Wenn die Staats- und Regierungschefs der 20 größten Volkswirtschaften der Welt an diesem Wochenende zum G20-Gipfel zusammenkommen, ist an Ergebnissen nicht viel zu erwarten. Dafür lohnt ein Blick auf den Gastgeber: Indien. Schon heute ist Indien das einwohnerstärkste Land der Welt und die fünftgrößte Volkswirtschaft, knapp hinter Deutschland und Japan. Wie lange noch, ist die Frage.
Indiens Premierminister Narendra Modi hat Großes vor. Er empfängt die Gäste im pompösen Messezentrum Pragati Maidan, die Infrastruktur rundherum ist eine einzige Hochglanz-Sicherheitszone. Indien demonstriert seine Stärke. Die Botschaft: Mit Indien ist zu rechnen.
G20-Gipfel in der Sinnkrise: Der letzte runde Tisch, an dem Deutschland mit Russland und China gesessen hat
Derweil ist die G20 in der Sinnkrise. Die Mitgliedsländer stellen zwar zwei Drittel der Weltbevölkerung und drei Viertel des Welthandels, kommen aber seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine kaum mehr zu Ergebnissen. Auch im Vorfeld dieses Gipfels geht es um Wortklauberei in der Abschlusserklärung.
Die EU will zwar auch über Klimafinanzierung und globale Ernährungssicherheit sprechen, das alles steht aber im Schatten des Krieges. Bitter: Seit dem Krieg war G20 der letzte runde Tisch, an dem Deutschland und die EU noch mit China und Russland gesessen haben. Ausgerechnet deren Präsidenten, Xi Jinping und Wladimir Putin, haben ihre Teilnahme aber abgesagt.
Deutschlands Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung immer geringer
Das alles zeigt auch: Die EU und Deutschland verlieren an Einfluss, wie Zahlen der Weltbank belegen. 1980 machte Deutschland immerhin noch fast neun Prozent der globalen Wirtschaftsleistung aus, mittlerweile sind es weniger als fünf, bei sinkender Tendenz. Andere Regionen wachsen viel schneller, etwa China, dessen Anteil in der gleichen Zeit von zwei auf 18 Prozent gewachsen ist. Ein Weg, der auch Indien bevorstehen könnte.
Außerdem wollen G20-Länder wie Indien, China und Saudi-Arabien sich aus dem Ukraine-Krieg und dem westlichen Sanktionsregime heraushalten, nutzen aber die Gunst der Stunde, um mit Russland neue Geschäfte einzufädeln. Indien kaufte noch vor kurzem Rekordmengen von russischem Rohöl und durfte es sogar mit selbstgedruckten Rupien bezahlen. Zuletzt liefen sogar Gespräche über ein Handelsabkommen mit Russland, um die Russen die Rupien wieder in Indien investieren zu lassen.
Indien: 2075 die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt?
Es lohnt sich ein Blick auf die indische Wirtschaft. Das Bruttoinlandsprodukt betrug letztes Jahr 3,4 Billionen US-Dollar, etwa 0,7 Billionen weniger als das deutsche. Nach einem coronabedingten Einbruch 2020 wächst die Wirtschaft stetig und schnell. 2022 waren es sieben Prozent, dieses Jahr sollen es laut Prognose des Internationalen Währungsfonds (IWF) knapp sechs und 2024 wieder fast sieben Prozent sein. Zum Vergleich: Deutschland soll dieses Jahr um 0,3 Prozent schrumpfen, danach nur langsam wachsen. Bei dem Tempo könnte Indien spätestens 2026 Deutschland als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt ablösen.
Die Investmentbank Goldman Sachs erwartet sogar, dass Indien bis 2075 die USA überholt und zur zweitstärksten Volkswirtschaft der Welt aufsteigt – hinter China und vor den USA. Der Grund: Die Bevölkerung ist jung, sie wird weiterwachsen, immer besser ausgebildet und immer produktiver. Das Durchschnittsalter in Indien liegt bei 28 Jahren, in den USA und China sind es 38 Jahre, in Deutschland 48 und in Japan 49 Jahre. Premierminister Narendra Modi hat zudem die Zeichen der Zeit erkannt und investiert massiv in Infrastruktur wie Stromnetze, Schienen und Straßen.

Einschränkend sei angemerkt: Nur weil Indiens Wirtschaft größer wird als die deutsche, heißt das nicht, dass es den Menschen besser geht. Pro Kopf gerechnet liegt Indiens Wirtschaftsleistung nur auf Platz 139, spielt also Kreisklasse statt Champions League. Die deutsche Wirtschaftsleistung pro Kopf ist rund zwanzigmal größer. Bis dahin ist es noch ein langer Weg. Trotzdem ist mit Indien als neuem Schwergewicht zu rechnen – erst wirtschaftlich und dann auch politisch.
G20-Gipfel: Muss Deutschland die Inder umwerben?
Der Ampel-Regierung scheint das bewusst zu sein. Obwohl Indien sich nicht an Sanktionen beteiligt, sind Bundeskanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck dieses Jahr nach Indien gereist – und haben auffällig wenig über Russland und viel über den gemeinsamen Handel gesprochen. Wohlgemerkt: Vor Habeck war zehn Jahre lang kein deutscher Wirtschaftsminister mehr nach Indien gereist.
Deutsche Firmen lauern auf den großen indischen Markt, auch als Alternative zu China. Der Handel zwischen Deutschland und Indien belief sich letztes Jahr auf 31,4 Milliarden US-Dollar – Rekordniveau. Auch profitiert die deutsche Industrie von Indiens Investitionen in die Infrastruktur. Ein prominentes Beispiel: Siemens ergatterte von der indischen Bahngesellschaft India Railways einen Auftrag über 1200 Elektro-Lokomotiven. Mehr davon, sollte die Devise sein.
Man kann Olaf Scholz für den G20-Gipfel nur raten: Indien ernst nehmen und ein Handelsabkommen forcieren!


