Analyse

G20-Gipfel: Der Westen gehört langsam zu den Abgehängten

Noch nie konnten sich die Entwicklungsländer unter der Führung Chinas bei einem G20-Gipfel so sehr gegen den Westen durchsetzen wie in Neu-Delhi. Ein Gastbeitrag.

Neu-Delhi, Indien, 09.09.2023: Bundesfinanzminister Christian Lindner (v.l.n.r.), Bundeskanzler Olaf Scholz und Regierungssprecher Steffen Hebestreit auf einer Pressekonferenz zum ersten Tag des G20-Gipfels
Neu-Delhi, Indien, 09.09.2023: Bundesfinanzminister Christian Lindner (v.l.n.r.), Bundeskanzler Olaf Scholz und Regierungssprecher Steffen Hebestreit auf einer Pressekonferenz zum ersten Tag des G20-Gipfelsimago

Man kann das Ergebnis des G20-Gipfels in Neu-Delhi aus der Sicht des Westens wegen der Haltung der G20-Staaten zum Ukraine-Krieg kritisieren. Man kann die gemeinsame Erklärung als unzureichend und wachsweich bezeichnen, bedauern, dass Russland als Verursacher des Angriffskriegs nicht erwähnt wird.

Doch zunächst ist es wichtig festzustellen: Der Machtkampf um die gemeinsame Erklärung ist klar zugunsten der aufsteigenden Länder, also der Mehrheit der Welt, ausgegangen. Noch nie in der knapp 20-jährigen Geschichte der großen G20-Gipfel hat eine gemeinsame Erklärung so deutlich die Weltsicht des globalen Südens widergespiegelt.

Bitter für den Westen

Der Westen ist konsterniert: Einerseits bedeutet das einen Machtverlust für die Minderheit des Westens, der lange die Spielregeln der Mehrheit bestimmen konnte und davon nicht ablassen mag. Anderseits sind Mehrheitsentscheidungen ein Kernpunkt des westlichen Wertekanons. Und spätestens seit die Brics-Länder wirtschaftlich stärker sind als die Industrienationen, kann man sie nicht mehr einfach ignorieren. Mehr als viermal so viele Menschen vertreten sie ohnehin schon.

Bitter für den Westen: Die USA und Europa werden nunmehr in der gemeinsamen Erklärung der G20 nicht ein einziges Mal erwähnt. Die UN rückt auch mit ihren Sustainable Development Goals (SDGs) stark in den Mittelpunkt. Es geht um mehr Mitbestimmung und die Reformen der globalen Institutionen. Am sichtbarsten ist dieser Wandel durch die 55 Länder der Afrikanischen Union (AU), die auf Augenhöhe mit der EU in die G20 aufgenommen werden.

Kein gemeinsames Bilddokument

Das ist ein diplomatisches Meisterstück von Gastgeber Narendra Modi, zumal die Unkenrufe lange laut waren, er würde keine Einigung hinbekommen und der Graben zwischen China und Indien sei so tief, dass Präsident Xi Jinping nicht angereist sei, sondern nur seinen Premier geschickt hat. Dafür liefert die gemeinsame Erklärung keinen Beleg. Im Gegenteil: Modi hat die Interessen Chinas bestens vertreten.

„Wir sind eine Erde, eine Familie und wir teilen uns eine Zukunft“, lautet stolz und selbstbewusst der erste Satz der Erklärung. Dass es so einfach nicht war, zeigt das fehlende Gruppenfoto, wie schon im vergangenen Jahr. Die Aufsteigerländer wollen nicht ohne den russischen Außenminister Sergej Lawrow posieren. Die westlichen Länder nicht mit ihm. Nun gibt es kein gemeinsames Bilddokument dieses historischen Gipfels.

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Zum Autor
Frank Sieren ist Journalist, Korrespondent, Dokumentarfilmer und Autor. Er berichtet seit 1994 aus Peking über die wirtschaftliche und politische Entwicklung Chinas. Zuletzt ist von Frank Sieren das Buch „Shenzhen – Zukunft made in China“ erschienen. Sie erreichen ihn über LinkedIn.

Ukraine-Krieg: „Unterschiedliche Sichtweisen“

Der größte Streit zwischen dem Westen und den Aufsteigern dreht sich schon länger um die Bewertung des Ukraine-Kriegs. Keines der Aufsteigerländer in den G20 beteiligt sich an den Sanktionen des Westens. Zu den Aufsteigern zählen China, Indien, Brasilien und Südafrika, die mit Russland den Kern der Brics bilden. Aber auch Argentinien, die Türkei, Indonesien, Mexiko und Saudi-Arabien. Südkorea ist hin- und hergerissen. Es gibt also eine knappe Mehrheit von 11 zu 9 in der G20 und nun noch die Afrikanische Union.

An der Wirtschaftskraft und Bevölkerungszahl gemessen eine klare Mehrheit. An der Spitze auf der einen Seite die USA, auf der anderen Seite China. Modi und die Aufsteiger wollten den Ukraine-Krieg nicht zum Topthema machen. Modi schaltet – anders als beim G20-Gipfel auf Bali vor einem Jahr – denn auch nicht den ukrainischen Präsidenten Wolodomyr Selenskyj per Video dazu.

Der Ukraine-Krieg wird denn auch erst unter Punkt 8 erwähnt: Immerhin ist auch von „Krieg“ die Rede und nicht von „Konflikt“ – ein Begriff, den Peking bevorzugt. Russland wird allerdings nicht erwähnt. Vielmehr sollen auf Basis der UN-Resolution „alle Staaten“ im „Einklang mit der UN-Charta“ damit „aufhören, Gewalt anzuwenden, auf Kosten der territorialen Integrität und der politischen Unabhängigkeit eines anderen Landes“.

