Debatte

Wladimir Putins Sicherheitsinteressen folgen keiner rationalen Logik

Immer wieder heißt es, der Westen müsse Russlands Sicherheitsinteressen akzeptieren. Doch das Argument geht nicht auf. Ein Kommentar.

Wladimir Putin
Wladimir PutinPool Sputnik Kremlin

Neben der westlichen Zögerlichkeit bei der Lieferungen neuer Waffensysteme befeuern auch die aktiven Aufrufe zu Friedensverhandlungen und damit zu einem Einfrieren des Konfliktes die russischen antiwestlichen Fake-Narrative, verleiten Moskau zur Überzeugung, zahlreiche Verbündete im Westen zu haben, laden zum Ausharren ein und wirken sich aus diesem Grunde anstatt deeskalierenden stark konfliktbefeuernd aus.

Die „berechtigten“ russischen Sicherheitsinteressen

Insbesondere die gerade in Deutschland weitverbreitete Mär von objektiven russischen Sicherheitsinteressen, die vom Westen über zwei Jahrzehnte grob missachtet wurden und den „Ukrainekonflikt“ auslösten, stellt ein ernstzunehmendes Problem dar.

Im Rahmen der lügenhaften Erfahrungswelt des russischen Regimes zählt nicht die historische faktenbasierte Wahrheit, die es nach Überzeugung der obersten russischen Machtriege gar nicht geben kann, sondern ausschließlich die tiefe Überzeugung von der Wahrhaftigkeit der eigenen geistigen Konstrukte. Denn es ging Wladimir Putin bei der Invasion der Ukraine nie um die objektiven Sicherheitsinteressen Russlands. Überhaupt besteht der Krux an der Sache mit den „objektiven Sicherheitsinteressen Russlands“ ja gerade darin, dass diese „objektiven Sicherheitsinteressen“ mittlerweile durch Putin allein auf eine äußerst subjektive Weise definiert werden und außerhalb seiner Denkkonstrukte nicht zu bestehen vermögen.

Letztlich führt diese klandestine Herangehensweise Wladimir Putins zum schockierenden Ergebnis, dass selbst erfahrene und in den Machtstrukturen des heutigen Russlands hervorragend vernetzte russische Diplomaten die konkreten Bedingungen für ein Ende der Kriegshandlungen gegen die Ukraine unmöglich in Worte fassen können.

„Moscow Times“ berichtete am 26. Juli 2023 unter Verweis auf ein Mitglied der US-Delegation, von den Versuchen der USA gegenüber der russischen Führung Gesprächskanäle offen zu halten. Diese als Track-1,5-Diplomatie bekannten verdeckten Gespräche ermöglichen es beiden Seiten, die roten Linien der jeweils anderen Seite zu verstehen, potenzielle Konflikte zu entschärfen, und dienen als wichtiges Bindeglied zwischen offiziellen Regierungsverhandlungen (Track-1-Diplomatie) und inoffiziellen Expertendialogen (Track-2-Diplomatie). Einen wesentlichen Erkenntnisgewinn der bisherigen Verhandlungen fasst im ansonsten recht konfusen Gespräch mit „Moscow Times“ ein nicht näher genanntes Mitglied der US-Delegation wie folgt zusammen: „Sie [die Russen; Anm. des Autors] wissen nicht, wie sie Sieg oder Niederlage definieren sollen.“

Putins idealistische Selbstverblendung

Auch geht Wladimir Putin nicht ausschließlich um den eigenen Machterhalt, sondern vielmehr um das eigene Erbe und seinen persönlichen Platz in der russischen Geschichte als neuer glorreicher „Sammler der russischen Erde“.

Die einstige ideologische Flexibilität Wladimir Putins wurde – wohl auch unter dem pandemiebedingten Isolierungsdruck der vergangenen zwei Jahre – vom Gedanken der eigenen historischen Mission überschattet. Das sich oftmals ab- und jenseits historischer Faktenlage bewegende Geschichtsbild Wladimir Putins trat beim Gespräch mit jungen russischen Unternehmern und Wissenschaftlern im Vorfeld des Sankt Petersburger Internationalen Wirtschaftsforums öffentlichkeitswirksam zutage.

