Am 15. Dezember 2022 berichtete Bloomberg News unter Verweis auf die Angaben des stellvertretenden Leiters des ukrainischen Generalstabs, Oleksij Hromow, dass Russland seine Fähigkeit auszubauen beginne, die Ukraine vom benachbarten Belarus aus erneut anzugreifen. Zwar seien Russlands Streitkräfte in der Republik Belarus aktuell noch nicht ausreichend verstärkt worden, um eine umfassende Invasion in die Ukraine von Norden her zu ermöglichen, die Lage könne sich jedoch bald ändern. In diesem Zusammenhang stellt sich die seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 intensiv diskutierte Frage nach der Wahrscheinlichkeit eines direkten Kriegseintrittes von Minsk.
Belarus ist bereits Kriegspartei
Belarus ist seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 Kriegspartei; dies nicht nur im Hinblick auf den regelmäßigen Beschuss der Ukraine vom belarusischen Territorium aus. Völkerrechtlich würde der direkte Einsatz belarussischer Streitkräfte gegen die Ukraine somit so gut wie keinen Unterschied ausmachen.
Machtpolitisch und militärisch hätte aber ein offizieller Kriegseintritt der belarussischen Streitkräfte einen potentiell großen Einfluss sowohl auf das Kriegsgeschehen als auch auf die Zukunft der Republik Belarus selbst.

Ultraloyalität mit klaren Grenzen
Nach außen hin unterstützt der nach den gefälschten Wahlen im Sommer 2020 sich zum Präsidenten der Republik Belarus selbstproklammierte langjährige Diktator Alexander Lukaschenko Russlands brutalen Kriegskurs und stellt auch sein Territorium den russischen Streitkräften für die Angriffe gegen die Ukraine zur Verfügung. Immer wieder glänzt Lukaschenko mit geistlosen prorussischen Kommentaren, rechtfertigt russische Kriegsverbrechen (so bezeichnete Lukaschenko beispielsweise das Massaker von Butscha als eine „psychologische Spezialoperation der Briten“) und schreckt auch vor offenen Anfeindungen sowie Drohungen gegenüber Kiew nicht zurück.
Nachdem Lukaschenko durch brutale Repression gegen friedliche Proteste im Jahr 2020 gegenüber dem Westen jeden Kredit verspielt hat, erscheint die ultraloyale Rhetorik des belarusischen Staatschefs freilich kaum überraschend zu sein. Hinzu kommt die massive wirtschaftliche und energiepolitische Abhängigkeit der Republik Belarus von Russland: Sei es die Energieversorgung, die Auslandsverschuldung oder die Abhängigkeit belarussischer Staatsbetriebe vom Zugang zum russischen Markt.
Doch die Rhetorik täuscht. Gegen die von Moskau verlangte direkte Kriegsbeteiligung belarussischer Streitkräfte wehrt sich Lukaschenkos Machtzirkel konsequent. Denn eine aktive Kriegsbeteiligung von Belarus wäre in der historisch stark kriegsgeplagten belarussischen Bevölkerung extrem unpopulär und würde mit großer Wahrscheinlichkeit die landesweiten Proteste gegen Lukaschenko aus dem Jahr 2020 erneut anfachen. Gleichzeitig sucht Lukaschenko nach dem Ausbau diplomatischer Kontakte zum Westen, vor allem aber nach persönlichen Sicherheitsgarantien, die er gegen den Machterhalt grundsätzlich einzutauschen bereit wäre.
Putin möchte Belarus einverleiben
Russland und Belarus bilden einen sogenannten Unionsstaat, der auf einer Reihe von Verträgen basiert. Am 21. Februar 1995 ist in Minsk der „Vertrag über Freundschaft, gute Nachbarschaft und Zusammenarbeit zwischen der Russischen Föderation und der Republik Belarus“ unterzeichnet worden. Von Anbeginn an existiert der Unionsstaat vor allem auf dem Papier. Doch vor allem seit Mitte der 2000er Jahre versucht Putin, Lukaschenko zu einem Ausbau des Unionsstaates zu bewegen und auf diese Weise die belarussische Souveränität einzuschränken; insbesondere im sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich, denn wirtschaftlich und energiepolitisch ist Belarus von Russland ohnehin massiv abhängig. Auch ist Belarus für Russland von strategisch zentraler Bedeutung, ungleich wichtiger als die im Jahr 2014 völkerrechtswidrig annektierte ukrainische Halbinsel Krim. Minsk ist der wichtigste sicherheitspolitische Verbündete Moskaus, ein Vorposten Richtung Westen und ein wichtiges Bindeglied zur Exklave Kaliningrad.
Laut Berichten russischer Investigativmedien wollte Moskau bereits im Herbst 2020 in Belarus einmarschieren, offiziell, um Lukaschenko zu unterstützen, in Wahrheit aber, um die Frage der belarussischen Souveränität endgültig zugunsten eines Zusammenschlusses mit Russland zu lösen. Während der Kreml im Jahr 2020 von dieser Entscheidung letztlich Abstand nahm, häufen sich aktuell die Gerüchte, dass Moskau Lukaschenko endgültig isolieren und durch einen prorussischen Politiker ersetzen möchte.
