G20

Lula rechnet mit dem Westen ab – Ukraine-Krieg kein Thema für G20-Treffen

Lula da Silva sieht im Kampf gegen den Hunger die Priorität der G20. Das Bündnis soll nicht für geopolitische Konflikte wie den Ukraine-Krieg missbraucht werden.

Brasiliens Staatschef Lula da Silva wirbt für eine Neuordnung der globalen Institutionen.
Brasiliens Staatschef Lula da Silva wirbt für eine Neuordnung der globalen Institutionen.Palacio Planalto/dpa

Kaum ist der G20-Gipfel in Indiens Hauptstadt Neu-Delhi vorbei, wirft der für das kommende Jahr geplante seine Schatten voraus. Der Streitpunkt: eine mögliche Teilnahme des russischen Präsidenten Wladimir Putin am Treffen der bedeutendsten Industrie- und Schwellenländer, das im November 2024 im brasilianischen Rio de Janeiro stattfinden soll. Beim Gipfel in Neu-Delhi, der am Sonntag zu Ende ging, waren weder Putin noch Chinas Präsident Xi Jinping anwesend.

Am Sonntag erklärte Brasiliens Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva, Putin müsse nicht mit einer Verhaftung rechnen, sollte er im kommenden Jahr ungeachtet eines internationalen Haftbefehls nach Rio de Janeiro reisen. Am Montag ruderte er allerdings wieder zurück und versicherte, es seien „nicht die Regierung oder das Parlament“, die über eine etwaige Verhaftung Putins entschieden, sondern „die Justiz“. Gleichzeitig hinterfragte er die Mitgliedschaft Brasiliens beim Internationalen Strafgerichtshof, bei dem der Haftbefehl gegen Putin wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in der Ukraine vorliegt. Während Mächte wie die USA, Russland und China dort nicht Mitglieder seien, unterzeichneten Schwellenländer oft Dinge, „die ihnen selbst schaden“.

Lula fordert: Putin und Selenskyj sollen im Rahmen der UN verhandeln

Auch wenn Lula zurückgerudert ist: Die Kontroverse zeigt, dass im globalen Süden oft anders auf den Krieg in der Ukraine geschaut wird als im Westen. Brasiliens Position steht beispielhaft für die Weigerung, an der internationalen Isolierung Russlands teilzuhaben. Am Montag bekräftigte Lula die Hoffnung, dass Putin und Xi zum für November 2024 geplanten G20-Gipfel in Rio de Janeiro reisen werden. Zudem äußerte er die Hoffnung, dass bis dahin „der Krieg beendet und wir wieder zur Normalität zurückgekehrt“ sein werden.

Angesichts des Streits über Formulierungen in der Abschlusserklärung von Neu-Delhi hatte Lula schon am Sonntag erklärt, die G20 seien „nicht der Ort, an dem über den Ukraine-Krieg gesprochen werden sollte“. Dafür eigne sich die UN-Generalversammlung besser, die in der kommenden Woche tagen wird. Dort müssten Putin und sein ukrainischen Amtskollege Wolodymyr Selenskyj dazu aufgefordert werden, sich an einen Verhandlungstisch zu setzen.

Bereits vor seinem Amtsantritt im Januar warb Lula auf internationaler Ebene um Friedensgespräche zwischen Moskau und Kiew. Waffenlieferungen an die Ukraine lehnt er ab. Im Hintergrund stehen auch wirtschaftliche Interessen: Brasilien ist insbesondere auf Düngemittel aus Russland angewiesen. Im vergangenen Jahr kaufte der südamerikanische Riese mehr als 8,8 Millionen Tonnen Düngemittel aus russischer Produktion, was das Land zu deren wichtigstem Abnehmer macht. Zahlen des ersten Semesters 2023 deuten darauf hin, dass die russischen Exporte nach Brasilien in diesem Jahr noch steigen werden – trotz der westlichen Wirtschaftssanktionen gegen Moskau.

Hinzu kommt: Brasilien ist gemeinsam mit Russland, Indien, China und Südafrika Teil der Brics. Der Staatenbund, zu dem ab Januar auch Ägypten, Argentinien, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate gehören werden, lehnt Sanktionen als Mittel der Politik ab. Auf ihrem Gipfel Ende August im südafrikanischen Johannesburg betonten die Mitgliedsstaaten die Notwendigkeit einer multipolaren Weltordnung statt westlicher Hegemonie. Der nächste Brics-Gipfel ist für Oktober 2024 in Russland geplant, also noch vor dem G20-Treffen in Rio de Janeiro.

Brasilien fordert Sitz im UN-Sicherheitsrat

Am 1. Dezember übernimmt Brasilien für ein Jahr den rotierenden G20-Vorsitz. Zum Abschluss des Gipfels in Neu-Delhi erklärte er: „Wir können nicht zulassen, dass geopolitische Fragen die Tagesordnung der G20-Diskussionen bestimmen.“ Statt Spaltung brauche es „Frieden und Zusammenarbeit“. Als Vorsitzender der G20 werde er sich auf soziale Inklusion und den Kampf gegen den Hunger, die Energiewende und nachhaltige Entwicklung sowie die Reform der internationalen Organisationen fokussieren. Die UN-Gremien sowie die Bretton-Woods-Institutionen Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) seien ein „Abbild der Realität der 1940er-Jahre“.

Unter anderem möchte Brasilien 2024 eine Erweiterung des UN-Sicherheitsrats angehen. Zudem dürfte Lula als Vorsitzender der G20 den Kurs Indiens fortführen und das Gewicht der Länder des globalen Südens vergrößern. In Neu-Delhi wurde die Aufnahme der Afrikanischen Union in die G20 beschlossen. Auch in Lateinamerika mehren sich die Forderungen, als Region im Klub der G20 vertreten zu sein, beispielsweise durch die Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (Celac).

In Brasilien stößt der Kurs Lulas auch auf Kritik. Der Kongressabgeordnete Kim Kataguiri von der liberal-konservativen Partei União bewertete den Auftritt des Präsidenten als „Zeichen an die demokratische Welt: Brasilien steht an der Seite der Autoritären, die die freie Welt bekämpfen“. Der frühere Richter, Justizminister und heutige Senator Sergio Moro schrieb auf X, vormals Twitter: „Lulas Brasilien ist mit den Autokratien verbündet und nicht mit den westlichen Demokratien.“