Das Gespräch mit Bodo Ramelow findet in seinem Büro im Thüringer Landtag statt. Die Sitzungswoche wird vom Thüringen-Monitor dominiert, einer neuen Studie, in der sich weniger als die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger für die Demokratie ausspricht. Auch die sogenannte Staatssekretär-Affäre lastet auf der Stimmung. Nach einem Rechnungshofbericht soll die Landesregierung keine Bestenauslese bei der Besetzung von Stellen vorgenommen haben. Viele Posten auf Leitungsebene der Ministerien seien trotz rechtlicher Vorgaben ohne Ausschreibung besetzt worden.
Herr Ramelow, der Landtag in Erfurt hat kürzlich den Thüringen-Monitor diskutiert. Ein Ergebnis darin ist, dass nur noch 48 Prozent im Bundesland mit der Demokratie zufrieden sind. Die Debatte wirkte ein bisschen lustlos, fast resigniert. Sehen Sie das auch so?
Tatsächlich senden die aktuellen Zahlen des Thüringen-Monitors ein deutliches Signal der Unzufriedenheit. Allerdings fiel die Erhebung genau in den Zeitraum, als die Unsicherheit wegen des Ukraine-Krieges am höchsten war. Wir standen kurz davor, einen großen Teil unserer Industrie zu verlieren. Falls es tatsächlich zu einer Gasabschaltung gekommen wäre, wäre, um ein Beispiel zu nennen, die Glasindustrie in der Rennsteigregion existenziell bedroht gewesen. Deswegen, denke ich, war ein Teil der Antworten nachvollziehbar deutlich angstbegründet. Daran gemessen haben wir die Schwierigkeiten ganz gut gemeistert.

Wirklich? Wenn man ein bisschen herumfragt, ist viel von schlechter Stimmung und Resignation die Rede und dass man auf der Stelle tritt.
Das höre ich häufig, aber entgegen der landläufigen Vorstellung, dass eine Minderheitsregierung handlungsunfähig sei, sind alle notwendigen Entscheidungen getroffen worden. Es gibt kein Vorhaben, das wir abbrechen mussten. Es wurden im Gegenteil auch Projekte der CDU realisiert, und zwar völlig friktionslos. Ich kann deshalb mit dem Vorwurf, dass alles im Stau hängen bleibt, nichts anfangen. Und der Vorwurf der CDU, wir hätten die kommunalen Finanzen für die kleinen Gemeinden gekürzt, ist schlicht unwahr!
Man hat es in dieser Landtagsdebatte gehört, aber auch sonst ist das immer wieder ein Thema, dass sich der ländliche Raum abgehängt fühlt. Spüren Sie das in Thüringen auch?
Diese Unterscheidung zwischen ländlichem Raum und weniger ländlichem Raum wird von der hiesigen CDU gerne bemüht. Sie macht aber in Thüringen wenig Sinn. Wir haben sogar in Erfurt Landwirtschaftsbetriebe, weil es selbst hier genügend Platz dafür gibt. Ganz Thüringen mit seinen 2,1 Millionen Einwohnern würde nicht mal den Vorort einer Megacity wie Tokio oder Shanghai ausmachen. Statt düstere Bilder zu zeichnen, sollte die CDU einfach mal die Fakten zur Kenntnis nehmen.

Nach dem Rücktritt Kemmerichs wurde Ramelow erneut gewählt und regiert nun mit einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung.
Der 67-Jährige war vor seiner Zeit in Thüringen für die Bundespartei tätig. Es saß im Bundestag und war 2005 Chefunterhändler der damaligen PDS bei den Gesprächen zur Verschmelzung mit der westdeutschen WASG.
Welche sind das?
Wir kommen auf 81 Industriearbeitsplätze je 1000 Einwohner, das ist ein extrem guter Wert. Unser Bruttoinlandsprodukt lag 2022 trotz Corona bei 72 Milliarden Euro. Damit befinden wir uns oberhalb des EU-Durchschnitts. Das heißt, mein kleines Bundesland hat sich ökonomisch einen Platz erkämpft, der uns stolz machen sollte. Dass viele sich trotz dieser Zahlen als Verlierer fühlen, halte ich für ein echtes Problem.
