Donald Tusk sagt: „Die PiS lässt die meisten muslimischen Migranten ins Land.“ Jaroslaw Kaczynski wiederum schreit: „Donald Tusk würde Polen zu einem zweiten Lampedusa machen.“ Ginge es nach der Aufmerksamkeit der Medien und nach dem Willen polnischer Politiker, wären „Migranten“ und „die Visapolitik Polens“ einen Monat vor den Parlamentswahlen die wichtigsten Themen im Land.
Es ist jedoch komplizierter als bei den Wahlen im Jahr 2015, als die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) die Flüchtlingskrise im Mittelmeer zu ihrem Hauptthema machen konnte und die deutsche „Willkommenskultur“ sowie das Flüchtlingsverteilungsprogramm der Europäischen Union zur größten Bedrohung des Landes erklärte. Damals kam die PiS an die Macht, an der sie bis heute festhält.
Ein Visum für Polen kostete 5000 Dollar
Unter der Herrschaft der einwanderungsfeindlichen Partei Recht und Gerechtigkeit stellte sich heraus, dass Visa für Polen an vielen Orten der Welt auf dem Schwarzmarkt und unter Umgehung von Sicherheitsstandards illegal gekauft werden konnten. Polnische diplomatische Vertretungen nutzten das Outsourcing des Visa-Verfahrens, sodass sich um die Vermittler herum korrupte Strukturen bilden konnten. Informationen zu deren Aktivitäten tauchten unter anderem in Belarus, Uganda, Indien, der Türkei und Nigeria auf.
Vermittlungsfirmen buchten alle Termine bei polnischen konsularischen Vertretungen im Ausland und blockierten den Zugang zu ihnen. Um ein Visum für Polen zu beantragen, musste man also den Vermittler bezahlen – zum Beispiel mit fünftausend Dollar.
„Meine Eltern verkauften ihr Land und liehen sich Geld von Freunden und Verwandten“, sagte ein junger Mann aus dem indischen Bundesstaat Kerala, der die Dienste der polnischen Vermittler in Anspruch nahm, um nach Polen zu gelangen, gegenüber der linksliberalen Gazeta Wyborcza. Solche Geschichten verdeutlichen, dass es ohne einen kommerziellen Vermittler fast unmöglich war, ein Visum für Polen zu erhalten.
Außerdem veröffentlichte das Portal Onet eine Geschichte, die sich geradezu filmreif anhört: Inder, die ihre Visa für Polen von korrupten Vermittlern erhalten haben, gaben sich als Bollywood-Filmcrews aus, obwohl sie nie etwas mit einer Filmproduktion zu tun hatten. Sie wollten letztendlich über Polen in die USA und zahlten der polnischen Visa-Mafia zwischen 25.000 und 40.000 Dollar für die Einreisegenehmigungen. Wer in so einem Fall ein Visum erhalten hat, soll vom stellvertretenden polnischen Außenminister Piotr Wawrzyk manuell kontrolliert worden sein.
Zweites Lampedusa in Polen?
Dass die PiS durch die Visa-Affäre in Panik geraten ist, zeigt allein die Tatsache, dass der stellvertretende Außenminister Piotr Wawrzyk sofort entlassen wurde. In einem anderen Land oder zu einer anderen Zeit wäre ein Rücktritt vielleicht normal, aber die Partei Recht und Gerechtigkeit hat in den letzten Jahren, ungeachtet des Ausmaßes der aufeinanderfolgenden Skandale, ihre Leute entweder gar nicht oder mit erheblicher Verzögerung entlassen. Die überstürzten Entscheidungen im Fall Wawrzyk stellen eine Ausnahme dar. Die Situation hat sich geändert.
Darüber hinaus hat sich auch die Bürgerplattform von Donald Tusk (PO), der Hauptfeind der PiS, verändert. Im Jahr 2015 war die Partei hinsichtlich ihrer Position in der Flüchtlingskrise unentschlossen – behauptete aber zunächst, sie wolle den Flüchtlingen helfen. Das rächt sich nun. Je mehr Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit der Einwanderungspolitik der PiS ans Licht kommen, desto lauter schreien Kaczynski und seine Leute, die Bürgerplattform von Tusk wolle ein „zweites Lampedusa“ in Polen eröffnen.
Befinden sich unter den Migranten Terroristen?
Doch heute appelliert die Bürgerplattform, die größte Oppositionspartei in Polen, eher an die Sicherheitsbedenken der Bürger als an ihre humanitären Gefühle. Als Jana Shostak, eine weißrussische Aktivistin, die auf den Listen der Bürgerplattform in der Grenzstadt Bialystok kandidieren wollte, sagte, sie sei für den Abbau des Grenzzauns an der polnisch-weißrussischen Grenze, strich Tusks Partei sie sofort von ihren Wahllisten.
Jetzt ist es Tusk, der der PiS mit Blick auf den Korruptionsskandal vorwirft, dass ihre Politiker die illegalen Einwanderer akzeptierten und dass sich unter den ungeprüften Neuankömmlingen aus Asien und Afrika Terroristen befänden. Tusks Partei lässt sich sogar dazu herab, im Internet Hetzmaterial zu verwenden, das Kritiker zusammen mit seiner Wahlkampftaktik als rassistisch bezeichnen.
