Indiens Premierminister Narendra Modi hat den G20-Gipfel genutzt, um seinen strategischen Rivalen China dort herauszufordern, wo es Peking vermutlich am meisten schmerzt: im Welthandel.
Ein neuer Infrastrukturkorridor soll Indien mit Staaten des Nahen Ostens und Europa verbinden. Dafür sollen neue Schienenwege und Seeverbindungen im großen Umfang entstehen, um die bisher direkteste Verbindung zwischen Europa und Indien zu schaffen. „Das ist nichts anderes als historisch“, kommentierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Ankündigung. US-Präsident Joe Biden sprach von einem „großen Deal“. Als bemerkenswert gilt auch die Einbindung Israels in das neue Projekt.
Laut Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu handelt es sich um das „größte Gemeinschaftsvorhaben in Israels Geschichte“. Bidens nationalem Sicherheitsberater Jake Sullivan zufolge sind Indien, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Jordanien, Israel und die Europäische Union direkt daran beteiligt. Die USA nahmen demnach eine Vermittlerrolle ein.
Eine Alternative zur Neuen Seidenstraße
Tatsächlich könnte der neue Korridor dazu beitragen, eine Alternative zu Chinas Neuer Seidenstraße zu etablieren, die China mit zahlreichen Handelspartnern in Europa, Asien und Afrika verbinden soll.
Seit 2013 baut China die Neue Seidenstraße, als Vorbild dient die historische Seidenstraße, die einst China mit den Ländern des Orients und Europa verband. Das lässt sich Peking einiges kosten: Seit 2013 hat China entlang der Neuen Seidenstraße etwa 962 Milliarden US-Dollar in Häfen, Schienen und andere Infrastrukturprojekte investiert, davon rund 573 Milliarden Dollar in Form von Bauaufträgen und weitere 389 Milliarden Dollar in Form von Sachinvestitionen.
Flankiert wird die Neue Seidenstraße durch zahlreiche Investitionen chinesischer Firmen in Häfen weltweit. Als eines der prominentesten Beispiele in Europa gilt der Hafen von Piräus. Seitdem die chinesische Reederei Cosco die Mehrheit am Hafen übernommen hat, ist aus dem einst verschlafenen griechischen Fischerdorf eine Drehscheibe für Chinas Seehandel geworden. Auch im Hamburger Hafen ist Cosco seit Sommer diesen Jahres Minderheitseigner an einem Containerterminal.
Das indisch-chinesische Verhältnis ist seit Jahren angespannt
Deshalb dürfte die Ankündigung zum neuen Infrastrukturprojekt in Peking mit Argwohn aufgenommen worden sein. Das indisch-chinesische Verhältnis gilt nicht erst seit der Ankündigung von Xi Jinping, dem G20-Gipfel in Indien fernzubleiben, als angespannt. Der bereits seit den 60er-Jahren schwelende Grenzkonflikt beider Länder flammte 2020 wieder auf. Seitdem gibt es immer wieder Zusammenstöße zwischen chinesischen und indischen Truppen in den unwirklichen Höhen im indisch-chinesischen Grenzgebiet.

Tatsächlich hatte Peking unlängst eine Karte veröffentlicht, auf der die nordindische Provinz Arunachal Pradesh und das umstrittene Aksai-Chin-Plateau plötzlich China zugerechnet wurden: „Das ist so, als würde Frankreich eine offizielle Karte veröffentlichen, in der das Saarland zu Frankreich gehört“, sagt der Leiter des Indienbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung, Adrian Haack, der Berliner Zeitung.
Und weiter: „Durch die Neue Seidenstraße wird Indien nicht nur an seiner langen Nordgrenze, sondern auch durch zahlreiche Häfen eingekreist. Die Sicherheitslage könnte ungünstiger nicht sein“. Der Handelskorridor zu Europa könnte Indien dabei helfen, dieser Einkreisung etwas entgegenzusetzen und im Konfliktfall mit China eigene Handelswege nutzen zu können.
Dazu kommt: Indien wird für Europa als Wirtschaftsraum immer wichtiger. Mit einem Wirtschaftswachstum von 7 Prozent im Jahr 2022 lässt Indien im zweiten Jahr in Folge China hinter sich. „Ein Teil des Wirtschaftssektors Indiens läuft unter dem Radar. Wenn man alles erfassen könnte, wäre Indien womöglich schon die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt“, sagt Haack.
Es gibt allerdings auch einen Wehrmutstropfen: „In Indien fehlt eine breite Mittelschicht, etwa die Hälfte der Bevölkerung nimmt kaum Anteil an Indiens Aufschwung. Aus Sicht eines deutschen Unternehmers gibt es lediglich um die 700 Millionen Inder, die als Konsumenten in Frage kommen.“
Manish Tewari fordert mehr Solidarität mit Indien
In Indien wächst die Sorge vor einer dauerhaften Auseinandersetzung mit China. „Die Beziehungen sind offensichtlich nicht normal. Seit 2020 überschreitet China regelmäßig die Grenzline zu Indien. Trotzdem hätten wir erwartet, dass sowohl China als auch Russland am multilateralen Forum teilnehmen, letztlich haben alle ein Interesse daran, die globale Friedensordnung wiederherzustellen“, sagt der indische Parlamentsabgeordnete Manish Tewari unmittelbar vor dem G20-Gipfel der Berliner Zeitung.



