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China-Experte Wolfram Elsner: „Der Westen ist überall erkennbar im Niedergang“

Im Wettstreit der Supermächte USA und China geht es auch um eine Neujustierung der Weltordnung. Im Interview erläutert der Ökonom Wolfram Elsner den geopolitischen Konflikt.

Aufmarsch im Indopazifik: Flugzeugträger der U.S. Navy ziehen ihre Kreise vor China.
Aufmarsch im Indopazifik: Flugzeugträger der U.S. Navy ziehen ihre Kreise vor China.U.S. Navy/AP

Herr Elsner, der Konflikt zwischen der Volksrepublik China und den USA ist international spürbar. Die Spannungen wurden auch beim Treffen von Joe Biden und Xi Jinping beim Gipfel der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (Apec) in San Francisco sichtbar. Welche globale Bedeutung hat die Apec eigentlich?

Die Apec wurde bereits 1989, noch zur Hochzeit des monopolaren Weltsystems und dem Ende der Sowjetunion als hegemoniales Projekt der USA, gegründet, seit 1991 dann auch unter Mitgliedschaft Chinas. Washington hatte unter Präsident Barack Obama 2011 die Asien-Pazifik-Region zu seiner zentralen Interessen- und Einflusssphäre erklärt. Das Weiße Haus nannte die Strategie „Schwenk nach Asien“ („Pivot to Asia“), mit deutlichen Anti-China-Akzenten. Der Isolationist und Nato-Skeptiker Donald Trump hatte sich 2017 aber aus dem Transpazifischen Handelsabkommen TPP, das zahlreiche Pazifik-Anrainer gegen China verbünden sollte, Knall auf Fall zurückgezogen.

Was waren die direkten Folgen für China?

China strahlt wirtschaftlich und diplomatisch immer weiter in seine asiatisch-pazifische Nachbarschaft aus: Es ist integraler Bestandteil der Vereinigung südostasiatischer Länder (Asean), Indien und Russland sind mit China Gründungsmitglieder der Brics und der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO), mit jeweils mehr als 20 Kandidatenländern. Das von China angestoßene globale Infrastrukturprojekt der Neuen Seidenstraße vereint zahlreiche Partner und immer mehr integrierende Projekte auch in Südostasien. Und seit 2020 arbeitet die südostasiatische Freihandelszone RCEP mit China als wichtigstem Promotor und nicht nur mit verbaler Anerkennung der klassischen Freihandelsprinzipien der WTO ausgesprochen erfolgreich. Sie hat erkennbar Südostasien zum dynamischsten Zentrum und Wirtschaftsmotor der Welt gemacht. China trägt inzwischen 33 Prozent zum Wachstum des Weltsozialprodukts bei. Eine jahrtausendealte historische Normalität in den globalen Strukturen setzt sich wieder durch. 400 Jahre alter euro-angelsächsischer Kolonialismus, Imperialismus und autistische Selbstzentriertheit werden sich bald als Ausnahmefall der Geschichte erweisen.

Sie sagen, die Apec wurde als hegemoniales Projekt der USA gegründet. Glauben Sie, die Wirtschaftsgemeinschaft wird sich strategisch heute noch gegen die Volksrepublik positionieren können?

Als geostrategisches Konzept gegen China wird sie nicht länger erfolgreich sein können und dann weiterhin ein randständiges Dasein führen. Ob die USA ihre Narrative und Dramaturgien noch umschreiben und an die veränderte Weltlage anpassen können, ist fraglich. Wir sehen eine Verschiebung hin zu einer multipolaren Weltordnung, eine symmetrische Anerkennung des Völkerrechts sowie die Anerkennung der klassischen Prinzipien eines freien, gleichberechtigten Welthandels durch die Apec. Dies verdeutlicht die Tatsache, dass der Westen überall erkennbar im Niedergang ist. Wirtschaftlich und diplomatisch steht er mit dem Rücken zur Wand und bietet keine Leitbilder für eine multipolare Welt. Ein Unternehmen, das Marktanteile verliert, setzt sich mit seinen Fachleuten hin, macht Hausaufgaben und überarbeitet seine Marktstrategie, statt zum Hauptquartier des Konkurrenten zu rennen und herumzuballern. Der US-geführte Westen aber scheint diesen Lernpunkt verpasst zu haben.

Im Zentrum der globalen Aufmerksamkeit stand bei dem Apec-Gipfel das Treffen von US-Präsident Joseph Biden mit Chinas Präsidenten Xi Jinping. Gehen Sie davon aus, dass durch die persönliche Begegnung der beiden Regierungschefs die anhaltenden Spannungen abgebaut oder reduziert werden können?

