Serie „Ab wann bin ich arm?“

Nina (30) ist arm: „Mein Leben, das ich als Kind hatte, wiederholt sich gerade“

Die Berlinerin wuchs mit einer alleinerziehenden Mutter ohne Geld auf. Sie sitzt trotz Studiums wieder in der Armutsfalle. „Ab wann bin ich arm?“ – Teil 11 der Serie.

Die Serie „Ab wann bin ich arm“, diesmal mit Nina (30) aus Neukölln
Die Serie „Ab wann bin ich arm“, diesmal mit Nina (30) aus NeuköllnFoto: Johny Goerend/Unsplash. Grafik:Pajović/BLZ

Nina K. hat seit langem mal wieder eine ruhige Nacht verbracht, ihre Tochter hat durchgeschlafen. Sie klingt erleichtert, als sie es erzählt. Manchmal kriegt die Kleine Wutanfälle, schmeißt sich auf den Boden und die 30-Jährige versucht, sie zu beruhigen und abzulenken. „Sie ist sehr agil, es ist gerade ein Vollzeitjob mit ihr.“ Sie erzählt es liebevoll. Täglich geht sie mit ihrer zweijährigen Tochter raus, damit sie rennen und toben kann. Jetzt spielt das Mädchen ruhig in einer Ecke im Wohnzimmer, schleicht sich immer wieder ran, um ihre Mutter zu kneifen. „Das ist ganz neu, das macht sie ständig.“ Die Berlinerin, die anonym bleiben möchte, lächelt.

Nina ist 30 Jahre alt und alleinerziehend. Von ihrem Freund trennte sie sich kurz nach der Geburt ihrer Tochter Maria. Seitdem ist sie auf sich allein gestellt, der Vater zahlt Unterhalt, sagt die zierliche Frau mit den langen blonden Haaren. „Ich komme klar, es ist aber auch nicht immer einfach, es ist eben eine Doppelbelastung.“

Sie lebt in Neukölln in einer 51 Quadratmeter großen Wohnung. Für die zahlt sie 592 Euro, die Nebenkosten liegen derzeit bei 31 Euro. Sie ist runtergestuft worden, weil sie so wenig verbraucht hat, erzählt die junge Mutter, die derzeit in Elternzeit ist.

Im Alltag dreht sich derzeit alles um ihre Tochter. Morgens geht sie mit ihr raus, damit sich die Kleine austoben kann, danach macht Maria einen Mittagsschlaf, nachmittags spielen sie, abends, wenn das Mädchen schläft, räumt die Berlinerin die Wohnung auf, spült das liegen gebliebene Geschirr und räumt es in die Schränke. Danach setzt sie sich meistens an den Computer, sucht nach Jobs oder schreibt Mails. Gerade hat sie für Oktober eine Zusage für einen Kitaplatz bekommen.

Ich muss jeden Tag aufs Neue wirtschaften.

Nina K. über ihre Situation als alleinerziehende Mutter

Sie hofft, dass sie dann vielleicht wieder arbeiten gehen kann. Wie es weitergeht, weiß sie derzeit noch nicht. Nina ist studierte Grafikdesignerin. Bis kurz vor der Geburt arbeitete sie in einem Büro. Seit sie Mutter ist, ist sie daheim – und vom Jobcenter abhängig. Monatlich erhält sie 1004 Euro sowie 250 Euro Kindergeld und 378 Euro Unterhalt vom Kindsvater. Geld zum Ausgeben bleibt ihr kaum. „Ich muss jeden Tag aufs Neue wirtschaften“, sagt sie.

Übrig bleiben ihr nach Abzug aller Kosten etwa 400 Euro. „Viele sagen ja immer, das muss reichen. Doch in der Praxis sieht das anders aus.“ Bis vor kurzem hatte sie noch 150 Euro mehr dank Elternzeit.

Doch das Elterngeld Plus endete für sie nach 22 Monaten, die Leistungsbewilligung für das dritte Elternzeitjahr, das ihr zusteht, bekam sie vom Jobcenter sofort erteilt. „Anfangs hatte ich Anspruch auf 550 Euro Elterngeld, seit dem Erhalt des Bürgergeldes blieb nur noch ein Freibetrag von 150  Euro, jetzt erhalte ich nichts mehr. Diese 150 Euro fehlen natürlich. Das klingt für andere wie eine klägliche Summe, für mich aber ist es viel.“

In der Debatte dazu ärgert sie die soziale Schieflage, die dann immer so deutlich wird. Da gehe es darum, ob Paare mit einem Einkommen über 150.000 Euro den Zuschuss erhalten sollen. Ganz viele setzten sich dafür ein. Die Politik streite lautstark darüber. Doch andere, die an der Armutsgrenze leben, haben kaum eine Stimme, sagt sie.

