Argentinien rückt nach rechts. Was das für die Zukunft des krisengebeutelten Landes bedeutet, ist im Moment nicht vollständig absehbar. Am Sonntag gewann der „Anarchokapitalist“ Javier Milei die zweite Runde der Präsidentenwahl deutlich.
Nach Auszählung von 99 Prozent der abgegebenen Stimmen lag der Ökonom, der sich als Außenseiter inszeniert, bei fast 56 Prozent und damit mehr als zehn Punkte vor seinem Konkurrenten Sergio Massa, der für die Regierungskoalition angetreten war. Rund drei Millionen Stimmen entspricht der Vorsprung des 53-jährigen Milei. Insgesamt gaben 76 Prozent der Berechtigten ihre Stimme ab. Umfragen hatten ein deutlich knapperes Ergebnis vorhergesagt.
Armut in Argentinien: Fast jeder Zehnte ist obdachlos
Triumphierend erklärte Milei nach der Bekanntgabe des Ergebnisses: „Heute ist ein historischer Abend für Argentinien. Heute beginnt der Wiederaufbau Argentiniens.“ Vor Anhängern in der Hauptstadt Buenos Aires fügte er hinzu: „Heute endet das Verarmungsprogramm des allgegenwärtigen Staates. Heute umarmen wir wieder die Ideen der Freiheit.“ Der unterlegene Massa, der in der amtierenden Regierung Wirtschaftsminister ist, erkannte noch am Wahlabend seine Niederlage an.
Der Wahlkampf, der mit der Kampagne zu den Vorwahlen im August eingeläutet worden war, wurde von der schweren Wirtschaftskrise bestimmt, in der sich Argentinien befindet. Die jährliche Inflation der viertgrößten Volkswirtschaft Lateinamerikas lag im Oktober bei 142 Prozent, die Gefahr einer Hyperinflation ist groß. Laut Statistiken von Ende September leben mittlerweile rund 40 Prozent der 46 Millionen Argentinier unterhalb der Armutsgrenze. Fast ein Zehntel der Bevölkerung hat kein Dach über dem Kopf.
Alles andere als ein einfaches Terrain also für den amtierenden Wirtschaftsminister, wie der Wahlsonntag eindrücklich gezeigt hat. Vor der versammelten Presse erklärte Massa am Sonntagabend an Milei gerichtet: „Ab morgen liegen die Verantwortung und die Aufgabe, Sicherheit und Garantien für das politische, soziale und wirtschaftliche Funktionieren zu vermitteln, beim gewählten Präsidenten.“ Der wies die Verantwortung indes von sich: „Die Regierung hat bis zum Ende ihrer Amtszeit das Sagen.“ Der derzeitige Präsident Alberto Fernández kündigte an, sich noch am Montag mit Milei treffen zu wollen, um einen geordneten Machtwechsel zu besprechen.
Das künftige Staatsoberhaupt übernimmt die Amtsgeschäfte am 10. Dezember. Am Sonntag erklärte Milei: „Die Situation in Argentinien ist kritisch. Die Veränderungen, die unser Land braucht, werden drastisch sein.“ Es gebe „keinen Platz für Gradualismus, keinen Platz für Unentschlossenheit, keinen Platz für halbe Sachen“. Sollten nicht bald „drastische Maßnahmen“ eingeleitet werden, steuere das Land auf „die schlimmste Krise seiner Geschichte zu“, so der künftige Präsident weiter.
Kahlschlag: Wahlsieger Javier Milei will Sozialprogramme beenden und Ministerien schließen
Was Milei unter „drastischen Maßnahmen“ versteht, hatte er im Wahlkampf klargemacht. Sein neoliberales Programm sieht insbesondere eine drastische Reduzierung der Staatsausgaben vor – und damit einen Kurs, der das Gegenteil der Mitte-links-Regierung von Fernández darstellt. Geplant ist unter anderem eine Streichung von zehn Ministerien, von den derzeit 18 sollen nur acht übrigbleiben. Die öffentlichen Ausgaben sollen um mindestens 15 Prozent gekürzt werden, Subventionen beispielsweise auf Strom oder Gas ganz gestrichen und nahezu alle Staatsunternehmen sowie das Bildungs- und das Gesundheitssystem privatisiert werden.
Wie das in der Praxis durchsetzbar sein soll, ist unklar. Laut der Wirtschaftsagentur Bloomberg war Ende des vergangenen Jahres mindestens die Hälfte der argentinischen Bevölkerung auf Leistungen aus staatlich finanzierten Zusatzeinkommens- und Beschäftigungsprogrammen angewiesen. Höchstwahrscheinlich ist der Anteil heute sogar noch einmal gestiegen. Der Wegfall der Sozialprogramme würde für große Teile der Bevölkerung noch mehr Armut und Elend bedeuten.
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Am Sonntagabend betonte Milei: „Das Modell der Dekadenz ist zu Ende, es gibt kein Zurück mehr.“ Seinen Gegnern drohte er: „In diesem neuen Argentinien gibt es keinen Platz für Gewalttätige. Wir werden unerbittlich sein gegenüber denen, die Gewalt anwenden wollen, um ihre Privilegien zu erhalten.“
Im Wahlkampf hatte Mileis Kandidatin für die Vizepräsidentschaft, Victoria Villaruel, angekündigt, sie werde die Ausgaben für Polizei und Militär deutlich erhöhen, so sollte den Streitkräften künftig zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts statt den derzeitigen 0,8 zur Verfügung stehen. Villaruel, die aus einer Familie hochrangiger Militärs kommt, erntete außerdem Kritik, da sie die Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur (1976–1983) regelmäßig relativiert und beispielsweise die Zahl von offiziell 30.000 Ermordeten infrage stellte.
