Deutschland betreibt gegenüber Afghanistan eine prinzipiengeleitete Arbeitsverweigerung. Und das, obwohl es dort nach zwanzig Jahren Intervention einen politischen und wirtschaftlichen Trümmerhaufen hinterlassen hat. Deutschland verweigert genau jene Kooperation, die nötig wäre, um Abschiebungen, Sicherheitspartnerschaften oder wirtschaftliche Stabilisierung in Afghanistan überhaupt erst möglich zu machen.
Während Deutschland auf eine prinzipiengeleitete Außenpolitik pocht, übernimmt Katar die diplomatische „Drecksarbeit“ bei Abschiebungen nach Afghanistan. Zugleich verbreitet das politische Berlin den Eindruck, es gäbe keinen Ansprechpartner in Kabul. Doch das stimmt nicht. Die Taliban signalisieren seit mehr als zwei Jahren, dass Afghanistan sehr wohl für konstruktive, regelgebundene Gespräche offen ist.
Immer wieder wird über Abschiebungen in das krisengebeutelte Land diskutiert. Unions-Größen wie Bundeskanzler Friedrich Merz oder Bundesinnenminister Alexander Dobrindt fordern „konsequentere Rückführungen“; immer wieder hört man den Wunsch nach „Entschlossenheit“. Die Botschaft an die Bevölkerung hierzulande ist klar: Die Bundesregierung wolle in Migrationsfragen endlich „hart durchgreifen“. Das war im Übrigen einer der Gründe, warum die Union die vergangene Bundestagswahl gewann. Es ging um eine, verglichen mit der Ampelkoalition, härtere Gangart in der Migrationspolitik. Afghanistan spielt in dem Zusammenhang eine zentrale Rolle.
Doch hinter diesen rhetorischen Vorstößen der politischen Mitte verbirgt sich ein erstaunlicher Mangel an Ehrlichkeit. Eine Recherche der Berliner Zeitung zeigt: Das Gros der politischen Akteure in Deutschland weiß, dass ihre Forderungen in Sachen Migration derzeit nicht umsetzbar sind. Trotzdem bedienen Union und SPD eine Debatte, die sie schlussendlich aus diplomatischen Gründen selbst blockieren.
Das zentrale Problem der deutschen Afghanistanpolitik
Im Juli dieses Jahres startete der zweite große Abschiebeflug seit der Machtübernahme der Taliban vor mehr als vier Jahren. 81 afghanische Männer, allesamt verurteilte Straftäter, wurden vom Leipziger Flughafen mit einer Passagiermaschine der Qatar Airways nach Kabul gebracht. Zuvor war es unter Merz’ Amtsvorgänger Olaf Scholz zu einem Abschiebeflug gekommen – im Sommer 2024 wurden 28 afghanische Straftäter in ihre Heimat abgeschoben. Unter ihnen waren beispielsweise Sexualstraftäter oder solche, die nach dem Betäubungsmittelgesetz zu Freiheitsstrafen verurteilt worden waren.

Möglich war das nur, weil das kleine, aber geopolitisch nicht unbedeutende Katar die gesamte Operation organisiert hatte. Angefangen mit den Vermittlungen zwischen deutschen und afghanischen Vertretern über das Bodenpersonal in Leipzig bis zur diplomatischen Abwicklung. „Ohne Katar wäre kein einziger dieser Männer nach Afghanistan gelangt“, sagt ein Insider, der unter der Ampel in einem Bundesministerium arbeitete.
Hinzu kommt, dass die Katarer hinter vorgehaltener Hand deutlich machen, auf derartige Vermittlerdienste keine Lust mehr zu haben. Doha will nicht die Eule zwischen Berlin und Kabul spielen; zu wichtig ist die Rolle der Golfmonarchie bei den großen Konflikten in der Region. Iran, Gaza, Israel – die Liste lässt sich fortführen. Da ist die zum Teil unentgeltliche Vermittlerrolle zwischen Deutschland und Afghanistan geradezu unsexy. Schließt sich damit für Deutschland eine der letzten Türen, was Abschiebungen nach Afghanistan betrifft?
Nun kommt das Problem, das dem Bundeskanzleramt und dem Innenministerium gleichermaßen bewusst ist: Man kann nicht in ein Land abschieben, dessen Regierung man nicht anerkennt. Das Auswärtige Amt formuliert unmissverständlich: „Die Bundesregierung erkennt die De-facto-Regierung der Taliban politisch nicht als legitime Regierung Afghanistans an.“ Die Botschaft in Kabul ist seit August 2021 geschlossen; es gibt auch keinen konsularischen Schutz in dem Land. Kontakte existierten nur auf „technischer Ebene“, heißt es aus dem Innenministerium.