Der CDU-Generalsekretär Mario Czaja hat uns kürzlich im Interview gesagt, dass sich im Osten viele abgehängt fühlen und sich so auch die große Zustimmung für die AfD erklären ließe. Auch in Thüringen hat die AfD einen Höchstwert. Wie sehen Sie das?
Ich denke eher, dass solche Aussagen Teil des Problems sind. Denn damit malt man nur die Katastrophe an die Wand, löst aber kein einziges Problem. Die AfD liegt deutschlandweit bei 18 Prozent, sie hat mit der SPD gleichgezogen. Zu behaupten, es handele sich hauptsächlich um ein Ost-Thema, ist angesichts dieser Zahlen schon eine steile These.
Aber der Zuspruch für die AfD ist doch vor allem im Osten hoch, oder nicht?
Er ist ein deutschlandweites Problem. Was ist die Konsequenz daraus, es regional zu verorten: Machen wir die Mauer wieder dicht und dann sind wir das Problem los? Nur zu Erinnerung, die AfD ist im Westen entstanden. Je mehr man jetzt den Fokus auf Ostdeutschland legt, desto eher treibt man Wählerinnen und Wähler zur AfD. Das erinnert sehr stark an den Umgang der etablierten Parteien mit der PDS in der Nachwendezeit. Mit jedem Mal, wenn rote Socken in die Kamera gehalten wurden, hat unsere Partei größeren Zulauf bekommen.

Würden Sie sich denn wünschen, dass jemand mal wieder ein paar rote Socken in die Kamera hält? Die Linke könnte ja ein bisschen Zulauf gebrauchen.
Ich würde mir eine demokratische Kultur wünschen, die dazu führt, dass wir verstärkt über Lösungen reden und das simple Freund-Feind-Denken überwinden. Mir geht das inzwischen echt auf die Nerven. Bestes Beispiel dafür war die Debatte zum Thüringen-Monitor. Von Professor Voigt ...
… dem Fraktionsvorsitzenden der CDU ...
… kam nicht ein konstruktiver Vorschlag. Im Gegenteil, die CDU redet jetzt selbst das schlecht, was sie selber auf den Weg gebracht hat. Der Atomausstieg macht es doch deutlich! Jetzt will ich das gar nicht inhaltlich bewerten. Ich will einfach nur feststellen, beschlossen hat den Ausstieg die CDU gemeinsam mit der SPD. Und jetzt höre ich von der CDU in Thüringen, also, das mit dem Ende der Atomkraft geht gar nicht! Diese Antihaltung, alles schlechtzureden, sobald man keine Verantwortung mehr trägt, ist kreuzgefährlich und zahlt am Ende nur auf AfD ein.
Die Linke ist bundesweit im Abwind. Wo sehen Sie da die Gründe?
Je mehr sich eine Partei nur mit sich selbst beschäftigt und um sich selbst dreht, desto weniger Attraktivität hat sie für Wählerinnen und Wähler. Und wir haben uns in den letzten zwei Jahren in einer Form mit uns selbst beschäftigt, die völlig unzuträglich ist, und die letzte Etappe ist jetzt tatsächlich diese mit Inbrunst geführte Dauerdebatte, ob Frau Wagenknecht nun eine neue Partei gründen will oder nicht.
Wir haben uns in den letzten zwei Jahren in einer Form mit uns selbst beschäftigt, die völlig unzuträglich ist.
Sollte sie?
Ich habe Frau Wagenknecht politisch nie bekämpft. Ich habe sie sehr geschätzt für ihre Analysefähigkeit und für ihre Klarheit, wie sie Angriffe abwehrt. Das habe ich immer mit Respekt das zur Kenntnis genommen. Aber diese irrlichternde Aktion zusammen mit Alice Schwarzer, das macht mir schon graue Haare. Ich war als Bundesratspräsident zu Gast im polnischen Senat, als Sahra Wagenknecht im Bundestag die Rede über russisches Erdgas gehalten hat.
Das war im September, als sie die Regierung aufforderte, die Sanktionen gegen Russland aufzuheben.
