Analyse

„Being Dmitri Medwedew“: Eine Reise in den Kopf des Putinisten

Dmitri Medwedew hat sich erneut zu Wort gemeldet und sich radikal über den Westen geäußert. Wie sehr muss man seinen Drohungen Glauben schenken? Eine Analyse.

Kremlchef Wladimir Putin und Dmitri Medwedew, stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrates der Russischen Föderation.
Kremlchef Wladimir Putin und Dmitri Medwedew, stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrates der Russischen Föderation.Dmitry Astakhov/Pool/Tass

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine vergeht kaum eine Woche ohne vor Gossensprache nicht zurückschreckenden Drohgebärden und Schimpfkanonaden des ehemaligen Hoffnungsträgers der politischen Modernisierung Russlands – des stellvertretenden Vorsitzenden des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, des ehemaligen Staatspräsidenten (2008–2012), langjährigen Regierungschefs und der liberalen Zukunftshoffnung Russlands –: Dmitri Medwedew.

Mediale Hyperaktivität Medwedews

Die anhaltende mediale Hyperaktivität Medwedews lässt sich zu einem guten Teil über den Abgrenzungswunsch Medwedews von seinen ehemaligen Weggefährten aus den Reihen russischer (wirtschafts-)liberaler Eliten erklären. Russland ist mitten in einer gegen Kriegsgegner und „Nationalverräter“ gerichteten Säuberungswelle.

Die sogenannten Systemliberalen in den russischen Eliten haben ihre einst überaus gewichtige politische Rolle eingebüßt und befinden sich seit einigen Jahren im Rückzug. Die Gruppe der wirtschaftsliberalen und – naheliegenderweise nur sehr bedingt – prowestlichen Kriegsgegner innerhalb der Regierung scheint seit Beginn des Angriffskrieges jedwede Einflussmöglichkeiten auf die Entscheidungen der Staatsführung verloren zu haben. Sie sind endgültig zu technokratischen, um Schadensbegrenzung bemühten Verwaltern degradiert worden.

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Zum Autor
Dr. Alexander Dubowy ist Politik- und Risikoanalyst sowie Forscher zu internationalen Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum. Er ist Mitarbeiter der Berliner Zeitung am Wochenende.

Auch dürfte der langjährige enge Wegbegleiter Wladimir Putins nach wie vor Machtambitionen hegen. Durch die aggressive Rhetorik jenseits des guten diplomatischen Tons sorgt Medwedew für anhaltendes Interesse der Medien und bleibt auf diese Weise im Bewusstsein der Eliten – vor allem der wichtigen Gruppe der Silowiki – und der Bevölkerung präsent. Auffallend ist ferner die direkte Berufung auf Wladimir Putin sowie die unübersehbare Übernahme nicht nur der Inhalte, sondern auch der rhetorischen Stilmittel Wladimir Putins.

Fehler aus den 1990er-Jahren sollen korrigiert werden

Das bislang umstrittenste Posting erschien aber kurz nach Mitternacht vom 1. auf den 2. August 2022 auf dem in Russland populären sozialen Netzwerk Vkontakte.ru. Dieses Posting behauptete, dass das gesamte Gebiet des historischen Russlands wieder vereinigt werden solle. Schließlich habe Georgien vor dem Aufgehen in Russland im 19. Jahrhundert nie existiert, Kasachstan sei ein künstliches Staatsgebilde und der nächste Feldzug zur Wiederherstellung der russischen Grenzen werde nicht lange auf sich warten lassen.

Es sollten nur wenige Minuten vergehen, bevor das Posting wieder gelöscht wurde. TV-Moderatorin, politische Aktivistin, ehemaliges It-Girl Ksenija Sobtschak veröffentlichte die Screenshots auf ihrem Telegram-Kanal unter dem Hinweis, dass es sich ihrer Ansicht nach um ein Fake-Posting handelt. Am 2. August sagte Oleg Osipow, ein Mitarbeiter Dmitri Medwedews, gegenüber der russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti, dass Medwedew Opfer eines Hackerangriffes wurde.

