Wie geht es weiter mit dem Ukraine-Krieg? Wird die Ukraine mit westlicher Hilfe die russische Armee besiegen können? Und wann wäre es Zeit für Verhandlungen?
Das US-amerikanische Nachrichtenportal Bloomberg hat eine beachtenswerte Kolumne des deutschen Sicherheitsexperten und ehemaligen Chefredakteurs des Handelsblatt Global, Andreas Kluth, veröffentlicht. „Es scheint immer wahrscheinlicher, dass es den Ukrainern nicht gelingen wird, die russischen Invasoren zu vertreiben, und dass es den Russen auch nicht gelingen wird, noch mehr von der Ukraine zu schlucken“, beginnt Kluth seinen Artikel. „Was kommt als Nächstes, abgesehen von unvorstellbarem menschlichen Elend?“
Ukraine-Krieg: Deutsche, israelische und koreanische Szenarien
Markiert die Kolumne des Deutschen, der sonst über die US-amerikanische Diplomatie sowie die Sicherheits- und Geopolitik schreibt, einen bevorstehenden möglichen Strategiewechsel in der westlichen Ukraine-Politik? Kluth verweist auf drei führende historische Analogien, die gerade diskutiert werden. Ein „Modell“ für die Ukraine ist Westdeutschland in den 1950er-Jahren, ein anderes ist Israel seit den 1970er-Jahren und ein drittes ist die Koreanische Halbinsel, ebenfalls seit den 1950er-Jahren. Der Deutsche schreibt: Menschen, die sich auf den Fall Westdeutschland berufen, argumentieren, dass die Nato den unbesetzten Teil der Ukraine so schnell wie möglich in das westliche Bündnis aufnehmen sollte. Das würde Russland von weiteren Landnahmen abhalten und es der freien Ukraine ermöglichen, sich wieder zu einer wohlhabenden Demokratie aufzubauen, wie es Westdeutschland während des Kalten Krieges tat.
„Diese Argumentation besagt, dass es rechtlich, politisch und strategisch machbar sein sollte, nur den freien Teil der Ukraine in die Nato einzubeziehen, da dies in etwa das ist, was die Nato 1955 mit Westdeutschland gemacht hat“, kommentiert Kluth. Deutschland sei damals geteilt und von den alliierten Siegern des Zweiten Weltkrieges besetzt gewesen. Nichtsdestotrotz habe die Nato Artikel 5 – der besagt, dass ein Angriff gegen einen ein Angriff gegen alle ist – nur auf Westdeutschland ausgeweitet, das Gebiet, das die Zonen der drei westlichen Alliierten – USA, Großbritannien und Frankreich – repräsentierte, aber nicht auf Ostdeutschland, das im sowjetischen Sektor lag. Diese kollektive Garantie habe die Sowjetunion für den Rest des Kalten Krieges von Angriffen abgehalten, fasst Kluth die Argumente der Verfechter des ersten Szenarios zusammen.
Andere würden auf Israel als ein besseres Modell verweisen, schreibt Kluth. Dieses Land sei nie einer kollektiven Allianz beigetreten. Ab den 1970er-Jahren hätten die USA jedoch ihre Sicherheitsgarantien formalisiert und die Israelis bis an die Zähne bewaffnet. Als unbesiegbare Kriegernation und amerikanischer Verbündeter habe auch Israel gedeihen können, bis es schließlich aus einer Position der Stärke heraus Frieden mit seinen arabischen Feinden geschlossen habe. „Geben Sie den Ukrainern die gleichen bilateralen Zusicherungen, Geld und Waffen, heißt es, und Russland wird verstehen, dass es niemals gewinnen wird“, fasst Kluth seinerseits die Vorschläge der Verfechter des israelischen Modells zusammen.
Ukraine-Krieg: Kämpfen und verhandeln – wie in Korea 1953?
