor allem mit niedrigen Energie- und Rohstoffkosten“, erzählt Große Entrup. Und China sei mit einem Weltmarktanteil von mehr als 43 Prozent einfach der größte und schnellste Chemiemarkt der Welt. „Mittlerweile tritt das Motiv der Erschließung von lokalen Märkten bei den Auslandsinvestitionen also mehr und mehr in den Hintergrund“, heißt es vom VCI. Das Ausland, vor allem die USA, hätten jetzt einfach bessere Standortbedingungen, die im Zuge der jüngsten Krisen in Deutschland und Europa nicht mehr stimmen würden.

Was verliert Deutschland, wenn die Industrie ins Ausland abwandert?

Laut dem Deutschen Institut der Deutschen Wirtschaft (DIW) hängen an den fünf energieintensiven Branchen direkt und indirekt bis zu 2,4 Millionen Arbeitsplätze und gut 240 Milliarden Euro Wertschöpfung in Deutschland. Theoretisch gilt: Das starke Auslandsengagement sichert eine bessere Statistik für Nettoexporte und auch Arbeitsplätze in Deutschland. Trotzdem baut die BASF trotz ihrer Auslandsinvestitionen aktuell weltweit 2600 Stellen ab, zwei Drittel davon in Deutschland – um zu sparen. Ist der deutsche Produktionsstandort bald keine Priorität für den weltgrößten Chemiekonzern?

„Durch die Produktionsverlagerung ins Ausland würde Deutschland zuallererst gute, mitbestimmte und anständig entlohnte Arbeitsplätze, aber auch massiv Steuereinnahmen verlieren“, warnt die IGBCE. „Deutschland hat sehr viel zu verlieren, wenn sich die Industrie verabschiedet“, warnt auch der VCI-Geschäftsführer Große Entrup. „Wir sind zutiefst besorgt, denn die schleichende Deindustrialisierung findet bereits statt.“ Davon würden eben die zurückgehenden Investitionen zeugen. „Und das Schlimme ist: Bei unseren Unternehmerinnen und Unternehmern schwindet die Zuversicht und der Glaube an den Standort Deutschland.“

Dass die Bundesregierung jetzt auch noch plane, den Spitzenausgleich bei der Stromsteuer für die energieintensiven Unternehmen zu streichen, ist laut dem VCI-Geschäftsführer „ein weiterer Schlag in die Magengrube“. Den politisch Verantwortlichen müsse bewusst sein, dass viele Chemieunternehmen ihre Investitionsentscheidungen jetzt treffen würden und einige bereits angekündigt hätten, ihre Investitionen ins Ausland verlagern zu wollen, mahnt Große Entrup. Die große Gefahr sei dabei, dass die Auswirkungen einer schleichenden Deindustrialisierung erst zeitverzögert sichtbar werden, wenn die Wertschöpfung schon zurückgegangen sei. „Mit allen negativen Konsequenzen: Wir steigern dadurch unsere Abhängigkeit vom Ausland, erhöhen unsere Anfälligkeit für Krisen und gefährden den Wohlstand. Wir stehen jetzt an einem Wendepunkt. Wenn die Abwanderung der Industrie in größerem Stil begonnen hat, ist es zu spät.“

Damit das nicht passiere, müsse die Politik das regelrechte Klumpenrisiko aus hohen Energiepreisen, schlechter Infrastruktur, Fachkräftemangel und einem „Regulierungswahnsinn“, auch durch Initiativen aus Brüssel, minimieren. Ein erster wichtiger Schritt wäre die befristete Einführung eines Industriestrompreises, schlägt Große Entrup vor. Doch dieser habe es bisher nicht in den Haushaltsentwurf geschafft.

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