Ob Dmitri Medwedew tatsächlich Opfer eines Hackerangriffes wurde, lässt sich bislang nicht überprüfen. Überraschend wäre dies jedoch nicht. Denn kurz zuvor wurde auch Sergej Kirijenko, der erste stellvertretende Leiter der mächtigen Präsidialverwaltung – eine die zentrale Amtsausübung des Präsidenten der Russischen Föderation koordinierende Behörde, nach Ansicht der Experten eine Art Schattenkabinett des Präsidenten und das eigentliche Hauptquartier des Machtsystems –, Opfer einer ähnlichen Hackerattacke.

„Unsere Menschen, unser Boden, unsere Wahrheit“

Am 25. Dezember 2022 erschien in der Rossijskaja gazeta, einer russischen Tageszeitung, welche als das Amtsblatt der russischen Regierung fungiert, ein Programmartikel Dmitri Medwedews unter dem Titel „Unsere Menschen, unser Boden, unsere Wahrheit“ über die Bedeutung und die Auswirkungen von sechs zentralen Ereignissen des Jahres 2022 für die Zukunft der Weltordnung.

An die Spitze seiner Top-Sechs-Jahresliste setzt Medwedew die These vom „Nazismus“ in der Ukraine. Die sogenannte Spezialmilitäroperation diene dem Erreichen von Zielsetzungen, die Wladimir Putin an ihrem Beginn festlegte: Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Schutz von Russlands Landsleuten. Die Schuld für die Eskalation der Kampfhandlungen sieht Medwedew ganz klar beim Westen, der die „Zerstörung“ und die „Aufspaltung“ Russlands anstrebe. Moskau werde alles daran setzen, um dem „widerlichen Regime der Kiewer Nationalisten“ ein Ende zu setzen, verspricht Medwedew.

Die zweite These lässt sich aus der ersten These nahtlos ableiten – die Illusion sei vorbei, denn heute gebe es zwischen Russland und dem Westen viel mehr Trennendes als Einigendes. Von jedweden Dialogversuchen mit den „zynischen westlichen Partnern“ solle tunlichst Abstand genommen werden. Auf Jahrzehnte hinaus sei ein „normales Verhältnis“ zu vergessen.

Die dritte These forderte den Einsatz „harter Mittel“ zur Heilung der irrationalen „Epidemie der Russophobie“. Denn zu weit ist der Westen in seiner Irrationalität und dem Wunsch, alles Russische zu verbieten, vorangeschritten. Dem Westen werde es aber nicht gelingen, Russland oder die „Russische Welt“ zu spalten und einem fremden Willen zu unterwerfen, zeigte sich Medwedew überzeugt.

Laut der vierten These habe sich der Westen selbst in einen Käfig getrieben und müsse darin eine Zeit lang isoliert werden. Unter Berufung auf die Worte Wladimir Putins vom Eintritt der Welt in die revolutionäre Epoche fundamentaler Transformationen beschwört Medwedew den „globalen ideologischen und philosophischen Zusammenbruch“ der westlichen Weltanschauung sowie des westlichen Weltordnungsmodells herbei.

Mit der fünften und vorletzten These versucht Medwedew zu beschwichtigen und gleichzeitig zu drohen. Dabei versichert er, dass die Apokalypse ausbleiben werde; jedenfalls „vorerst“. Eine Normalisierung der Lage könne allerdings ausschließlich durch „maximale Sicherheitsgarantien“ für Russland erreicht werden. Widrigenfalls werde die Welt in absehbarer Zeit am Rande eines Dritten Weltkrieges und der nuklearen Katastrophe balancieren, so Medwedew.

Mit der sechsten These verabschiedet sich Medwedew endgültig in eine parallele Realität und behauptet, Russland versuche nicht lediglich zu überleben, sondern das Land entwickele sich weiter und erringe Siege über seine Feinde.

Am 26. Dezember ging Medwedew einen Schritt weiter und veröffentlichte auf Twitter zehn Vorhersagen für das Jahr 2023. Kein geringerer als der aktuelle Twitter-Besitzer Elon Musk bezeichnete Medwedews Überlegungen als „definitiv die absurdesten Vorhersagen, die [er] je gehört habe“ und attestierte dem ehemaligen Präsidenten und Regierungschef Russlands „einen erstaunlichen Bewusstseinsmangel“ für die Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz und der erneuerbaren Energien.