In der Gleichsetzung seiner Person mit Peter dem Großen offenbarte sich die Überzeugung des russischen Präsidenten vom Gedanken des eigenen historischen Auserwähltseins. In diese Missionsidee vertieft, krönt sich Putin – darin Napoleon Bonaparte gleichend – gleichsam selbst zum „rechtmäßigen“ quasi-monarchischen Herrscher ganz Russlands. Wirklich überraschend ist Putins Besessenheit mit dem imperialen Traum vom Russischen Reich gegen die Ukraine freilich nicht.

Ein zentrales Element dieses imperialen politischen Bewusstseins bildet ein durch handausgewählte geschichtliche Fakten begründeter Missionsgedanke des sogenannten Sammelns russischer Erde. Ursprünglich stand dieser Begriff für die räumliche Ausdehnung des Herrschaftsbereiches des Großfürstentums Moskau durch Eroberung und Eingliederung der Gebiete des unter dem Ansturm der Mongolen im 13. Jahrhundert zerfallenen mittelalterlichen altostslawischen Großreiches Kiewer Rus, dem historischen protostaatlichen Vorläufer der drei ostslawischen Staaten – Belarus, Russlands und der Ukraine.

Insofern geht die Argumentationslinie, wonach Russland ohnehin über genug Landmasse verfügt und keine weiteren Expansionen bedarf, weit am eigentlichen Thema vorbei. Jewgenij Anisimow, Professor an der Europäischen Universität Sankt Petersburg und führender Historiker der Petrinischen Epoche Russlands, attestiert im Interview mit „Novaya Gazeta. Europe“ der Vorstellung des Raumes eine besondere im Rahmen des russischen politisch-historischen Bewusstseins am meisten wertgeschätzte Bedeutung. Demnach hat die räumliche Ausdehnung Russlands für die Politik und Bevölkerung einen Selbstwert an sich. Denn allein die Tatsache, dass das Land so riesig ist, stellt bereits einen gewichtigen Grund zum Nationalstolz dar.

Ein falscher Frieden

Was die selbsternannten westlichen und in erster Linie deutschen Friedensritter nicht zu akzeptieren bereit sind, ist die wahre Denkweise der russischen Führung. Wie ihr geistiger Vorgänger, der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha, scheinen sie in der eigenen Erfahrungswelt gefangen zu sein und verweigern jedweden Kontakt zur Wirklichkeit und seien es auch die offiziellen Stellungnahmen russischer Führung selbst. Gegen die Gestalt bedrohlicher Riesen annehmende Windmühlen ihres Vorstellungsvermögens ankämpfend legen sie solcherart die Überzeugung an den Tag, dass im Falle der Akzeptanz objektiver und offenbar allein aus diesem Grunde berechtigter Sicherheitsinteressen Russlands die Invasion der Ukraine in kürzester Zeit beendet werden könnte, ja womöglich gar nicht erst stattgefunden hätte.

Im Scheinstreben nach einer friedlichen Lösung ist man offenbar auch bereit, nicht nur über die täglichen Terroruntaten Russlands in der Ukraine hinwegzusehen, sondern auch die unzähligen ahistorischen Behauptungen und offen antisemitischen Äußerungen der russischen Führung geflissentlich zu überhören.

Doch gerade letztere offenbaren den wahren Kern des russischen Regimes in all seiner Absurdität, Menschenverachtung und Widerlichkeit. Und dieser gleichsam integrationsfeste Kern des Regimes wird durch das Ende der Kriegshandlungen in der Ukraine und selbst im Falle der Wiederaufnahme des offiziellen Austausches und Kooperation mit Moskau keinesfalls verschwinden. Doch was tut man denn nicht alles um des lieben Friedens willen. Und selbst der eigene Wertekompass kann für hehre Ziele anstands- und bedenkenlos übers Knie gebrochen werden.

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