Deutsche Wirtschaft

Wird Deutschland ein Entwicklungsland? Ökonom wünscht uns eine „sanfte Deindustrialisierung“

Das Schwellenland China könnte bald zu einer Industrienation aufsteigen, und was passiert in Deutschland? Hohe Energiepreise und ein harter außenpolitischer Kurs bereiten Unternehmen große Sorgen.

Der Hamburger Hafen ist das Drehkreuz für die deutsche Exportwirtschaft.
Der Hamburger Hafen ist das Drehkreuz für die deutsche Exportwirtschaft.dpa-Bildfunk

Die deutsche Wirtschaft steht am Scheideweg. Die jüngsten ökonomischen Kennzahlen sind alarmierend: Jeder sechste Betrieb denke darüber nach, Deutschland zu verlassen, berichtet der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) über eine Umfrage, die er unter 400 mittelständischen Industriebetrieben gemacht hat.

Von diesen sind bereits 16 Prozent dabei, Teile der Produktion und Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern. Weitere 30 Prozent denken konkret darüber nach. Die Unternehmen klagen über zu hohe Arbeitskosten, nicht zuletzt aufgrund des gravierenden Fachkräftemangels, mangelhafter Infrastruktur und zu hoher Energiepreise. Deutschland werde zu einer Entwicklungsökonomie herabgestuft, warnte der Finanzanalyst Michael Every zuvor in einem Gespräch für die Berliner Zeitung. Hat er recht oder sind solche Sorgen übertrieben?

Unternehmen in Berlin sind in „großer Sorge“ um Deindustrialisierung

Auch in der Hauptstadt ist die schlechtere wirtschaftliche Lage spürbar. Das international tätige Pharmaunternehmen Berlin-Chemie blickt bereits auf eine über 130-jährige Firmengeschichte zurück. „Als Produktionsstandort ist Berlin für uns unverzichtbar – er ist Teil unseres Namens und unserer Identität“, sagt Vorstandsmitglied Christian Matschke im Gespräch mit der Berliner Zeitung. Von entscheidender Bedeutung sei jetzt jedoch, dass die Politik aktiv werde und die erforderlichen Rahmenbedingungen schaffe, um die wirtschaftliche Attraktivität auch in Zukunft aufrechterhalten zu können.

Standort von Berlin-Chemie. Die Pharmabranche ist in der Hauptstadt der größte Exportsektor.
Standort von Berlin-Chemie. Die Pharmabranche ist in der Hauptstadt der größte Exportsektor.Berlin-Chemie

Die Pharmaindustrie ist Berlins wichtigste Exportbranche, im vergangenen Jahr machte sie einen Anteil von 21 Prozent aller Ausfuhren Berlins aus. „Als bedeutender Exporteur in der deutschen Pharmaindustrie liefern wir unsere Produkte in über 90 Länder weltweit“, erläutert Matschke. Im vergangenen Jahr konnte Berlin-Chemie den Umsatz von 1,5 Milliarden Euro stabil halten. Die oberste Priorität des Unternehmens sei es, auch in Zukunft von Berlin aus Patienten weltweit mit lebenswichtigen Medikamenten zu versorgen. Doch die wirtschaftliche Lage stellt die Branche vor Herausforderungen: „Wir beobachten die aktuellen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen mit großer Sorge“, erklärt das Vorstandsmitglied von Berlin-Chemie.

Wirtschaftsverband: Export schafft Arbeitsplätze und hohe Löhne

Das Wachstum der deutschen Wirtschaft wurde über Jahrzehnte maßgeblich durch den Export erzielt. „Keine andere G7-Volkswirtschaft hat einen vergleichbar hohen wirtschaftlichen Offenheitsgrad“, erklärt die bundeseigene Marketingagentur Germany Trade and Invest. „Die Außenhandelsquote, also der Anteil der Im- und Exporte am Bruttoinlandsprodukt, betrug im Jahr 2020 fast 70 Prozent.“

Wenn sich der Wind auf den Weltmärkten dreht, ist Deutschland deshalb besonders verwundbar. Im März waren die Ausfuhren deutscher Unternehmen um mehr als fünf Prozent im Vergleich zum Vormonat eingebrochen, im April gab es einen geringen Zuwachs von 1,2 Prozent. „Der starke Verlust des Vormonats und die schon zuvor eher maue Entwicklung können nicht wettgemacht werden“, erklärte daraufhin der Außenwirtschaftschef des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Volker Treier. Insgesamt gehe wenig Dynamik von der Weltkonjunktur aus – hohe Inflationsraten, das in vielen Märkten stark gestiegene Zinsniveau und eine gedämpfte Nachfrage belasteten das Auslandsgeschäft.