Die Mutter mag es ebenfalls nicht, wie die Politik mit der jetzt geplanten Kindergrundsicherung umgeht, die ab 2025 alle sozialen Leistungen für Kinder bündeln und dann online beantragt werden soll. Dass manche Politiker sagen, dass man den Eltern nur kein Geld überweisen darf, weil es nicht bei den Kindern ankommt. Das ärgert sie. „Das ist eine Stigmatisierung“, sagt sie und schüttelt den Kopf und lacht sarkastisch auf. „Ich möchte gerne wieder arbeiten und meinem Kind ein gutes Leben bieten.“

Die Serie „Ab wann bin ich arm?“
Deutschland streitet über die Frage, wer arm und wer reich ist. Was ist ein gutes Einkommen? Darüber wurde kürzlich wegen der geplanten Elterngeldreform debattiert. Die 150.000 Euro zu versteuerndes Einkommen, bei denen der Bezug künftig gedeckelt werden soll, seien gar nicht so viel, argumentierten Betroffene. Doch die allermeisten Deutschen haben laut Statistik geringere Einkommen. Und viele haben seit Corona, dem Krieg in der Ukraine und den dadurch gestiegenen Lebenshaltungskosten noch weniger Geld zur Verfügung. Wir haben daher nachgefragt, wie Berliner und Berlinerinnen ihre finanzielle Lage sehen. Und was es für sie bedeutet, arm zu sein. Einige bleiben auf Wunsch anonym.
Wenn auch Sie uns Ihre Lage schildern möchten, schreiben Sie uns: Leser-blz@berlinerverlag.com

Nina kann derzeit nicht mehr als 10 Euro am Tag ausgeben. Es sind oft Kleinigkeiten des Alltags, die ein Loch in die Haushaltskasse reißen. Wenn Toilettenpapier, Waschmittel oder Windeln auf einmal ausgehen, kommt sie ins Schleudern. „Dann wird es eng. Die Großpackung Toilettenpapier kostet inzwischen bis zu 7 Euro, Waschmittel um die 6 Euro, Windeln kosten ebenfalls 5 bis 6 Euro. Es ist echt nicht günstig.“

Wenn plötzlich etwas Ungeplantes ansteht, überlegt sie spontan, ob sie sich das leisten kann, selbst bei Medikamenten, wenn sie krank ist. Viele werden von der Kasse nicht mehr übernommen. Als sie Maria freiwillig gegen Hirnhautentzündung impfen ließ, musste sie 170 Euro vorstrecken. Die Kasse zahlte ihr den Betrag nach zwei Wochen zurück. „Mir fehlt das Geld dann und ich verstehe nicht, warum diese Leistung erst ausgelegt werden muss, obwohl eh ein Recht auf Kostenübernahme besteht. Wie so oft hangele ich mich von Situation zu Situation.“

Berlinerin: Ich kann nicht mal eben für 70 Euro einkaufen

Täglich studiert sie daher Sonderangebote. „Ich muss halt sehen, wo was günstig ist.“ Besserverdienende könnten gleich einen ganzen Wagen mit günstigen Waren vollladen, sagt sie. „Ich kann das nicht, mal eben für 70 Euro Angebote kaufen.“ Sie möchte sich jetzt bei der Tafel anmelden, weil sie es nicht mehr so richtig hinbekommt, sagt sie. „Doch die ist total überlaufen, es ist schwierig, dort aufgenommen zu werden.“

Sie lächelt. „Als ich mir damals vorgestellt habe, wie es ist, Mutter zu sein, habe ich mir fest vorgenommen, dass immer gesundes Essen auf den Tisch kommt, mein Kind kein schadstoffbelastetes Spielzeug in die Finger kriegt. Heute kann ich nicht mal sagen, wenn eine Sandale kaputt geht, ich kaufe gleich eine neue. Wirklich gesundes Essen kann ich mir auch nicht leisten. Ich kann auch nichts verschwenden.“

Abends gibt es Schnittchen mit Tomate und Gurke

Sie kocht viele Nudel-, Reis- und Kartoffelgerichte, abends gibt es Schnittchen mit Tomaten und Gurke, manchmal einen Auflauf oder Bulletten. „Aber ganz selten. Fleisch ist zu teuer geworden.“ Statt Fisch brät sie ihrer Tochter Fischstäbchen. „Da bin ich nicht stolz drauf, aber es geht nicht anders, und das ist auch bitter. Man lebt nicht einfach unbelastet in den Tag hinein, weil man ständig finanzielle Sorgen hat.“

Für die 30-Jährige ist das ein Déjà-vu. „Ich bin selber bei einer alleinerziehenden Mutter ohne Vater aufgewachsen. Sie ist damals aus der Vollzeit raus und war von Transferleistungen abhängig. Nun wiederholt sich das 30 Jahre später, was meine Mutter schon erlebt hat.“

Als sie noch ganz klein war und auf die Grundschule ging, habe sie das nicht so gespürt. „Das hat meine Mutter von mir abgeschirmt.“ Auf dem Gymnasium später merkte sie den Umgang mit ärmeren Menschen umso mehr. „Da gab es so Erlebnisse, dass eine Lehrerin mal meine Mutter fragte, ob ich auch täglich eine warme Mahlzeit bekomme?“ Dieses Klischeedenken, das Kind kommt doch aus armen Verhältnissen und muss nur verzichten.