Es ist natürlich immer gut, wenn sich Biden und Xi treffen und reden. Der Volksmund weiß: „Solange geredet wird, wird nicht geschossen.“ Zumindest atmosphärische Verbesserungen sind möglich, und sie sind nicht zu unterschätzen, um die zahlreichen Kriegstreiber dieser Welt ein bisschen in die Defensive zu bringen. Im Übrigen ist substanziell nicht viel zu erwarten. Vielleicht ein Rahmenabkommen über die Regelung von KI-Anwendungen, zum Beispiel in Militärtechnologien – eine der drei großen chinesischen globalen Initiativen in der Uno zu Sicherheit, Entwicklung und Zivilisation, denen sich jeweils mehr als 100 Länder angeschlossen haben.

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Bei den Konfliktherden im Indopazifik und in Taiwan sehen Sie keine Entspannung?

Angesichts der Tatsache, dass die USA vor den Stränden Chinas permanente Militärmanöver durchführen und in alle asiatischen Meeresstraßen Flugzeugträgerflotten stationieren, dürfte Biden mit seinem erklärten Wunsch, „die Kommunikation zu verbessern“, bei Xi nicht wirklich überzeugen. Man muss wissen, dass 80 Prozent des chinesischen maritimen Warentransports die Region durchlaufen, aber nur zwei Prozent der USA.

Seit Jahren klaffen Erklärungen und Taten in Washington immer weiter auseinander. Obwohl Außenminister Antony Blinken jüngst verbal die UN-Resolution 2758 aus dem Jahr 1971, in der die Ein-China-Politik geregelt ist, anerkannt hat, wird gleichzeitig der Washingtoner hybride Krieg gegen China weiter angeheizt. Die USA gehen mit einem Chip-Krieg und politisch angeordneten Desinvestitionen in China, neu gebauten Militärbasen um China herum und der Drangsalierung chinesischer Wissenschaftler und Studenten in den USA gegen das Land vor.

Wie wird sich das kommende Wahljahr in den USA auf die China-Strategie-Washingtons auswirken?

Bei Biden ist erkennbar schon zu viel Vorwahlkampf für 2024 mit drin. Natürlich hätte er es gern, dass China ihm ohne Gesichtsverlust aus seinem verlorenen Ukraine-Krieg heraushilft, um den Washingtoner bellizistischen Politzirkus zu befriedigen. Viele Strategen in Washington wollen endlich alle amerikanischen Militärkräfte vor den chinesischen Küsten konzentriert sehen. Aus durchsichtigen innenpolitischen Wahlkampfgründen will Biden offenbar Xis Zusage für ein Verbot chinesischer Fentanyl-Exporte in die USA mit nach Hause bringen, um dann zu Hause die US-Opioid-Krise mit fast einer Million Drogentoten wahlkampftaktisch quasi China in die Schuhe schieben zu können.

Mit solchen Tricksereien wird es aber nicht viel werden mit den Gesprächen. Wegen der zunehmenden Isolation der USA im arabischen Raum und in der muslimischen Welt insgesamt würde Biden natürlich auch gern durch ein paar Vereinbarungen mit Xi sein Verhältnis zum Nahen Osten verbessert sehen. Aber den weltweiten Trend gegen die amerikanische Hegemonie hin zu einer gleichberechtigten Multipolarität wird Biden mit einem isolierten Akt der Diplomatie in einem Meer von hybriden Kriegsaktionen nicht einmal verlangsamen können.

Um den Weltfrieden zu sichern, müssten beide Staaten „Wege finden, miteinander klarzukommen“, erklärte Xi schon im vergangenen Jahr, bezüglich des Verhältnisses zwischen den USA und der Volksrepublik. Ist die amerikanische Regierung daran interessiert?

Die Handlungsoptionen der USA und ihrer Verbündeten sind erkennbar eingeschränkt. Das Scheitern in Afghanistan, im Irak, in Syrien usw. wirkt in der Welt nach. In Washington selbst schreit der überkochende Politzirkus nach „Krieg gegen China“. Der Ukraine-Krieg dagegen ist praktisch verloren und die Ausdehnung der Nato in das Vorland von Moskau hinein gescheitert. Jegliche weltpolitische Initiative der USA geht in letzter Zeit in die Hose.

Ist das neue Selbstbewusstsein des globalen Südens aber nicht nur eine Momentaufnahme?

Der Westen rutscht auf einem großen Sägeblatt abwärts: Taktische Befreiungsschläge bringen kurzfristige Vorteile, um mittelfristig die strategischen Nachteile umso deutlicher hervortreten zu lassen. Der Krieg gegen Palästina ist der jüngste geopolitische Paradefall: Die Unterstützung Israels, von der mächtigen Washingtoner Israel-Lobby vorgeschrieben, lässt die USA mächtige Verbündete nicht nur im arabischen Raum verlieren und schweißt alte Feinde gegen den Westen zusammen. Vom Washingtoner Hauptjünger EU redet in der Welt ohnehin kaum noch jemand. Zu einem strategischen U-Turn hin zu glaubwürdigem Frieden, zu Verhandlungen und Kooperation scheint der Westen nicht mehr in der Lage zu sein. Umso wichtiger, dass China offen bleibt für jede noch so kleine konstruktive Wende in Washington und ständig Gesprächs- und Kooperationsangebote macht.