Nur: Abschiebungen nach Afghanistan sind ohne Kooperation mit den Taliban nicht möglich. Ohne diplomatisch geregelte Beziehungen werde es keine offiziellen Verhandlungen und keine zwischenstaatlichen Abkommen geben, hört man aus Regierungskreisen in Kabul. Der Wunsch nach regulären Rückführungen hängt somit an Bedingungen, mit denen sich die politischen Verantwortlichen hierzulande abfinden müssen.
Doch Union und SPD wollen über das Dilemma kaum sprechen. Das Innenministerium teilt auf Anfrage der Berliner Zeitung mit: „Aus Sicht der Bundesregierung steht die Nichtanerkennung der afghanischen De-facto Regierung als legitime Regierung Afghanistans der Durchführung von Rückführungen grundsätzlich nicht entgegen.“ Dies werde durch die Rückführungen im August 2024 und im Juli 2025 – die beiden Abschiebeflüge – bestätigt.

Innenminister Dobrindt fordert einen „Knallhartkurs“ mit mehr Abschreckung und Abschiebungen, um eine „Migrationswende“ zu erreichen. „Die Bundesregierung führt auf technischer Ebene Gespräche mit Vertretern der afghanischen De-facto-Regierung, um weitere Rückführungen nach Afghanistan zu ermöglichen“, teilt sein Haus mit.
Doch aus Kabul hört man Widersprüchliches. Technische Gespräche ohne Anerkennung seien ein politisches Feigenblatt. Das politische Berlin wisse, dass ohne offizielle Kooperation nichts gehen werde. Da das offizielle deutsch-afghanische Verhältnis in einer Art Wachkoma schwebt, wird es also absehbar keine großen Veränderungen bei Rückführungen nach Afghanistan geben.
Ein Mann aus Bayern: Der letzte Diplomat in Afghanistan?
In dieses Vakuum tritt eine ungewöhnliche Figur. Ein Mann, der öffentlich bisher keine Rolle spielt. Ein bayerischer Unternehmensberater, der derzeit in Kabul eine Niederlassung aufbaut und nach eigenen Angaben direkt mit Taliban-Ministerien in Kontakt steht. Er möchte, da die Angelegenheit geopolitisch sensibel ist, anonym bleiben. Ein letzter Brückenkopf in einem Land, aus dem sich der Westen vollständig zurückgezogen hat. Der 57-Jährige beschreibt, dass das Islamische Emirat Afghanistan sowohl für klar strukturierte Rückführungsabkommen als auch für eine umfassende wirtschaftliche Zusammenarbeit offen ist – vorausgesetzt, es existierten verlässliche Ansprechpartner und transparente Prozesse.
Der Berater behauptet sogar, er besitze ein offizielles Mandat der Taliban, um Rückführungen aus Deutschland nach Afghanistan zu organisieren. Seine Darstellung steht im krassen Gegensatz zu den Berichten über die Sicherheits- und Menschenrechtslage im Land. Ob Deutschlands mutige Kontaktverweigerung die Lage der unterdrückten Frauen und Mädchen in Afghanistan verbessern wird? Unklar. Während die Taliban in Deutschland nämlich weiterhin eine terroristische Organisation sind, spricht der Bayer von einem „relativ sicheren“ und stabilen Afghanistan, das sich offen für internationale Geschäftsbeziehungen zeige. Er verweist auf internationale Rückkehrer wie die Weltbank und beschreibt ein Land, das ganz anders scheint, als das Gros der Afghanistan-Experten hierzulande es darstellt.
Gegenüber der Berliner Zeitung sagt er: „Es fehlt ein operativer Kanal, der politisch tragfähig ist und zugleich die wirtschaftlichen Interessen abdecken kann. In der Praxis laufen deshalb viele Gespräche über mich, da ich als einer der wenigen Europäer direkten Zugang zu Entscheidungsträgern in Kabul besitze.“ Dieser Zugang umfasse Themen wie Rohstoffe, Energieprojekte, Infrastruktur, Logistik, Landwirtschaft und die Erschließung neuer regionaler Absatzmärkte. Nach seinen Angaben signalisiert die afghanische Seite seit mehr als zwei Jahren die Bereitschaft zu klar geregelten, transparenten und wirtschaftlich tragfähigen Kooperationen. Doch weder Berlin noch große Teile der europäischen Wirtschaft nutzten diese Möglichkeit bislang.
Der Gesamteindruck bestätigt seine zentrale These: „Der Kern des Problems ist die mangelnde Ehrlichkeit in der politischen Debatte.“ Wenn Merz oder Dobrindt von „konsequenten Abschiebungen nach Afghanistan“ sprechen, verschweigen sie, dass Deutschland ohne eine Anerkennung der Taliban-Regierung nicht in großem Stil nach Afghanistan abschieben kann.