Eine dritte Gruppe kontere jedoch, verweist Kluth – und schließt sich dieser offensichtlich an, dass die Frontlinie in der Ukraine am ehesten der auf der Koreanischen Halbinsel von etwa 1952 ähnele. „Keine Seite scheint mehr in der Lage zu sein, große Gewinne zu erzielen, auch wenn beide unhaltbare oder unzumutbare Verluste und Kosten erleiden“, erklärt Kluth. Je länger alle Seiten – die Kriegführenden und ihre Unterstützer – sich dem Gespräch verweigern würden, desto länger dauere dieses Sterben und Leiden an, ohne dass sich die Gesamtsituation ändere. Kluth schlägt deswegen vor: „Der einzige Ausweg besteht daher, wie in Korea 1953, darin, gleichzeitig zu kämpfen und zu verhandeln, mit dem Ziel, nicht einen Friedensvertrag, sondern einen Waffenstillstand zu unterzeichnen, der unlösbare Fragen offen lässt, aber die Waffen schweigen lässt“.

Denn Kiew sei nicht Bonn. Die westdeutsche Analogie scheine verlockend, sei aber falsch, betont der Autor. „Zwar regierte Bonn nur einen Teil einer Nation, den es theoretisch noch immer als Ganzes zu repräsentieren beanspruchte. Aber unter amerikanischer, britischer und französischer Schirmherrschaft hatten die Westdeutschen ein neues Land, die Bundesrepublik, mit festen Grenzen gegründet, die alle vier Alliierten, einschließlich der Sowjets, akzeptierten.“ Zum Zeitpunkt des Nato-Beitritts habe es zudem keine Kämpfe gegeben.
Darüber hinaus habe der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, im Gegenzug für die Integration seines Landes in den Westen offiziell die Teilung seines Landes als unbefristet akzeptiert, erinnert Kluth. Dies habe ihm heftigen Zorn der Opposition eingebracht, die im Gegenzug für Neutralität auf der Wiedervereinigung bestehen wollte – den Weg, den Österreich eingeschlagen habe.
Kiew ist nicht Bonn: Selenskyj will Regionen in der Ostukraine nicht aufgeben
„In all diesen Punkten unterscheidet sich die Ukraine von Westdeutschland im Jahr 1955. Ihre Binnengrenzen, die die russische Kontrolle abgrenzen, werden weder anerkannt noch festgelegt“, so Kluth. Die Nato müsste ständig entscheiden, ob sich Artikel 5 auf dieselbe Stadt erstreckt, wenn sie die Kontrolle wechselt, wie es bei Bachmut war. Letztendlich müssten die Alliierten entweder in den Krieg eingreifen und auf die Russen schießen (womit sie den Dritten Weltkrieg riskieren würde) oder ihre gepriesene gegenseitige Verteidigungsklausel aufweichen. „Aber dann würde Artikel 5 seine abschreckende Wirkung verlieren und das gesamte Bündnis gefährden“.
Alternativ könnte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Adenauer-Stil sich offiziell von den ukrainischen Regionen verabschieden, die Wladimir Putin annektiert habe – in dieser Analogie wäre es ein Äquivalent zu Ostdeutschland. Aber Kiew will sein gesamtes Territorium zurück, erinnert Kluth. Weder Selenskyj noch irgendein anderer ukrainischer Anführer habe dieses Kriegsziel bis heute aufgegeben. Selbst die Hoffnung auf eine eventuelle und friedliche Wiedervereinigung à la 1990 gehe nicht auf. „Die Sowjets haben in den 45 Jahren, in denen sie Ostdeutschland regierten, nie versucht, die örtliche Bevölkerung ethnisch zu säubern oder zu russifizieren“, so Kluth – anders, als in den Regionen Donezk, Luhansk, Cherson, Saporischschja und auf der Krim.
Die Analogie zu Israel möge treffender erscheinen, schreibt Kluth weiter, doch ein genauerer Blick offenbare ebenso klaffende Lücken. Die amerikanische Sicherheitsgarantie sei erst formell geworden, nachdem Israel bereits vier Kriege gegen seine arabischen Feinde gewonnen hätte. Anstatt die Feinde auf eigenem Boden zu bekämpfen, wie es die Ukraine tue, habe Israel in den 1970er-Jahren Krieg auf dem Boden der Feinde geführt. Etwa zur gleichen Zeit habe es auch eigene Atomwaffen gebaut – obwohl es dieses Arsenal nie bestätigt habe. Bis heute verfüge keiner seiner arabischen Feinde über Atomwaffen. Der Iran, der nicht arabisch ist, aber kurz davor steht, nuklear zu werden, ist für Kluth eine andere Sache.
