Wagner-Gruppe

Nach dem Wagner-Aufstand: Putin sucht eine neue Rolle für Söldner-Chef Prigoschin

Der gescheiterte Aufstand der Wagner-Gruppe bedeutet nicht ihr Ende. Denn Prigoschin ist zu wichtig in Putins Mafia-Staat. Die Frage ist, wie die Karten neu verteilt werden. Eine Analyse.

Jewgeni Prigoschin (l.) und Wladimir Putin in St. Petersburg (Archivbild)
Jewgeni Prigoschin (l.) und Wladimir Putin in St. Petersburg (Archivbild)Alexei Druzhinin/Pool Sputnik Kremlin

In ihrer Ausgabe vom 7. Juli 2023 berichtete die französische Tageszeitung Liberation unter Verweis auf nicht näher genannte westliche Geheimdienstquellen, dass sich Jewgeni Prigoschin wenige Tage nach seinem gescheiterten Aufstand in Begleitung von Offizieren der Söldnergruppe Wagner mit Wladimir Putin, Kommandanten der Nationalgarde Wiktor Solotow sowie dem Leiter des Auslandsgeheimdienstes (SWR) Sergei Naryschkin im Kreml zu Gesprächen über die Zukunft von Wagner und Prigoschins Unternehmensnetzwerk getroffen haben soll.

In den Morgenstunden des 10. Juli 2023 wurde diese Meldung von russischen Oppositionsmedien aufgenommen und breit diskutiert. Überraschenderweise meldete sich auch der Kremlsprecher Dmitri Peskow zu Wort und bestätigte, dass am 29. Juni 2023 (und nicht wie von Liberation angegeben Anfang Juli) tatsächlich ein Gespräch zwischen Prigoschin, 35 Wagner-Offizieren und Wladimir Putin tatsächlich stattgefunden hat. Inhaltlich ging es laut Peskow um etwaige Beschäftigungsmöglichkeiten für Wagner-Söldner. Pikanterweise hat Peskow bis zum 10. Juli 2023 jedwede Kenntnis über den Aufenthaltsort Prigoschins geleugnet.

Wladimir Putin als Feudalherrscher

Doch warum hat sich Wladimir Putin mit einem „Verräter“ getroffen? Handelte es sich beim Aufstand Prigoschins nicht womöglich doch um eine Inszenierung?

Bei der Beziehung zwischen Wladimir Putin und Jewgeni Prigoschin handelte es sich die längste Zeit um ein auf starken (finanziellen) Verflechtungen und Abhängigkeiten gründendes Vertrauensverhältnis. Insofern gleicht das russische Regime in vielem einem Feudalsystem oder eben zugespitzt formuliert einem „Mafia-Staat“. Vor diesem Hintergrund wäre angesichts der jahrelangen engen Verbindungen zwischen Prigoschin und Wagner sowie Putin und dem russischen Staat kein persönliches Treffen seltsam gewesen. Denn in einem derartigen System bedarf es zu einer endgültigen Klärung zahlreicher offener Fragen des Machtwortes des obersten Herrschers.

Und auch wenn das Vertrauen nach den Ereignissen vom 24. Juni 2023 gebrochen ist, die Verflechtungen bleiben nach wie vor aufrecht. Wagner war ein wichtiges und effektives Instrument russischer Einflussnahme und verdeckter Operationen in zahlreichen Staaten des globalen Südens. Auf ein derartiges Machtinstrument möchte der Kreml auch in Zukunft wohl kaum verzichten. Welche Rolle soll aber Wagner in Zukunft einnehmen? Wer soll beispielsweise die „Militärberatungen“ auf dem afrikanischen Kontinent durchführen? Schließlich ist es kaum vorstellbar, dass das russische Verteidigungsministerium sowie auch Teile russischer Elitenkreise nicht am „Afrika-Geschäft“ Wagners mitverdient haben. Wie sollen aber diese Geschäfte in Zukunft abgewickelt werden?

Einfache Antworten kann es auf diese Fragen nicht geben. Denn nachdem die gesamte Führungsebene von Wagner auf die Person Prigoschins ausgerichtet bleibt, erscheint eine nahtlose Fortsetzung dieses Projektes überaus schwierig zu sein. Umso mehr bedarf es aber des persönlichen Eingreifens von Wladimir Putin.

In Zukunft wird wohl die Verantwortung für die Söldnergruppe Wagner dem Verteidigungsministerium entzogen und geteilt werden. Während Wiktor Solotow als Kommandant der Nationalgarde die Gesamtverantwortung für die Führung von Wagner übernehmen dürfte, wird dem Leiter des Auslandsgeheimdienstes (SWR) Sergei Naryschkin die Kontrolle über die Auslandseinsätze übergeben.

