Beim Einsteigen rufe ich dem Taxifahrer zu: Ein Notfall! Bitte beeilen Sie sich! Vielleicht habe ich es auch geschrien. Aber die Dringlichkeit ist wohl nicht durchgedrungen. An jeder Ampel hält der Fahrer schon bei Gelb, Spurwechsler winkt er höflich vor, in der Fünfziger-Zone fährt er vierzig. Für einen Moment kommt es mir sogar so vor, als summe er die Melodie im Radio mit. Während meine Gedanken rasen, läuft um mich herum alles demonstrativ gemütlicher ab als sonst. Gefühlt ist noch nie ein Taxi so langsam durch den Stau am Leipziger Platz gefahren. Soll ich aussteigen und rennen?
Eine halbe Stunde vorher erreicht mich bei der Arbeit ein Anruf aus Frankfurt: Die Mutter meiner Freundin. Aus der Grippe ihrer Tochter, sprudelt es aus dem Telefon, ist irgendwas undefinierbar Bedrohliches geworden. „Sie kann sich nicht bewegen, muss sich ständig übergeben, du musst sofort zu ihr.“ Ihre Stimme überschlägt sich. Ich rufe meine Freundin an. Was ist los? „Ich brauche einen Arzt, aber ich kann nicht zur Tür.“
In diesem Moment wünsche ich mir, irgendwo anders zu wohnen, nur nicht in dieser von Baustellen und Staus durchsetzten Stadt. Im Taxi auf dem Weg nach Hause gehen mir all die Nachrichten der letzten Tage durch den Kopf: die katastrophale Situation beim Berliner Rettungsdienst und in den Krankenhäusern, die heftige Grippe-Welle, die auf einen über viele Jahre aufgetürmten Personalmangel trifft. Keine Rettungswagen, keine Klinikbetten, keine Ärzte. Niemand möchte jetzt krank sein. Noch weniger als sonst.
Zehn Minuten später hält das Taxi vor meiner Haustür, ich stürme hoch in die Wohnung, ins Schlafzimmer, die Lage ist ernst. Sie hustet, kann die Augen nicht öffnen, ihre Stirn ist glühend heiß, in den Nieren habe sie einen stechenden Schmerz. Panik. Ich wähle auf dem Handy die Nummer 116117, die Nummer des kassenärztlichen Bereitschaftsdienstes. Nicht gleich den Notruf wählen, denke ich. Die müssen sich um die lebensbedrohlichen Fälle kümmern, um Herzinfarkte und Schlaganfälle, um Unfallopfer. Andererseits: Woher weiß ich, dass das hier nicht auch ein Notfall ist? Bei der 116117 geht nur eine Computerstimme ran, die sagt, dass in der Stadt der Ausnahmezustand herrsche. „Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt erneut“, sagt die monotone Stimme. Und: „In Notfällen wählen Sie die 112.“
Ich rufe die 112: Es tutet lange.
Ausnahmezustand in Berlin. Wie seltsam das klingt. Als herrsche in der Hauptstadt Krieg oder als habe sich eine Naturkatstrophe ereignet. Als seien alle Strukturen in sich zusammengebrochen, auf die man sich gerade noch verlassen hatte. Das alte Versprechen, dass einem hierzulande immer geholfen werde, plötzlich ist es verpufft. Zurück bleibt Hilflosigkeit. Mit schlechtem Gewissen wähle ich die 112. Es tutet lange.
Dann meldet sich ein Mann. Ohne Zeit zu verlieren, fragt er nach unserem Standort. Es folgt eine längere Befragung. Am Ende sagt der Mann, er habe gerade keinen Rettungswagen, den er schicken könne.
Er: „Versuchen Sie es bei der 116117.“
Ich: „Da komme ich nicht durch!“
Er: „Ich schicke eine Benachrichtigung, dann meldet sich jemand bei Ihnen – kann aber ein bisschen dauern.“
Um irgendwas zu tun, mache ich kalte Wickel, messe bei meiner Freundin die Temperatur (38,5), öffne dem Hund die Balkontür, damit er zumindest dort mal raus kann. Nach einer halben Stunde klingelt wieder das Telefon. Ein Arzt. Noch einmal erkläre ich alles von vorn. „Sie müssen sofort in die Notaufnahme“, sagt der Arzt, die Nierenschmerzen machen ihm Sorgen. „Aber Sie müssen selbst dorthin kommen, einen Krankentransport kann ich erst in zehn Stunden organisieren“, sagt er. „Nehmen Sie sich ein Taxi.“
Irgendwie schaffe ich es, meiner Freundin eine rote Strickjacke und eine Hose anzuziehen und sie nach unten auf die Straße zu hieven. Jeder Schritt tut ihr weh. Ich rufe über das Handy ein Uber, aber aus irgendeinem Grund kommt und kommt es nicht. Dafür fährt plötzlich ein Taxi vorbei. Ich schreie, rufe, winke und tatsächlich sieht der Fahrer uns und wird langsamer. Er lässt das Fenster runter, schaut erst mich an und dann die junge Frau, die wie ein nasser Sack in meinen Armen hängt. Doch anstatt herauszuspringen und uns zu helfen schnauzt er mich an: „Ich bin kein Krankenwagen, ruft die Feuerwehr“. Dann gibt er wieder Gas und braust davon, lässt uns an der Ecke zurück. Berlin ick hasse dir.