Fazit: Damit befinden sich die Ukrainer in der entgegengesetzten Situation wie Israel in den 1970er-Jahren. „Sie haben die Russen nie niedergeschlagen, auch wenn sie sie zwischen 2014 und 2022 in der Donbass-Region in Schach gehalten haben. Sie haben auch keine Atomwaffen – sie haben ihre eigenen Bestände aus der Sowjetzeit in den 1990er-Jahren gegen Sicherheitsgarantien aus Moskau abgegeben.“
Als die Israelis Verbündete der USA wurden, waren sie bereits Sieger und verfügten über eine nukleare Abschreckung, während ihre Feinde besiegt waren und keine Atombomben hatten. Aus dieser Situation heraus wurde Israel zu einer florierenden Wirtschaft und Gesellschaft. „Doch die Ukrainer kämpfen ohne Atomwaffen um ihre Existenz gegen einen Feind, Putin, der ständig mit seinem Atomsäbel rasselt“, argumentiert Kluth.
Mögliches Szenario für den Ukraine-Krieg: Ein Waffenstillstand ohne Frieden?
Wie wäre es also mit der koreanischen Analogie? Obwohl es auch unvollkommen sei, ist das koreanische Szenario möglicherweise das Beste, was es gebe, besteht Kluth. Damals wie heute habe sich Peking auf die Seite des Aggressors gestellt (Nordkorea im Jahr 1950), während die USA eine internationale Koalition zur Verteidigung des Opfers (Südkorea) angeführt hätten. In Korea wie in der Ukraine habe ab Mitte 1951 eine kinetische Auftaktphase in einer erbitterten und blutigen Pattsituation gemündet. Zu diesem Zeitpunkt hätten sowohl die USA als auch die Sowjetunion über Atomwaffen verfügt.
Allerdings seien die Hauptgegner auch damals noch nicht gesprächsbereit gewesen, erinnert Kluth. Pjöngjang und Peking hatten diese Idee zwar, aber Josef Stalin in Moskau blieb starr. Auf der US-Seite mussten sich Präsident Harry Truman und sein Nachfolger Dwight Eisenhower um die Innenpolitik sorgen und sahen im Hinblick auf den Kommunismus schwach aus. Südkorea verfolgte seine eigenen Interessen, die nicht im Einklang mit den US-amerikanischen standen. Präsident Syngman Rhee wollte die ganze Halbinsel und habe seine amerikanischen Verbündeten mit abrupten Gesten wie der Massenfreilassung von Gefangenen überrascht.

Und doch begannen nach langer Verzögerung schließlich die Verhandlungen, obwohl das Töten weiterging. Kluth teilt in diesem Sinne die Meinung des Historikers Carter Malkasian von der Naval Postgraduate School in Kalifornien, den er auch zitiert. Die Lektion von Korea sei es: Man müsse bereit sein, gleichzeitig zu reden und zu kämpfen – auch wenn die Verhandlungen vorerst scheitern.
Selbst als die Verhandlungen nach Stalins Tod im März 1953 wieder an Fahrt gewannen, führten sie zu einem Ergebnis, das niemanden zufriedenstellte. Tatsächlich erkannte der Waffenstillstand die Frontlinie so an, wie sie seit zwei Jahren bestand. Es hat nichts anderes von Bedeutung geklärt, sondern lediglich den Konflikt eingefroren. Doch der Waffenstillstand gilt bis heute. „Und in den vergangenen sieben Jahrzehnten hat sich Südkorea zu einer lebendigen und wohlhabenden Demokratie entwickelt“, schließt Kluth seinen historischen Exkurs ab.




