Die deutsche Wirtschaft steht am Scheidepunkt. Sinkende Exporte, hohe Energiepreise, drohende Deindustrialisierung sind die Schlagworte, die das Land in die Rezession begleiten. Doch ein Faktor, der in der öffentlichen Wahrnehmung zu kurz kommt, wiegt noch schwerer, schreiben Ökonomen des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) in einer neuen Studie: der Verschleiß der wirtschaftlichen Infrastruktur durch die Abnahme des Kapitalstocks.
„Deutschland lebt seit Jahren von der Substanz“
„Derzeit wird vor allem die Höhe der Energiepreise als Gefahr für die globale Konkurrenzfähigkeit des verarbeitenden Gewerbes diskutiert“, heißt es in der Studie. „Viel größere Sorge sollte allerdings die Tatsache bereiten, dass Deutschland bereits seit Jahren von seiner Substanz lebt.“
Es geht ans Eingemachte. Schließlich bestimmen die Maschinen und Anlagen, die Infrastruktur sowie das vorhandene Wissen maßgeblich die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft, erläutern die Autoren. „Veraltet all dies, drohen Nachteile im internationalen Konkurrenzkampf.“ Um den Verschleiß der Wirtschaft zu verhindern, muss kontinuierlich in die Erneuerung des Kapitalstocks investiert werden. Aber in Deutschland sei dies über Jahre vernachlässigt worden.
Die Entwicklung in Deutschland sollte „Sorge bereiten“, schreiben die Autoren. Vor allem sei der Verschleiß der Infrastruktur stark vorangeschritten. Der öffentliche Kapitalstock sei über Jahre vernachlässigt worden: „Offensichtlich wird dies im Zustand von Schulen, Brücken oder der Bahninfrastruktur. Hinzu kommt, dass auch die Maschinen und Anlagen zunehmend länger als kalkulatorisch erwartbar in der Nutzung sind.“
Auch die Industrie ist veraltet und verliert an Wettbewerbsfähigkeit
Auch in der Industrie waren nur wenige Unternehmen dazu in der Lage, den Grad der Modernisierung zu halten, geschweige denn zu heben. Der gesamtwirtschaftliche Verlust an Wettbewerbsfähigkeit sei demnach auch im industriellen Kern zu beobachten. Ausnahmen bildeten die Auto- und Pharmabranche.
Damit die deutsche Wirtschaft international nicht weiter ins Hintertreffen gerate, empfiehlt der vfa mehrere Schritte. So sollte auf die umfassenden Investitionsanreize im Rahmen des Inflation Reduction Act in den USA reagiert werden. Als eine Möglichkeit schlägt der Verband u.a. sogenannte Superabschreibungen für Investitionen in moderne und nachhaltige Produktionsanlagen vor.
Zudem bedürfe es öffentlicher Investitionen im großen Stil. „Diese steigern die Produktivität des privaten Kapitals und wurden zudem in den vergangenen Jahrzehnten in viel zu geringem Umfang durchgeführt.“ Angesichts der großen Herausforderungen müssten eigentlich Mehrausgaben über die Investitionslücke hinaus getätigt werden. Denn, so heißt es in der Studie: „Die Herausforderung der Energiewende und die Digitalisierung machen eine Veränderung des existierenden Kapitalstocks notwendig. Ohne diese öffentlichen Vorleistungen werden private Investitionen selten rentabel.“
Investitionen zur Sicherung von Wohlstand nötig
In einer aktuellen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) über den „Einfluss der Digitalisierung auf die Nutzungsdauer von Kapitalbeständen“ heißt es: Die Digitalisierung werde tendenziell den schon jetzt hohen volkswirtschaftlichen Investitionsbedarf in Deutschland weiter erhöhen. „Zur Sicherung von Wohlstand und Wachstum ist es erforderlich, die Investitionsneigung weiter zu steigern“, heißt es in der DIW-Studie. Für die Wirtschaftspolitik leite sich daraus ab, durch geeignete Maßnahmen die Bedingungen für Investitionen zu verbessern.
Doch der Staat zieht sich immer weiter zurück. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) beziffert den Investitionsstau der Kommunen auf mittlerweile 159 Milliarden Euro. Zuletzt wurden von verschiedener Seite Stimmen laut, die eine Abkehr von der regressiven Haushaltspolitik und der sogenannten Schuldenbremse forderten, darunter der Internationale Währungsfonds, die Deutsche Bank und der Deutsche Gewerkschaftsbund.
Zinswende macht Investitionen teurer
Der Ökonom Martin Gornig vom DIW nimmt bei der Bundesregierung mittlerweile eine Veränderung wahr: „Mein Eindruck ist, dass in der Politik in den letzten Jahren ein deutlicher Lernprozess eingesetzt hat“, sagt Gornig im Gespräch mit der Berliner Zeitung. „Eine Zeit lang hatte sich die Politik geweigert, zur Kenntnis zu nehmen, dass staatliche Investitionen private Investitionen anregen.“ Dabei habe der Staat eine wichtige Steuerungsfunktion. „Er beeinflusst maßgeblich, in welche Bereiche Unternehmen investieren. Und die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes wird daran gemessen, wie modern die Anlagen seiner Unternehmen sind.“
Doch Gornig hebt hervor, dass die Möglichkeiten des Staates, einen Wirtschaftsschub anzuregen, mittlerweile deutlich schlechter sind: „Jetzt sind die Zinsen gestiegen und die Investitionsbedingungen haben sich drastisch verschlechtert. Man hatte in Deutschland lange Zeit hervorragende Finanzierungskonditionen“, erinnert der DIW-Experte. „Es wurde aber sowohl privat als auch öffentlich viel zu wenig investiert. Jetzt wird es wirklich hart, denn durch die steigenden Zinsen kosten Investitionen plötzlich deutlich mehr.“ Auch die Verschuldung der Kommunen werde durch die steigenden Zinsen gravierender.