Der Visa-Skandal ist noch lange nicht ausgestanden
In einem Spot von Anfang Juli sagte Tusk zum Beispiel: „Wir sehen schockierende Szenen von gewalttätigen Unruhen in Frankreich. Und gerade jetzt bereitet Kaczynski Maßnahmen vor, die noch mehr Bürger aus Ländern wie – ich zitiere: Saudi-Arabien, Indien, der Islamischen Republik Iran, Katar, den (Vereinigten) Arabischen Emiraten, Nigeria oder der Islamischen Republik Pakistan – nach Polen bringen könnten.“ Oder er erklärte, es sei die PiS-Regierung gewesen, die „die meisten muslimischen Migranten in der Geschichte“ nach Polen gelockt habe. Das stimmt. Die Frage ist jedoch, ob Tusk nicht die PiS bei der Stigmatisierung muslimischer Migranten imitiert.
Der Visa-Skandal ist noch lange nicht ausgestanden. Immer wieder kommen neue Fakten ans Licht. So hat sich beispielsweise herausgestellt, dass die Presse in Uganda bereits im Mai über die Korruption im polnischen Visasystem berichtete. Der ehemalige stellvertretende Außenminister Wawrzyk wurde wegen eines Nervenzusammenbruchs in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. In einem Abschiedsbrief schrieb er, dass er kein Empfänger von Bestechungsgeldern sei und nicht mit dem Stigma eines Verbrechers leben wolle. Er dachte angeblich über Selbstmord nach.
Die PiS kämpft um ihr Image
Die PiS verteidigt sich damit, dass beispielsweise im Fall der „indischen Filmemacher“ Kontrollen im Ministerium durchgeführt worden seien. Die Opposition hingegen behauptet, dass das System der Vermittler und der besonderen Modalitäten der Visaerteilung auf weitere Länder, darunter Saudi-Arabien, die Türkei und Pakistan, ausgedehnt werden sollte.
Gleichzeitig lieferten die polnischen Medien Beweise dafür, dass, obwohl Kaczynski wiederholt behauptet, er habe „Unregelmäßigkeiten mit einem heißen Eisen bekämpft und eliminiert“, nicht nur der entlassene stellvertretende Außenminister Wawrzyk und Mitarbeiter der unteren Ebenen in den Fall verwickelt waren, sondern auch der Außenminister Zbigniew Rau, der keine Konsequenzen fürchten muss und den die Regierung als unschuldig darstellt.
Die Partei Recht und Gerechtigkeit reagiert auf die Visa-Affäre, indem sie die Bedrohung durch die Migranten noch stärker herausstellt, indem sie regelmäßig Bilder von Lampedusa zeigt und damit droht, polnische Frauen könnten vergewaltigt werden und Geflüchtete auf den Straßen Polens randalieren. Die PiS möchte, dass die Partei weiterhin als eine Formation gesehen wird, die die polnischen Grenzen verteidigt und Korruption bekämpft.
Nazi-Vergleiche und Hetzkampagnen
Die Emotionen rund um Migration und Flüchtlinge werden durch die Regisseurin Agnieszka Holland und ihren erschütternden Film „Green Border“, der diese Woche in die Kinos kommt, weiter angeheizt. Darin zeigt Holland das Leiden von Flüchtlingen an der polnisch-weißrussischen Grenze, die Gewalt polnischer Grenzsoldaten und aggressive Zurückdrängungen. Damit sieht sich die PiS beleidigt, obwohl Agnieszka Holland für die Partei schon vorher ein Symbol für alles Böse war.
Justizminister und Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro hat Hollands Film – ohne ihn gesehen zu haben – mit Nazi-Propaganda verglichen. Regierungsnahe Wochenzeitungen zeigen Holland auf ihren Titelblättern. Angriffe von Politikern des Justizministeriums und des staatlichen Fernsehens sind regelmäßig zu vernehmen. Der Regisseurin wird vorgeworfen, ihr Film diene Putin und Lukaschenko – obwohl „Green Border“ auch deutlich zeigt, wie belarussische Soldaten Flüchtlinge schlagen, berauben und verletzen.
Die PiS ist weiterhin stärkste Kraft
Am Sonntag, den 17. September, fand in Suwałki, das in der Nähe der Grenzen zu Belarus, Litauen und der russischen Exklave Kaliningrad liegt, ein großes Konzert mit dem Titel „Gemeinsam verteidigen wir die polnischen Grenzen“ statt, an dem rappende Soldaten der Territorialen Verteidigungskräfte teilnahmen, einer neuen Art von Nationalgarde, die von der polnischen Regierung geschaffen wurde und zusammen mit dem polnischen Grenzschutz an der weißrussischen Grenze tätig ist. Dort wurde auch der Film öffentlich kritisiert.
Es stellt sich jedoch die Frage, ob Kaczynski wie auch Tusk die Bedeutung von Migrantenthemen im Wahlkampf nicht überschätzen. Bislang wurde im Wahlkampf zu wenig über die alltäglichen Probleme der Menschen gesprochen: Inflation und überhöhte Preise, die den Lebensstandard der Polen senken, Wohnungsprobleme und die Krise im Gesundheitswesen.