Die Berlinerin regt das bis heute auf. „Entsprechend fühlt man sich natürlich auch.“ Sie fügt hinzu: „Wenn du kein Geld hast, musst du immer Anträge stellen, um soziale Leistungen zu erhalten. Das begleitet mich seit der Kindheit.“ Wenn sie als Kind an einer Klassenfahrt teilnehmen wollte, musste ihre Mutter beim Schulleiter einen Zettel ausfüllen. „Automatisch weiß dann jeder, ah, das Kind ist auch arm.“

Weil sie sich kaum etwas leisten und an vielen Freizeitaktivitäten von Mitschülern wie dem Besuchen von Cafés oder Konzerten nicht teilnehmen konnte, erlebte sie zudem Ausgrenzung. „Nach dem Abi wollte ich dann unbedingt studieren, um später ein gutes Gehalt zu haben und mir endlich auch etwas leisten zu können.“

Berlinerin finanzierte sich das Studium über einen Kredit

Die Semester musste sie sich allerdings mit einem Studienkredit finanzieren. Einen Anspruch auf Bafög hatte sie nicht, weil ihr Vater, mit dem sie nie Kontakt hatte, zu viel verdiente. Den Kredit zahlt sie bis heute zurück. „Ich wollte studieren, um aus dieser Armutsfalle rauszukommen – und nun bin ich wieder drin.“

Damals, nach ihrem Abschluss, sah es erst mal gut aus. Nachdem die Neuköllnerin das Studium abgeschlossen hatte, erlebte sie die erste sorgenfreie Zeit, wie sie erzählt. „Ich hatte einen Job, verdiente 1930 Euro netto, was damals sehr viel Geld für mich war, und ich war unabhängig. Ich konnte mir ein relativ gutes Leben machen. Da dachte ich, okay, ich habe es geschafft, bin raus aus der Armutsfalle.“

Doch dann lernte sie ihren Freund kennen, wurde schwanger. Das Paar trennte sich, weil mit Kind plötzlich alles anders war und die Beziehung nicht mehr funktionierte. „Und alles fing von vorne an. Mit Kind, mehr Verantwortung und wenig Geld.“ Sie seufzt.

Bislang arbeitete die Berlinerin in einem privaten Büro, doch dort gibt es kaum flexible Arbeitszeiten, kein Homeoffice oder anderes, was Alleinerziehenden hilft, Job und Kind unter einen Hut zu bekommen. Sie möchte sich jetzt eine kinderfreundlichere Stelle suchen, vielleicht im öffentlichen Dienst. „Ich brauche halt einen fairen, menschlichen Arbeitgeber, der einem nicht unterstellt, dass ich nur, weil ich alleinerziehend bin, nicht arbeiten kann. Nur leider bin ich als Alleinerziehende nicht gerade eine Wunschkandidatin.“

Sie fragt sich oft, warum das so ist? Vor allem, dass sich nach den Jahrzehnten kaum etwas geändert hat. Dass sie nun das Gleiche wie ihre Mutter erlebt. Warum es diese Ausgrenzung gibt? „Man muss sich doch nicht schämen. Es ist halt so, dass sich viele, gerade Alleinerziehende, nicht mehr leisten können, was für andere zum Alltag dazugehört“, sagt sie. Es sei schwer, diesem Teufelskreis zu entfliehen. „Das geht in der Schule los, dass wohlhabende Eltern Kindern Nachhilfeunterricht bezahlen können, wir konnten uns das nicht leisten.“ Oder damit, dass vermeintliche Bekannte einem Kinderkleider schenken, die voller Löcher sind. Das findet sie respektlos. „Das macht was mit dem Selbstwertgefühl.“

Der Umgang mit ärmeren Menschen ist für sie fragwürdig. „Viele denken, gut, dann fährt sie eben nicht in Urlaub oder kann sich keinen Wintermantel leisten. Dabei muss ich auch auf Kleinigkeiten verzichten, die für andere ganz normal sind.“ Sie musste gerade Netflix abmelden, weil sie die 8 Euro nicht mehr zahlen kann. Ihr Toaster ist seit längerem kaputt, sie kann ihn nicht ersetzen. Einen Friseur kann sie sich ohnehin nicht leisten.

Berlinerin wünscht sich ein besseres Leben für ihre Tochter

Wenn sie mit ihrer Tochter unterwegs ist, kann sie nicht mal eben ein belegtes Brötchen oder eine Brezel holen. „Unter 1,70 Euro bekommt man beim Bäcker auch nichts mehr.“ Ab und an kauft sie ein Eis für ihre Tochter, wenn sie mit ihr spazieren geht, meistens vertröstet sie sie aber auf daheim. Dort liegt eine Großpackung im Tiefkühlfach. „Es geht schon im Kleinen mal, aber es ist halt immer mit Einschränkungen woanders verbunden. Dann fehlt es an einer anderen Stelle.“

Sie möchte auf keinen Fall, dass ihre Tochter das auch so erlebt. „Ich wollte immer ein Kind, daher werde ich alles tun, dass sie einen guten Start ins Leben bekommt.“ Das habe ihre Mutter ihr auch immer gewünscht. „Sie ist oft sehr traurig und sagt, Kind, jetzt befindest du dich in der gleichen Situation wie ich damals.“