Wenigstens gibt es noch Car-Sharing, und so schaffen wir es letztlich auf eigene Faust durch den Stau bis zur Charité in Mitte, zur Rettungsstation in der Luisenstraße. Das letzte Stück zu Fuß kann meine Freundin nicht mehr laufen. Ein junger Mann kommt angerannt und greift sie unterm Arm. Zusammen schleppen wir sie in die Notaufnahme. Vielleicht ist er ein Arzt oder ein Medizinstudent, jedenfalls stellt er die richtigen Fragen und drinnen ruft er laut: „Starke Nierenschmerzen, unbekannte Vorgeschichte.“ Sofort eilen Ärzte herbei, öffnen die Tür zur Station, legen meine Freundin auf die Bahre und werfen mich mit den Worten „Sie können hier ohne Maske nicht sein“ wieder raus.
Bilder im Kopf, Tränen. Wir haben uns nicht mal verabschiedet. Ich sitze im völlig überfüllten Warteraum. Kinder schreien, eine kreidebleiche Frau übergibt sich in eine Tüte, ein Mann starrt auf seinen blutigen Verband an der Hand. Kurz darauf kommt ein Arzt im blauen Kittel zu mir, der mich nach Hause schickt. Meine Freundin habe zusätzlich eine Grippe, da dürfe niemand hier sein, der ihr nah gewesen sei. Die Angst vor den Viren, hier wird sie greifbar.
Um elf Uhr der Anruf: Ich will nach Hause
Zu Hause: Warten, mit den Eltern telefonieren, Sorgen. Irgendwann klingelt das Telefon, sie ist dran. Es sind sicher zwei Stunden vergangen. Noch sei sie nicht untersucht worden, sagt sie, aber man habe ihr einen Zugang gelegt und ein Schmerzmittel gegeben, jetzt gehe es etwas besser. Nach fünf Stunden ruft sie wieder an, es ist inzwischen kurz nach acht Uhr abends. Endlich sei eine Ärztin gekommen, die sie abgetastet habe, sagt sie. Nun müsse ein Ultraschall gemacht werden. Doch auch nach sechs Stunden nichts, nach sieben Stunden immer noch nichts. Es ist der sogenannte Flaschenhals der Notaufnahmen. Patienten, die eigentlich auf eine Station verlegt werden müssten, bleiben unten in der Rettungsstelle liegen, weil es oben nicht genügend Personal gibt.
Es ist kurz vor elf Uhr, als sie mich erneut anruft: „Ich will nach Hause“, sagt sie krächzend, „das bringt doch alles nichts, ich werde hier vergessen und Hunger habe ich auch“. Aber was, wenn wirklich etwas mit den Nieren ist? Immerhin ist sie jetzt schon mal im Krankenhaus. Und so stehe ich um kurz vor Mitternacht in der Küche und koche Nudeln, packe eine Tasche und fahre nochmal durch das inzwischen leere Berlin zur Rettungsstation. Noch immer darf ich nicht zu ihr, aber eine freundliche Schwester nimmt mir die Tasche ab, um sie ihr zu bringen. Die Freundin werde gleich untersucht, sagt die Schwester, aber es sei sehr viel los.
Draußen stehe ich etwas ratlos in der Kälte und schaue meinen Atemwolken nach. Entlang der Hauswand reihen sich die mit Milchglasfolie beklebten Fenster der Behandlungszimmer. Hinter einem sehe ich plötzlich schemenhaft eine Tür aufgehen. Wurde da gerade vielleicht meine Tasche abgegeben? Nach kurzem Zögern springe ich auf die Fensterbank und schaue durch den oberen, nicht beklebten Teil. Und tatsächlich, da liegt sie, meine Freundin, in ihrer roten Strickjacke. Ich klopfe leise. Sie richtet sich auf, schaut mich an und kommt gekrümmt zum Fenster, das sich nur einen Spalt breit öffnen lässt. „Ich will hier raus“, sagt sie, als säße sie in einem Gefängnis. Durch den Fensterspalt halte ich ihre Hand. Viele Worte verlieren wir nicht. Dann fahre ich mit dem Gedanken nach Hause, dass sie sicher für einige Tage hierbleiben muss.
Um 3 Uhr nachts schrecke ich aus dem Schlaf. Meine Freundin steht vor mir. Es ist kein Traum. Sie wurde entlassen, sagt sie, man habe sie nicht behandeln können. Nur ein Antibiotikum und Schmerzmittel habe man ihr nach zehn Stunden über die Infusion gegeben und gesagt, sie müsse morgen zu einem Arzt, wenn es nicht besser sei. Dann hebt sie den Arm. Noch immer steckt dort der Schlauch vom Zugang für die Infusion, noch immer mitsamt der Nadel. Am nächsten Tag haben sich Gott sei Dank ihre Nieren etwas beruhigt. Über Freunde schaffen wir es, noch am selben Tag einen Termin beim Arzt zu bekommen. Inzwischen geht es ihr wieder besser. Nur die Angst, nochmal einen Rettungsdienst zu brauchen, aber keinen zu bekommen, die wird so leicht nicht wieder vergehen.
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