Der Schritt aber ist für Merz, Klingbeil, Dobrindt und Co. innenpolitisch tabu. Ob die Taliban-Anerkennung in der Unions- und SPD-Basis eine Mehrheit hat, ist ebenso fraglich. Eine praktikable Lösung ist jedenfalls nicht in Sicht. Die zwei Abschiebeflüge, die stattgefunden haben, waren diplomatische Ausnahmefälle. So entsteht eine paradoxe Situation: Die Politik fordert etwas, von dem sie weiß, dass es derzeit nicht umsetzbar ist. Und sie tut es, ohne der Öffentlichkeit zu erklären, warum.
Wirtschaftlicher Aufschwung: Die Taliban sind nicht isoliert
Während Berlin migrationspolitisch in Grundsatzfragen feststeckt, hat Afghanistan längst begonnen, an anderer Stelle Fakten zu schaffen. Jenseits der deutschen Debattenlogik formt sich im Land selbst eine Entwicklung, die hierzulande kaum jemand wahrnimmt. Die politische Isolation der Taliban, auf die Europa pocht, hat Afghanistan wirtschaftlich nicht ausgebremst. Im Gegenteil: die Ministerien in Kabul arbeiten mit Hochdruck daran, neue ökonomische Strukturen aufzubauen, Partner in der Region zu gewinnen und internationale Akteure zurück ins Land zu holen.

So verläuft die wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans seit der Machtübernahme der Taliban 2021 dynamisch. Aussagen afghanischer Ministerien, die der Berliner Zeitung vorliegen, zeigen ein Land, das trotz fehlender internationaler Anerkennung aktiv nach neuen Partnern und Investoren sucht. Das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie waren für eine Stellungnahme nicht erreichbar.
Stellung genommen hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, kurz BMZ. Die Entwicklungszusammenarbeit zwischen Deutschland und der Taliban-Regierung sei 2021 ausgesetzt worden. Das Ministerium betont, dass Projekte ausschließlich über UN-Organisationen, die Weltbank und internationale Partner laufen. Leitprinzipien seien „lokale Eigenverantwortung“ sowie der „Schutz vulnerabler Gruppen“. Die prinzipiengeleiteten entwicklungspolitischen Maßnahmen orientierten sich auch an den Empfehlungen der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags.

Gleichzeitig verschiebt sich das regionale Gleichgewicht. Usbekistan, Kasachstan und Turkmenistan entwickeln sich zu wirtschaftlichen Knotenpunkten für Afghanistan. Bei der jüngsten Tagung der Afghanistan Coordination Group (ACG) im usbekischen Taschkent standen Energie, Wasser, Landwirtschaft und regionale Stabilität im Mittelpunkt – Themen, die Afghanistan faktisch betreffen, auch wenn es politisch nicht beteiligt ist. Das BMZ, so das Ministerium, stehe dazu im Austausch mit den zentralasiatischen Partnern; es spricht von „regional ownership“, also der Übernahme praktischer Verantwortung durch die Staaten der Region.
Messbar ist die Entwicklung schon längst. Usbekistans Handel mit Afghanistan erreichte 2024 rund 1,1 Milliarden US-Dollar; Turkmenistan lieferte Energie im Wert von etwa 500 Millionen Dollar; Kasachstan arbeitet an einer mehrjährigen Handelsstrategie mit Kabul. Afghanistan ist zunehmend eingebunden – nur eben nicht seitens Europa.
Andere Mächte und Weltbank handeln, Europa bleibt zögerlich
Während Europa mit sich selbst ringt, wie mit den Taliban umzugehen ist, handeln andere Akteure längst. China entsandte 2023 als erstes Land einen neuen Botschafter nach Kabul und investiert in Infrastruktur, Bergbau und Kühlketten. Russland strich die Taliban 2025 von der Terrorliste und lädt Regierungsvertreter zu Wirtschaftsforen ein. Auch Iran, Katar und die Türkei weiten ihr Engagement aus.
Auch internationale Organisationen kehren vorsichtig zurück. Laut dem afghanischen Finanzministerium hat die Weltbank im Mai 2025 ihr Büro in Kabul wieder eröffnet und beginnt, ausstehende Zahlungen von rund 50 Millionen Dollar an afghanische Firmen zu begleichen. Die Weltbank selbst kommentierte dies nicht direkt, betonte jedoch, dass Finanzströme weiterhin unabhängig von Taliban-Strukturen abgewickelt werden sollen. Seit 2021 hat sie mehr als 1,7 Milliarden Dollar für Programme zugunsten von Frauen und Mädchen bereitgestellt. Zudem genehmigte ihr Vorstand die Wiederaufnahme des CASA-1000-Energieprojekts, das überschüssige Energie entlang der Strecke Kirgistan, Tadschikistan, Afghanistan und Pakistan verteilen soll.