Mit der überraschend schnellen Reaktion auf den Bericht von Liberation wollte der Kreml etwaigen Stellungnahmen Prigoschins zuvorkommen und damit die Deutungshoheit über die Gesprächsinhalte behalten. Doch gerade Letzteres erweist sich als geradezu selbst entlarvend und erlaubt gewisse Rückschlüsse auf die Gesprächsergebnisse. Offenbar konnte im Gespräch mit Prigoschin nicht bei allen Punkten Einigung erzielt werden. Auf einen (teilweisen) Misserfolg deutet jedenfalls die negative Medienkampagne gegen Prigoschin, welche aber unter anderem auch ein Druckmittel in laufenden Verhandlungen bildet.

Alles doch nur Show?

Ungeachtet des für die westlichen Beobachter durchaus seltsam anmutenden Treffens zwischen Wladimir Putin und dem „Verräter“ Jewgeni Prigoschin gibt es keinerlei Anhaltspunkte für die verschwörungstheoretische Mutmaßung, dass der Aufstand Prigoschins mit Putin nicht nur abgesprochen, sondern auch im Sinne einer politisch-militärischen Showeinlage geradezu minutiös geplant war. Prigoschins Meuterei ist in erster Linie der Kontrolle von Putin entglittenen innerelitären Konflikten und Prigoschins Überlebenswunsch geschuldet gewesen. Aus der Sicht Prigoschins war es wohl die letzte verzweifelte Möglichkeit, Putin direkt anzusprechen. Zu einem versuchten Staatsstreich ist die Lage aber erst nach der Rede Putins eskaliert.

Insbesondere der von einigen Beobachtern vorgebrachte Hinweis auf einen Konflikt zwischen einer sogenannten Sankt Petersburger Gruppierung von Wladimir Putin und einer „Moskauer Gruppierung vom Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow“ mutet selbst bei oberflächlicher Kenntnis der – zugegebenermaßen zuweilen nur schwer durchschaubaren innerelitären Machtstrukturen des Putin’schen Russlands – geradezu absurd an. Denn Letzteres impliziert eine gewisse Gleichrangigkeit zwischen Putin und Schoigu. Doch allein die Vorstellung, dass Schoigu (oder auch eine andere Person) gegen Putin auf Augenhöhe operieren kann, erscheint im Jahr 2023 sehr weit hergeholt zu sein.

Gewiss hat Putin eine ganze Reihe von Personen (wie beispielsweise Igor Setschin und Dmitri Medwedew sowie die Mitglieder der Datschen-Kooperative Osero) aus seiner Zeit bei der Stadtverwaltung von Sankt Petersburg nach Moskau mitgenommen. Und ja, die Bekanntschaft mit Jewgeni Prigoschin hat ihre Wurzeln ebenfalls in Sankt Petersburg. Nachdem aber der Lebensmittelpunkt dieser Personen sich vor über einem Vierteljahrhundert nach Moskau verlagert hat, kann von einer Sankt Petersburger Gruppierung freilich keine Rede sein. Denn zu Putins engeren Machtkreis gehörten von Anbeginn an auch andere Gruppen (so beispielsweise seine Wegbegleiter und ehemalige Kollegen aus dem Geheimdienst).

Putin hat nach seinem Aufstieg zur Macht das politische System Russlands nach seinen Vorstellungen umgebaut sowie die innerelitären Machtverhältnisse stark geprägt, sodass das gesamte Machtsystem letztlich allein auf seine Person ausgerichtet ist. Dabei positioniert er sich gleichsam jenseits aller innerelitären Konflikte und agiert als eine Art Schiedsrichter zwischen den Interessen unterschiedlicher Elitengruppen.

Eine Absetzung Schoigus und Gerassimows wäre für Putin jederzeit ohne die Mitwirkung Prigoschins möglich gewesen. Doch wie die vergangenen zwei Jahrzehnte eindrucksvoll zeigten, entbindet Putin niemanden von seinen Funktionen auf einen innerelitären Zuruf hin; jedenfalls nicht allzu schnell. Nach Prigoschins Aufstand erscheint eine zeitnahe Absetzung von Schoigu oder auch nur Gerassimow noch unwahrscheinlicher geworden zu sein. Zumal beide aufgrund der offensichtlichen Misserfolge russischer Streitkräfte Putin nicht persönlich gefährlich werden können. Das Aufkommen eines erfolgreichen Feldkommandeurs, eines neuen „Marschall Schukows“, wird Putin jedoch keinesfalls zulassen. Das war neben dem Näheverhältnis zu Prigoschin und der Feindschaft mit Schoigu ein wesentlicher Grund für den tiefen Fall Sergei Surowikins, des ehemaligen Kommandanten der russischen Streitkräfte in der Ukraine. Über den Aufenthaltsort Surowikins ist bis heute nichts bekannt.

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