Welche Folgen hätte ein weiterer Einbruch der deutschen Ausfuhren? „Unsere Gesellschaft lebt vom Handel“, sagt der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA), Antonin Finkelnburg, im Gespräch mit der Berliner Zeitung. „Die Exportwirtschaft Deutschlands schafft viele Arbeitsplätze und damit Einkommen.“ Ein weiterer Einbruch würde zu erheblichen Wohlstandsverlusten führen und die aktuelle Rezession verschärfen, ist der Chef des BGA überzeugt. „Die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sind derzeit aufgrund des Arbeitskräftemangels noch wenig sichtbar, würden dann aber auch zunehmen“, warnt Finkelnburg. Ein Einbruch der Exportwirtschaft wäre für Deutschland extrem negativ, sagt er, da Wirtschaft und Gesellschaft – also auch unser Sozialstaat – darauf aufbauen. „Wir wollen Industrie- und Handelsstandort bleiben und ohne Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum geht das nicht“, sagt der Hauptgeschäftsführer des BGA.

Exportbranche empört über Habecks „offenen Affront“

China gilt trotz seiner beeindruckenden Wirtschaftsleistung noch als „größtes Entwicklungsland der Welt“, Deutschland dagegen ist ein entwickeltes Industrieland. Oder? Die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft wird beim Handel mit China deutlich. Zwischen Januar und April 2023 lagen die Ausfuhren in die Volksrepublik zehn Prozent unter dem Vorjahreszeitraum. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte im Mai für großes Unverständnis bei Wirtschaftsverbänden gesorgt, als er eine härtere Gangart gegenüber Deutschlands wichtigstem Handelspartner ankündigte: Deutsche Unternehmen sollen sich nach dem Willen Habecks in Zukunft einer Überwachung des Wirtschaftsministeriums unterziehen, wenn sie in der Volksrepublik investieren wollen.

„Es gibt einen erheblichen Unterschied zwischen einem kritischen Dialog und einem offenen Affront“, sagt der BGA-Hauptgeschäftsführer Finkelnburg der Berliner Zeitung. „Der Ton macht die Musik.“ Das Ziel müsse sein, einen gemeinsamen Weg zu finden, der sowohl eine verantwortungsvolle Koexistenz konkurrierender, aber miteinander verbundener Systeme ermögliche, als auch eine verantwortungsvolle Weiterentwicklung der globalen, multilateralen Ordnung einschließe. „Deutschland und die EU sind wirtschaftlich eng mit China verbunden und daher auf eine langfristige Partnerschaft angewiesen“, stellt Finkelnburg klar. Der wirtschaftliche Austausch mit China sichere Arbeitsplätze in Deutschland und trage zum Wohlstand aller Beteiligten bei. 

Wissenschaftler warnt: Deutsche Exportüberschüsse schaden im In- und Ausland

Der Wissenschaftler Martin Höpner, Leiter der Forschungsgruppe Politische Ökonomie der europäischen Integration am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, warnt vor einem „Weiter so“. „Ich hoffe sehr, dass Deutschland auf die wirtschaftlichen Herausforderungen nun nicht reagiert, indem es – whatever it takes – den Exportsektor schützt. Das wäre meines Erachtens ein schwerwiegender Fehler.“ Denn die Instrumente zur Stärkung des Exports lägen auf der Hand: „Die Gewerkschaften müssten sich zu großer Lohnzurückhaltung gegenüber dem Staat verpflichten – und das vor allem in den niedrigen Einkommensklassen.“

Schließlich wurde das deutsche „Exportwunder“ teuer erkauft. Mitte der 2000er-Jahre galt Deutschland als „kranker Mann Europas“. Der hohen Arbeitslosenquote wurde mit Lohnzurückhaltung begegnet und der Staat zog sich stärker aus der öffentlichen Daseinsvorsorge zurück, politisch manifestiert in der Agenda 2010 und der Schuldenbremse. „Dieser wirtschaftliche Kurs bedeutet, dass man niedrige Inflationsraten hervorbringt“, erläutert Höpner. „Das verbessert den realen, effektiven Wechselkurs. Deutsche Exporte werden aus Sicht der Länder im Ausland günstiger.“ Für manchen mögen hohe Exporte ein Ausdruck von Stärke sein, sagt Höpner. Für andere Länder seien es „Import-Schwemme“, die gefährliche Auswirkungen für die eigene Wirtschaft hätten. „Genauso wie Deutschland seine eigene Deindustrialisierung durch Exportüberschüsse gestoppt hat, hat es spiegelbildlich die Deindustrialisierung anderer Länder beschleunigt.“

Lieber sanfte Deindustrialisierung statt eruptiver Crash der Exportwirtschaft?

Die Ungleichgewichte könne man sich plastisch vor Augen führen: „Wenn in Griechenland auf einmal holländische Tomaten verkauft werden, obwohl die Produktionsbedingungen für Tomaten in Griechenland die schönsten auf der Welt sind, dann stimmt irgendwas nicht“, sagt Höpner. „Oder wenn irische Butter in Deutschland günstiger ist als in Irland.“

Die Deindustrialisierung in Deutschland durch Exportsteigerungen zu verhindern, klinge erst mal nach einer guten Idee. Aber das ziehe erhebliche Folgekosten nach sich. Wenn der industrielle Exportsektor weiter so groß gehalten werde, sei die größte Gefahr ein plötzlicher Crash, die Industrie drohe wegen ihrer selbstverschuldeten Überdimensioniertheit eruptiv zusammenbrechen. „Ich glaube, wünschen sollten wir uns ein Einschwenken auf eine sanfte Deindustrialisierung“, sagt Höpner.

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