Ja. Die in dieser Rede aufscheinende Geschichtsvergessenheit ist bedenklich. Wir müssen die mittel- und osteuropäischen Länder mit ihren Sorgen ernst nehmen. Im September 1939 marschierte die deutsche Wehrmacht in Polen ein und wenige Tage später kam die Sowjetarmee von der anderen Seite. Diese Erfahrungen befördern noch heute reale Ängste, bis zu der Befürchtung, dass Deutschland einen Separatfrieden mit Russland schließt. Einen Separatfrieden zulasten der Ukraine, zulasten aller anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, aus denen mittlerweile souveräne Republiken entstandenen sind. An der Stelle habe ich kein Verständnis mehr für Unklarheit. Das habe ich Frau Wagenknecht geschrieben. Sie hat leider nie drauf geantwortet.
Es sind aber auch andere in der Linken nicht so klar auf der Seite der Ukraine, oder?
Ich habe mich intensiv in die Debatten eingebracht. Ich habe meine Position in der Bundestagsfraktion, im Parteivorstand und in der Partei immer wieder klar thematisiert und gefragt: Seid ihr euch im Klaren, was da gerade passiert? Dass die neuen souveränen Staaten, die nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden sind, auch einen Anspruch darauf haben, dass wir solidarisch mit ihnen umgehen, wenn wir dort linke Parteien unterstützen?
Im Bundesvorstand wird laviert, was die Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine betrifft, in der Fraktion streitet man offen darüber, ohne zu einer Haltung zu gelangen. Wie werten Sie das?
Der Zustand ist für mich schwer zu ertragen. Ich kann mich an Zeiten erinnern, als wir in der Bundestagsfraktion noch Mehrheits- und Minderheitsmeinungen ausgearbeitet haben und dann respektvoll miteinander umgegangen sind, indem wir Auffassungen, die nicht zusammenpassten, nebeneinander stehen ließen. Als Zeichen von gelebter Pluralität. Und um deutlich zu machen, es gibt auch noch eine andere Sicht. Es war uns Selbstverpflichtung, auch die jeweilige Minderheitsmeinung mit zu nennen. Seitdem wir aber angefangen haben, immer die jeweils anderen Linken zu verdächtigen, die Partei vereinnahmen zu wollen, hat der pluralistische Diskurs leider geendet.
Wo sehen Sie da die Lösung? Gibt es eine?
Eine breit aufgestellte Linke braucht Strukturen, in der Pluralität gelebt werden kann, aber auch respektvoll miteinander gearbeitet wird. Deswegen habe ich mich entschlossen, einen Teil meiner Lebenszeit wieder in die Partei einzubringen, indem ich in der Strukturkommission mitarbeite und dort meine Vorschläge unterbreite.
Wie sehen die aus?
Die Frage ist, wie organisieren wir eine lebhafte Debatte in der gesamten Partei, die so geführt wird, dass die Kreisverbände sich im Landesverband wiederfinden und die Landesverbände sich im Bundesvorstand. Wir haben derzeit einen Bundesausschuss, einen Parteivorstand und eine Bundestagsfraktion, die nebeneinander statt miteinander agieren. Ich will daran mitarbeiten, diesen Konstruktionsfehler in eine arbeitsfähige Struktur zu überführen.
Glauben Sie, dass Die Linke das Ruder noch mal herumreißt?
Ich als bekennender Christ glaube sogar noch an das Paradies und das Himmelreich und vieles andere auch. Und andere glauben halt an den Sozialismus, und deswegen bilden wir eine Glaubensgemeinschaft.
Da wir nun bei Glaubensfragen sind, passt die Frage zur Thüringen-Wahl 2024 gut. Sie treten noch mal an. Sehen Sie eine realistische Chance für eine stabile Regierung nach dem Wahltag?
Da ich immer noch sehr gute persönliche Umfragewerte habe, bin ich zuversichtlich, dass sie auch dazu helfen werden, meine Partei erkennbar und stark zu machen. Ich kämpfe für Rot-Rot-Grün.
Womöglich wird aber die AfD stärkste Fraktion?
Man sollte Respekt haben vor den Wählerinnen und Wählern. Sie haben einen eigenen Kopf, und wenn sie der Meinung sind, dass die AfD mit 28 Prozent einlaufen soll, dann ist das ein Faktor, den man nicht übersehen darf. Man muss aber wissen, dass die AfD demokratisch gewählt ist und gleichzeitig den Ort der Demokratie zu zerstören versucht. Man sieht das auch am jüngsten Manöver, mit dem die AfD Herrn Höcke zum stellvertretenden Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses machen möchte.