Die Antworten aus dem Islamischen Emirat Afghanistan, so nennt sich das Land seit 2021, zeichnen ein einheitliches Bild. Europäische Unternehmen seien grundsätzlich willkommen, sofern die Projekte transparent, rechtskonform und auf lokale Wertschöpfung ausgelegt seien. Europäische Firmen würden wegen technologischer Kompetenz und hoher Compliance-Standards geschätzt. Projekte würden jedoch nur dort realisiert, wo eine stabile Sicherheitslage bestehe.

Besonders deutlich wird diese Linie im Bergbau- und Energieministerium. Die Zusammenarbeit mit China und den zentralasiatischen Staaten habe Investitionen und Technologietransfer ermöglicht, etwa beim Kupferprojekt Mes Aynak oder dem Öl-Joint-Venture zwischen der Afghanistan Oil and Gas Corporation (AOGC) und der Xinjiang Central Asia Petroleum and Gas Company (CAPEIC) im Amudarja-Becken.
Doch gerade dieses Projekt zeigt, dass das Emirat bereit ist, selbst großen Partnern klare Grenzen zu setzen. Der 2023 geschlossene Ölvertrag zwischen der staatlichen AOGC und der CAPEIC mit einem Volumen von rund 540 Millionen Dollar wurde im Sommer 2025 von afghanischer Seite überraschend aufgehoben. Nach Recherchen des amerikanischen NPR-Hörfunks und Oilprice wirft Kabul dem Unternehmen verspätete Zahlungen, fehlende technische Fortschritte und Vertragsverstöße vor. Der Bergbau- und Energieminister Shahabuddin Delawar sagte gegenüber NPR: „Der Vertrag schreibt vor, dass das Öl in Afghanistan verarbeitet wird. Wir werden nicht zulassen, dass Rohöl ins Ausland gebracht oder dort verarbeitet wird.“
Trotz der Kündigung verhandeln beide Seiten über ein neues Modell. Investitionen sind weiterhin willkommen, aber nur unter Bedingungen, die Kabul Kontrolle über strategische Ressourcen sichern.
Mit Usbekistan, Tadschikistan und Kasachstan bestehen technische Kommissionen, die gemeinsame Erkundungen, Standards und den Rohstoffhandel koordinieren. Bewährte Vertragsmodelle seien Joint Ventures, Groß- und Kleinbergbauverträge sowie internationale Öl- und Gasstandards, an die man sich gerne halten möchte. Europäische Firmen seien besonders interessant, wenn sie Ausbildung, Technologie und Umweltstandards einbringen.

Landwirtschaft und Bildung: Frauen im Agrarsektor
Im Agrarsektor hebt das Landwirtschaftsministerium laufende Kooperationen hervor, etwa chinesische Kühlhausprojekte in Kabul und Masar-e Scharif oder Wasser- und Ausbildungsprogramme mit Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan. Ziel sei es, Afghanistan „vom Importland zum Exportland“ zu entwickeln. Der Staat unterstützt Investitionen durch Pachtflächen, Bewässerungs- und Transportinfrastruktur sowie durch ein geplantes One-Stop-Shop-System für Genehmigungen.
Seit 2022 haben die Taliban den Opiumanbau, einst die wichtigste Einkommensquelle des Landes und verantwortlich für bis zu 90 Prozent der weltweiten Heroinproduktion, weitgehend zum Erliegen gebracht. Satellitendaten der Uno bestätigen den drastischen Rückgang der Anbauflächen. Gleichzeitig wirbt die Regierung aktiv für den Anbau von Alternativen: Safran, Granatäpfel, Mandeln, Rosinen und Heilpflanzen gehören inzwischen zu den dynamischsten Exportgütern des Landes.
2024 wurden rund 40 Tonnen Safran geerntet, nahezu eine Verdoppelung gegenüber dem Vorjahr. Etwa 60.000 Frauen arbeiten entlang dieser Wertschöpfungskette. Schon kleinere Investitionen in Bewässerung, Verarbeitung und Kühlung führen nach Angaben aus Kabul zu deutlichen Produktivitätsgewinnen, ein Grund, warum die Landwirtschaft zu den Sektoren zählt, in denen internationale Kooperation am schnellsten Wirkung entfalten könnte.
Mit über 63 Prozent der Bevölkerung unter 25 Jahren bleibt die Ausbildung ein zentrales Zukunftsthema. Internationale Organisationen – darunter die Weltbank – knüpfen viele Programme explizit an Qualifizierungsbausteine.