Der Westen will militärischen Druck

Auch auf die russischen Forderungen nach einer Lockerung der westlichen Sanktionen wurde eingegangen. Die Erklärung fordert die „unverzügliche und ungehinderte Lieferung von Getreide, Lebensmitteln und Düngemitteln/Zusätzen von der Russischen Föderation und der Ukraine“. Die Versorgung der armen Länder der Welt ist den Aufsteigern wichtiger, als Putin zu isolieren.

Die gemeinsame Erklärung aller G20-Mitglieder betont denn auch, dass der Ukraine-Krieg, bezüglich der „globalen Nahrungsmittel und Energiesicherheit, den Lieferketten, der makroökonomischen Finanzstabilität, der Inflation und dem Wachstum,“ die Lage für „die Entwicklungsländer und die am schlechtesten entwickelten Länder verkompliziert hat“. Die Botschaft des Südens ist klar: Euer Krieg im Westen wird auf unserem Rücken ausgetragen.

Die Entwicklungsländer mit China an der Spitze drängen auf schnelle Verhandlungen, auch wenn die Ukraine dafür auf Teile ihres Landes verzichten müsste. „Die gegenwärtige Epoche sollte nicht von Krieg geprägt sein.“ Der Westen hingegen mit Japan und teilweise Südkorea will mehr militärischen Druck, eine möglichst harte Verurteilung Putins und ihn durch Sanktionen isolieren.

Diese unauflösbaren Differenzen fasst die G20 mit einem allgemeinen Satz zusammen: „Es gibt unterschiedliche Sichtweisen und Einschätzungen der Lage.“ Vor einem Jahr hieß es auf Bali noch: „Die meisten Mitglieder verurteilten den Krieg in der Ukraine aufs Schärfste.“

Die Ukraine kritisierte denn auch die Abschlusserklärung scharf: „Es gibt nichts, worauf die G20 stolz sein kann.“ Das sehen die Aufsteigerländer anders.

„Legitimere und verlässlichere Institutionen“

Aber auch andere zentrale Themen tragen die klare Handschrift der Aufsteiger: Obwohl der Kampf gegen den Klimawandel eine wichtige Rolle spielt, wird gleichermaßen wirtschaftliche Prosperität betont: „Kein Land sollte gezwungen werden, sich zwischen dem Kampf gegen Armut und dem Kampf für unseren Planeten entscheiden zu müssen.“

Die Liste der großen globalen Herausforderungen der G20 führt denn auch „Armut“ an, gefolgt von „Ungleichheit“, dann erst folgt der „Klimawandel“ vor „Pandemien“ und „Konflikten“. Ein klares Bekenntnis zu einem zügigen Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas, wie es der Westen, vor allem auch die Bundesregierung, fordert, fehlt in der Erklärung. Dafür gibt es derzeit global keine Mehrheit.

Eine zentrale Bedeutung sollen globale Institutionen bekommen, die „reformiert“ werden müssen, in einem „inklusiven mitgliedergetriebenen Prozess“. Der Multilateralismus soll „wiederbelebt“ werden. Damit soll die „Global Governance“ die gegenwärtigen Machtverhältnisse besser repräsentieren und „effizienter und transparenter und verantwortlicher“ werden. Kurz: Die gegenwärtigen westlich dominierten Institutionen sind unzureichend.

Die Gipfelteilnehmer, also auch die USA und die EU, haben sich darauf geeinigt, die „Vertretung und die Stimme der Entwicklungsländer bei Entscheidungen in den globalen internationalen Wirtschafts- und Finanzinstitutionen zu steigern“ und so „legitimere und verlässlichere Institutionen“ zu schaffen.

Immerhin hat es die Relativierung des US-Dollars als Weltwährung, ein anderes zentrales Thema beim Brics-Treffen, nicht in die Erklärung geschafft. Das konnten vor allem die Amerikaner verhindern.

Wird sich der Westen durchsetzen?

Die Absichtserklärung von den USA und Europa, die gemeinsam mit Indien und Saudi-Arabien plant, einen Transportkorridor zwischen Europa und Indien zu bauen, hat es nicht in das G20-Abschlussdokument geschafft. Der „India-Middle-East-Europe-Korridor soll den Warentransport erleichtern“. Offensichtlich war das Projekt der Mehrheit der G20 nicht konkret genug.

Dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) den Gipfel als „sehr erfolgreich“ bewertete, klang dabei eher wie das Pfeifen im Walde. Die Aussagen unter anderem zu den globalen Klimazielen und zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gingen weiter, als viele im Vorfeld befürchtet hätten, sagte Scholz.

Dennoch ist der Gipfel von einer Machtverschiebung geprägt, die wahrscheinlich dauerhaft sein wird und das Ende der westlichen Vorherrschaft einläutet. Die Gipfel in den beiden kommenden Jahren werden von Brasilien und Südafrika ausgetragen. Spannend wird 2026, wenn der G20-Gipfel in den USA stattfindet, unter welchem Präsidenten auch immer. Doch schon in Neu-Delhi haben sich alle Gipfelteilnehmer – also auch die USA und die EU – darauf geeinigt, „weiterhin die Blickwinkel der Entwicklungsländer in die Agenda der G20 zu integrieren“. Und der Blickwinkel der Aufsteiger ist ein anderer: Während man im Westen nun von einem tieferen Graben zwischen den Industrienationen und dem globalen Süden spricht, sprechen die Aufsteiger davon, dass sich nun endlich die Mehrheit global durchsetzt. Beides stimmt.

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