Verzweifelter als jemals zuvor kämpft Alexander Lukaschenko um das politische Überleben und die intensiven Vereinnahmungsversuche durch Wladimir Putin. Doch verlor Lukaschenko vor Kurzem ganz unerwartet einen wichtigen Verbündeten.
„Plötzlicher Tod“ von Lukaschenkos treuestem Gefolgsmann
Am Samstag, den 26. November 2022, meldete die staatliche Nachrichtenagentur der Republik Belarus BELTA den „plötzlichen Tod“ des 64-jährigen Außenministers Wladimir Makej. Nach wie vor bleiben die genauen Umstände seines Ablebens unbekannt und werfen viele Fragen auf. Vor allem der Zeitpunkt erscheint überaus seltsam zu sein. Auch wenn aktuell keine Spuren in Richtung Moskaus weisen, profitiert Russland enorm von Makejs Tod und der damit einhergehenden Schwächung Alexander Lukaschenkos.
Wladimir Makej galt seit über zwei Jahrzehnten als ein enger Berater und treuer Gefolgsmann des selbstproklammierten belarussischen Staatspräsidenten Alexander Lukaschenko. Von 1996 bis 1999 war Makej Repräsentant der Republik Belarus beim Europarat, bekleidete in den 2000er-Jahren einige führende Posten im belarussischen Außenministerium, leitete von 2008 bis 2012 die mächtige Präsidialverwaltung und wurde im Jahr 2012 zum Außenminister der Republik Belarus ernannt.
Die Bedeutung Makejs für Alexander Lukaschenko wuchs insbesondere mit dem Beginn des Krieges im Donbas im Jahr 2014. Ungeachtet der engen Verflechtungen und zahllosen Abhängigkeiten von Belarus gegenüber Russland gelang es Makej, Minsk international als einen „neutralen Vermittler“ im Donbaskrieg Russlands gegen die Ukraine zu positionieren. Letzteres ist insofern bewundernswert, als Lukaschenko im Westen seit vielen Jahren das Image eines toxischen Politikers, ja des letzten Diktators Europas anhaftet.
Mit diesem diplomatisch eindrucksvollen Drahtseilakt stieg Makej zu einem zentralen Brückenbauer zwischen Belarus und der EU beziehungsweise den USA auf. Nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 nahm seine Bedeutung innerhalb des Machtsystems von Lukaschenko entscheidend zu. So soll Makej die – angeblich unter anderem über Vatikan laufenden – inoffiziellen Gesprächskanäle mit dem Westen aufgebaut haben.
Wladimir Makej galt stets als ein großer Skeptiker einer zu starken Annäherung an Russland und als ein erklärter Gegner einer direkten Beteiligung von Belarus am Krieg in der Ukraine. Aufgrund seiner ungeteilten Loyalität gegenüber Alexander Lukaschenko wurde Wladimir Makej zwar als ein potentieller Nachfolger, jedoch niemals als ein Systemgegner und damit eine Bedrohung für den belarussischen Diktator betrachtet.
Makejs Tod schwächt Alexander Lukaschenko innen- wie auch außenpolitisch, stärkt Russlands Einfluss auf Belarus und bildet eine große Gefahr für die – gegenüber dem Nachbarn im Osten ohnehin stark eingeschränkte – Souveränität des seit Mitte der 1990er-Jahre autoritär regierten osteuropäischen Staates.
Im Übrigen handelt es sich nicht um den ersten unerwarteten und seltsam anmutenden Todesfall innerhalb der Westen-affinen belarussischen Diplomatenriege. Am 25. Dezember 2020 verstarb der seit dem Jahr 2008 erste Botschafter der Republik Belarus in den Vereinigten Staaten Oleg Krawtschenko im Alter von nur 49 Jahren. Laut offizieller Version war die Todesursache eine Covid-19 Erkrankung. Einzelheiten sind allerdings weiterhin nicht bekannt. Krawtschenko leitete über ein Jahrzehnt die Amerika-Abteilung am belarussischen Außenministerium, bevor er im Jahr 2017 zum stellvertretenden Außenminister und im Sommer 2020 zum Botschafter in den USA ernannt wurde.
Der gerissene Geduldsfaden des Kremls
Sollte tatsächlich Moskau für den Tod Wladimir Makejs (und möglicherweise auch Oleg Krawtschenkos) verantwortlich sein, handelt es sich um eine klare Warnung an Alexander Lukaschenko: Der Geduldsfaden Moskaus sei gerissen und die Zeit des offenen Bekenntnisses gekommen. Nunmehr werde Russland weder die ausweichende Position von Belarus mit Blick auf den Einsatz belarussischer Streitkräfte im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, noch die Person Lukaschenkos selbst sehr viel länger dulden.
In der seit über zwei Jahrzehnten von Alexander Lukaschenko innenpolitisch brutal, doch außenpolitisch brillant geführten machtpolitischen Schachpartie um sein politisches Überleben stand der belarusische Diktator einem Schachmatt niemals näher. Mit Blick auf den brutalen Krieg Russlands gegen die Ukraine sind das unglücklicherweise keine guten Nachrichten.