Bei diesem Untersuchungsausschuss geht es um mutmaßliche Unregelmäßigkeiten bei der Besetzung von Staatssekretärsposten, oder?
Der Vorwurf, ich hätte lauter Parteifreunde eingestellt und nicht auf Qualifikation geachtet, ist absurd, einfach lächerlich. Ich würde es deshalb sehr begrüßen, wenn ein Untersuchungsausschuss sich der Sache annähme und Klarheit schaffen würde. Aber ein Untersuchungsausschuss wird nach derzeitigem Stand nicht zustande kommen, weil die AfD Herrn Höcke zum stellvertretenden Vorsitzenden küren will – wissend, dass niemand aus dem demokratischen Spektrum ihn wählen wird.
Das ist sicher?
Die CDU wählt ihn nicht. Wir wählen ihn selbstverständlich auch nicht. Dann aber gibt es laut Geschäftsordnung keinen Untersuchungsausschuss. Ich möchte aber eine Klärung in der Sache erreichen und habe deshalb vorgeschlagen, dass alternativ der Haushalts- und Finanzausschuss einen Unterausschuss bildet und mit der Untersuchung beauftragt wird. Ich habe zugesichert, diesem Unterausschuss alle notwendigen Unterlagen zur Verfügung zu stellen – und die CDU verweigert sich. Das kann man doch niemanden mehr erklären.
Wie geht es denn in dieser Sache jetzt weiter?
Das weiß ich nicht, es ist völlig unklar. Ich kann nur für die Landesregierung sagen, wir haben nichts zu verbergen. Alle Fragen, die gestellt wurden, sind beantwortet und es sind auch schon erste Konsequenzen aus dem Bericht des Rechnungshofes gezogen worden. Das ist alles transparent und öffentlich einsehbar.
Aber zeigt dieses Hickhack nicht, dass die Zeit der Minderheitsregierung abgelaufen ist?
Abgelaufen ist zunächst einmal der Stabilitätsvertrag, den wir mit der CDU geschlossen hatten. Die CDU hat ihn nicht erfüllt und wollte ihn auch nicht verlängern. Diese Situation, die wir jetzt haben, ist von der CDU gewollt herbeigeführt worden. Ich habe sie mir nicht ausgesucht. Aber ich trage Verantwortung für dieses Land und ich laufe nicht weg. Ich habe eine hohe Souveränität, was meine Lebensplanung angeht. Die Bürgerinnen und Bürger haben mich mit großem Vertrauensvorschuss in dieses Amt gewählt und diesem Vertrauen will ich gerecht werden. Ich bin stolz, dass die Wählerinnen und Wähler anerkennen, dass ich eine etwas ungewöhnliche Art habe, Regierungsarbeit zu organisieren. Und dass eine Minderheitsregierung kein Zuckerschlecken ist, war mir von Anfang an klar.
Warum tun Sie sich das dann aber noch mal an? Es sieht doch nicht nach einer stabilen Mehrheit aus, oder?
Die Mehrheit! Dass Sie ernsthaft diese Frage stellen! Haben Sie den Eindruck, dass derzeit im Bund Berlin eine stabile Mehrheit regiert?
Nun, zahlenmäßig schon.
Aber welche Kriterien legen Sie da an? Das Gezänk um das Gebäudeenergiegesetz spricht nun gerade nicht für übermäßig viel Handlungsfähigkeit. Wir haben hier in Thüringen alle wichtige Entscheidungen treffen können, wir haben, nicht zuletzt, einen Haushalt beschlossen, der uns ermöglicht, das Land zukunftsfähig zu gestalten. Ich denke, das ist wichtiger als abstrakte Überlegungen zu Mehr- oder Minderheitsregierungen. Aber Sie gucken von außen drauf und sagen, alles ist furchtbar, die ganze Welt geht unter.
Ich kann ja nur von außen drauf gucken. Ich bin ja leider keine Thüringerin.
Ich frage noch mal nach. Haben Sie den Eindruck, dass die Regierungen, die über rechnerische Mehrheiten verfügen, weniger Probleme haben als ich, der diese rechnerische Mehrheit nicht hat? Ich bin der Überzeugung, dass Bund und Länder vor den gleichen Herausforderungen stehen, unabhängig von den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen.