Kampf der Bulldoggen unter dem Teppich

Auch wenn die Vorhersagen Dmitri Medwedews für das Jahr 2023 intellektuell bestenfalls Durchschnittskost sind und inhaltlich keine Aufmerksamkeit verdienen, sind sie dennoch nicht ganz und gar bedeutungslos. Mit dem aktuellen Programmartikel positioniert sich Medwedew als ein treuer Diener des russischen Staatspräsidenten und versucht innerhalb des Führungszirkels, der russischen Eliten für sich die Deutungshoheit über die aktuellen Entwicklungen zu beanspruchen. Vor unseren Augen entfaltet sich solcherart die jüngste Episode der grotesk-amüsanten innerelitären Machtspiele, die Winston Churchill einst mit Blick auf den undurchsichtigen machtpolitischen Reigen in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion mit einem „Kampf der Bulldoggen unter dem Teppich“ verglich.

Doch allen Rankenspielen und Machtkämpfen zum Trotz bleibt das von Wladimir Putin aufgebaute Machtsystem von einer Destabilisierung oder gar einer Palastrevolte weit entfernt. In der Ära Putin sind die „klassischen“ und Einfluss auf die Politik ausübenden Oligarchen – in Übereinstimmung mit eigenen Interessen und auch gegen die Kremlinteressen – entmachtet und durch Kreml-zentrierte Staatsoligarchie aus den Reihen Putin’scher Vertrauter ersetzt worden. Die Entscheidung Putins, eine Großinvasion gegen die Ukraine zu beginnen, wurde mit Sicherheit nicht von allen Angehörigen der Eliten unterstützt; die meisten dürften davon sogar überrascht worden sein und sind mit dieser Entscheidung nicht glücklich.

Nachdem die Staatsoligarchen und Angehörigen der Eliten ihren Wohlstand sowie letztlich ihre Sicherheit allein Putin zu verdanken haben und in ihm den einzigen Garanten für ihr Leben und Wohlergehen erblicken, untereinander oftmals verfeindet sind und keine unmittelbare Alternative sehen, bleibt ihr Einfluss auf die Entscheidungen Putins begrenzt und die Wahrscheinlichkeit eines koordinierten Widerstandes gegen Putin im Sinne einer Palastrevolte nur wenig wahrscheinlich.

Aus diesem Grunde sollte auf ein baldiges Ende von Wladimir Putin besser nicht gesetzt werden. Umso wichtiger wird aber das Verständnis der Funktionsweise des Putin-Regimes. So überraschend dies für viele auch klingen mag, eignen sich Interviews und Beiträge der russischen Führungselite hervorragend für diesen Zweck.

Medwedew und das Verständnis der inneren Systemlogik

Auch wenn mittlerweile der Überraschungs- und Unterhaltungswert von Dmitri Medwedews alles andere als grazilen Gedankengängen äußerst gering zu sein scheint, ist der analytische Wert seiner Ausführungen als ungleich höher zu bewerten.

Denn die Stimmungsschwankungen, Erwartungshaltungen sowie die darin zum Ausdruck kommenden Ängste und Emotionen sind für das Verständnis der Funktionslogik russischer Eliten sowie ihrer Machtkämpfe wesentlich wertvoller als Exklusivinformationen über die angeblichen Pläne des Kremls.

Dank seiner ungeteilten Loyalität gegenüber Wladimir Putin, seiner jahrzehntelangen Insider-Stellung innerhalb des Putin’schen Machtsystems sowie letztlich seiner erstaunlichen Anpassungsfähigkeit und seines politisch flexiblen Rückgrates kann Dmitri Medwedews als hervorragender menschlicher Lackmustest für die Grundstimmungen des Kremls herangezogen werden.

Auf diese Weise tragen selbst die sinnlos aggressiven und hochgradig emotionalen Äußerungen Medwedews zu einem besseren Verständnis der inneren Logik des Kreises rund um Wladimir Putin sowie zum Erkennen seiner aktuellen und noch kommenden Konflikte wesentlich bei.

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