Mit Australiens Premierminister Anthony Albanese ist Xi bereits zu Beginn der letzten Woche zusammengetroffen. Das Ergebnis ist eine Art Tauwetter zwischen Canberra und Peking. Lässt sich diese „Vieraugendiplomatie“ auch auf andere Staaten übertragen, beispielsweise durch ein Treffen zwischen den Regierungschefs von China und Japan in San Francisco?

Albanese hat aus jüngsten Erfahrungen gelernt, dass er den Karren mit China nicht voll gegen die Wand fahren sollte, wie es sein rechter Vorgänger und Klimaleugner Scott Morrison versucht hat, der in den Urlaub flog, als Ostaustralien brannte. Die ersten wirtschaftlichen Gegenmaßnahmen Chinas gegen die Blockspaltungsversuche Canberras haben die Wirtschaft Australiens schon erschüttert. Eine interdependente Welt lässt sich eben nicht ohne Weiteres nach „westlichen Wertvorstellungen“ zerlegen, zumal wenn das Hassobjekt der bei weitem größte Handelspartner ist.

Australien ist nicht aus den militärischen Bündnissen ausgetreten, die es mit Washington gegen Peking vereint. Inwiefern hat Australien gegen China eine Niederlage einstecken müssen?

Die Militärbündnisse Aukus und Quad bestehen natürlich weiter fort, und Canberra bereitet weiter die Atom-U-Boote gegen China vor. Mit diesen Widersprüchen, diesem Spaziergang auf der Klinge, wird die Menschheit absehbar leben und hoffentlich nicht sterben müssen. Die Lage in Japan scheint mir zurzeit sogar noch schwieriger zu sein. Dort ist in den Politeliten, ähnlich wie in Berlin, nach einer mentalen „nationalen Befreiung“ von der eigenen Geschichte gerade erst die Rüstungs- und Kriegslust wieder so richtig ausgebrochen und man genießt gerade die „neue Freiheit“ des militärisch-industriell-politisch-medialen Finanz- und Korruptionskomplexes in vollen Zügen. Die eigene Geschichte hatte man ohnehin nie wirklich aufgearbeitet. Jetzt wird sie verleugnet und umgedichtet. Aber selbst hier sind trotz Aufrüstung und permanenter Militärmanöver die wirtschaftlichen Beziehungen mit China durchaus noch stark. Anknüpfungspunkte für Gespräche und klimatische Verbesserungen sind also fast immer noch irgendwo vorhanden.

Vor allem die Spannungen rund um Taiwan sollen auf dem Apec-Gipfel zur Sprache gekommen sein. Biden und Xi erklärten zudem, dass sie die militärische Kommunikation wieder aufnehmen wollen. Was sind diesbezüglich die Prioritäten für Peking?

Wenn die chinesische, russische, iranische und kubanische Marine ganzjährige Manöver vor der Hafeneinfahrt von Hamburg oder um Helgoland herum durchführen würden, mit dem Hinweis, man wolle für die freie Seeschifffahrt zum Hamburger Hafen sorgen, würde Deutschland vermutlich auch irgendwann die Militärgespräche mit China für sinnlos erklären. Genau das hat China gemacht. Es besteht kein Grund für den Optimismus, dass Biden eine Zusage der Wiederaufnahme als Xis Wahlkampfgeschenk ohne Gegengeschenk mit nach Hause nehmen darf. Biden mag ein Schlitzohr sein, aber Xi ist kein Tölpel. Und China kann warten – eine uralte ostasiatische Qualität. Der Weltenwandel und die Zeit spielen in vieler Hinsicht für China.

Wenn Washington wieder glaubhafter wird, indem es Worte und Taten wieder zusammenführt, könnte es auch wieder eine Chance für Militärgespräche geben. Dagegen stehen zurzeit der überkochende Washingtoner Brodeltopf und das hochlaufende US-Wahlkriegstheater. Wie immer: Wir haben keine Chance, also nutzen wir sie.

Vielen Dank für das Gespräch.


Wolfram Elsner (73) ist Professor für Volkswirtschaft an der Universität Bremen. Elsner lehrte in Europa, in den USA, Australien, Südafrika, Mexiko, China und ist Gastprofessor der University of Missouri, Kansas City und Jilin, Changchun, China. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen und Lehrbücher.

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