Von seinen schrillsten Forderungen war Milei in den letzten Wochen vor der Stichwahl in Teilen abgerückt – so beim Thema freies Tragen von Waffen oder freier Organhandel. Beobachter sahen darin den geglückten Versuch, Wähler für sich zu gewinnen, die zuvor für die konservative Kandidatin Patricia Bullrich gestimmt hatten. In der ersten Wahlrunde am 22. Oktober war Milei mit knapp 30 Prozent der Stimmen nur auf dem zweiten Platz hinter Massa gelandet. Allerdings dauerte es keine 24 Stunden, bis der frühere konservative Präsident Mauricio Macri (2015–2019), dessen Kandidatin Bullrich mit fast 24 Prozent nur Dritte geworden war, Milei seine Unterstützung aussprach. Dieser Schulterschluss dürfte schlussendlich entscheidend für Mileis deutlichen Wahlsieg gewesen sein.
Mileis Regierungsprogramm: Dollar als Währung einführen, Zentralbank „in die Luft jagen“
Am Sonntag erklärte Macri auf dem Kurzbotschaftendienst X: „Es besteht kein Zweifel, dass heute eine neue Ära beginnt.“ Die aktuelle Regierung und insbesondere Wirtschaftsminister Massa trügen „die Verantwortung für das wirtschaftliche Desaster“ und übergäben nun „ein kaputtes Land“. Unerwähnt ließ Macri die Tatsache, dass er als Präsident im Jahr 2018 einen Rekordkredit in Höhe von 57 Milliarden US-Dollar beim Internationalen Währungsfonds (IWF) aufgenommen hatte. Seitdem läuft Argentinien dem riesigen Schuldenberg hinterher. Massa war als Wirtschaftsminister im vergangenen Jahr für einen Deal mit dem IWF verantwortlich, mit dem die Rückzahlung des Kredits neu geregelt wurde. Für den Fall seines Sieges hatte er in den vergangenen Wochen angekündigt, in Washington erneut über die Rückzahlungsmodalitäten verhandeln zu wollen.
Die Allianz, die Milei mit der traditionellen Rechten von Macri eingegangen ist, zeigt: Die Selbstdarstellung als Rebell, Außenseiter und „Anti-Politiker“, die ihm viele Sympathien bei den vom etablierten Politbetrieb frustrierten Argentiniern eingebracht hat, ist mittlerweile nicht mehr als Attitüde. Im Parlament wird er auf die Stimmen der von ihm als „politische Kaste“ beschimpften Abgeordneten angewiesen sein, will er Gesetze durchbringen. Über eine eigene Mehrheit verfügt Mileis „La Libertad Avanza“ nicht annähernd: Nur acht der 72 Senatoren gehören zu Mileis Partei. Im Abgeordnetenhaus verfügen die „Liberalen“ über 37 vor 257 Sitzen.
Auch deshalb sind sich Beobachter unschlüssig darüber, wie Milei seine Regierungspolitik gestalten wird. Besonders Versprechen wie die argentinische Zentralbank „in die Luft zu jagen“ und den abgewerteten argentinischen Peso durch den US-Dollar zu ersetzen, dürften nicht ohne weiteres umsetzbar sein. Bereits vor der ersten Runde hatte es aus dem IWF Stimmen gegeben, die an der Durchsetzbarkeit einer Dollarisierung Zweifel anmeldeten. Der Umstand, dass die argentinische Zentralbank über fast keine internationalen Reserven verfügt, macht die Umsetzung des Vorhabens noch unwahrscheinlicher.
Gerade außenpolitisch kommt der Wahlsieg von Milei einem Erdbeben gleich. Massa setzte auf Kontinuität mit dem Kurs der Fernández-Regierung, die sich in den vergangenen Jahren weiter an die mittlerweile wichtigsten Handelspartner Brasilien und China angenähert hatte. Erst kürzlich griff die Volksrepublik dem angeschlagenen Argentinien mit einem Reserventausch der Zentralbanken beider Länder unter die Arme.
Milei versprach im Wahlkampf indes eine enge Orientierung an den USA, Israel und der „freien Welt“. Eine Kooperation mit den von ihm als „kommunistisch“ bezeichneten Regierungen in Peking und Brasilia lehnt er ab. In der Vergangenheit forderte er sogar, den Handel mit China zu verbieten – was einem Himmelfahrtskommando gleichkäme. Die Volksrepublik ist nach Brasilien der zweitwichtigste Handelspartner Argentiniens. 2022 betrug das Gesamthandelsvolumen mit China 25,42 Milliarden US-Dollar. Die meisten argentinischen Importe kamen aus China, bei den Exporten stand das Land sogar an erster Stelle.
Mercosur-Freihandelsvertrag mit der EU steht vor dem Aus
Weitere Fragezeichen stehen hinter der Mitgliedschaft Argentiniens im südamerikanischen Wirtschaftsraum Mercosur, zu dem auch Brasilien, Uruguay und Paraguay gehören und der derzeit versucht, sich auf einen Freihandelsvertrag mit der EU zu einigen, sowie der argentinischen Aufnahme in den Brics-Verbund, die für den 1. Januar geplant ist.
Noch am Sonntag beglückwünschte der US-Außenminister Antony Blinken Milei zu seinem Wahlsieg. Er freue sich auf die Zusammenarbeit „bei gemeinsamen Prioritäten, die den Menschen in unseren beiden Ländern zugutekommen“, und hoffe auf ein „verbessertes Investitionsklima“. Der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva betonte, er werde immer bereit sein, „mit unseren argentinischen Freunden zusammenzuarbeiten“. Und auch aus China kamen versöhnliche Töne. So erklärte der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Mao Ning, Peking wolle mit Argentinien zusammenarbeiten, „um die Freundschaft zwischen den beiden Ländern weiter auszubauen“.






