Das Auto hält an, die Sonne knallt auf die Windschutzscheibe, ich schwitze. Eine halbe Stunde lang sind wir durch Berlin gefahren, genauso lange habe ich versucht, mir die kommenden drei Wochen vorzustellen. Vergeblich. Ich bin ein Nervenbündel, schaue zu meiner Mutter. Sie lacht und will mich aufmuntern: „Jetzt komm, die werden dich schon nicht in der ersten Woche einen Artikel mitschreiben lassen.“
Recht hatte sie. Allein in der ersten Woche Schülerpraktikum bei der Berliner Zeitung schreibe ich nicht einen Artikel, sondern drei: Ich gehe auf zwei Demos, interviewe einen Christian Lindner aus Pappmaché und einen Querdenker, gehe zu einer Gerichtsverhandlung mit Bushido und den Abou-Chaker-Brüdern, telefoniere einem Bestatter hinterher und spreche Radfahrer auf dem Alex an: „Wurde Ihr Fahrrad schon einmal gestohlen?“ Zwischendurch verfahre ich mich zwei Dutzend mal im ÖPNV und verbringe 17 schmerzhafte Minuten damit, kniend im Kies eine Pressekonferenz zum Brand im Grunewald aufzunehmen.
Dann sind die ersten fünf Tage geschafft – und ich auch. Jeden Tag fünf Stunden Schlaf und 19 Stunden Berlin? Ich bin gerade 18 geworden und wollte einfach nur drei Wochen Schülerpraktikum in der Hauptstadt absolvieren. Als gebürtiger Rostocker und Ex-Dresdner dachte ich, ich kenne Städte mit Persönlichkeit. Aber nichts und niemand hat so ein einnehmendes Wesen wie Berlin. Wie macht ihr das alle hier nur? Wie kann das alles hier für irgendjemanden selbstverständlich sein?
Kein Traum überlebt die Kollision mit der Wirklichkeit
Die erste Regel dieser Stadt lerne ich an meinem zweiten Tag. Ich wohne im Süden Berlins, in Lichterfelde, wo die Metropole manchmal fast kleinstädtisch aussieht. Als wir an einer Bushaltestelle vorbeikommen, lese ich auf der Zeittafel, dass die M11 in sechs Minuten kommt. Meiner Begleitung ist das zu lange: „Die meisten Berliner laufen lieber zwanzig Minuten, als fünf Minuten auf den Bus zu warten.“
Trotz aller Hilfe gibt es immer wieder Momente, in denen ich ganz schön verloren bin in dieser Großstadt mit ihrer Riesen-Persönlichkeit. Manchmal aber ist Berlin ein Katalysator für meine Wünsche und Vorstellungen, die ich mir von der Stadt gemacht habe. Schon in der zweiten Woche gewöhne ich mich an die Geigenspieler in der U-Bahn und schaue kaum noch hin, wenn ich sehe, wie ein halbes Fahrrad in den Bäumen hängt. Und: Ich beginne, den Mann am Kiosk ebenso zu duzen wie die Brötchenverkäuferin. Wann habt ihr eigentlich alle mit dem duzen angefangen?
Und dann die Sache mit den Salzbrezeln, sie lässt mir bis heute keine Ruhe: Auf dem Weg zu Bushidos Prozess – was für eine absurde Veranstaltung übrigens – komme ich zum ersten Mal an der Station Turmstraße vorbei. Dort liegt ein Haufen Salzbrezeln, die jemand in einer Ecke ausgekippt hat. Leute wie ich, die so etwas nicht kennen, die fragen sich: Hatte der Verkäufer einen Unfall? Wartet gerade ein Bäcker auf seine Brezeln? Kann man das essen? Ich habe deswegen eine SMS nach Hause geschrieben. Nach drei Wochen hab ich mich an solche Bilder längst gewöhnt.
Etwas, was ich mir wohl für immer merken werde, ist der Moment, als ich mich einmal in Berlin verlaufe. Ich wollte zum Finanzministerium und stehe plötzlich auf einem großen Platz mit einer langen Straße. Ihr könnt euch das nicht vorstellen, aber für Menschen, die sich nicht auskennen, kann wirklich alles gleich aussehen, vor allem im Stress. Ich mache ein Foto vom nächsten Gebäude und schicke es meinen Freunden: „Schaut mal, lustig, das sieht fast so aus wie das Brandenburger Tor, wisst ihr wo ich bin?“ Meine Freunde schreiben: „Ja, das IST das Brandenburger Tor!“
Magische Worte: „Ach, Sie? Von Ihnen habe ich kürzlich was gelesen“
Ich schiebe das auf den chronischen Schlafmangel. Um 5.50 Uhr klingelt der Wecker, um 8.30 Uhr bin ich im Büro, der Tag endet je nach Stimmung und Aufgaben zwischen 15 und 19 Uhr. Dabei habe ich das große Los gezogen, denn bei der Berliner Zeitung begrüßt man nicht nur mich, sondern auch all meine Ideen und Perspektiven. Kein Arbeitgeber ist besser als eine Lokalzeitung, um schnell eine Vorstellung von einer Stadt zu bekommen, von der Stimmung, den Ideen und manchmal den wortwörtlichen Brandherden.
Einer meiner Aufträge war das Eiswürfel-Problem. Auf Mallorca gibt es Eiswürfelmangel, und auch in Berliner Cocktailbars hat sich der Preis für Eis vom Lieferanten von sechs auf zehn Euro pro fünf Kilo erhöht. Ich telefoniere mich durch die besten Cocktailbars der Stadt und frage beim Eislieferanten nach seinen größten Problemen derzeit. Learning by doing, oder? In der dritten Woche höre ich bei einem dieser Interviews die magischen Worte, nach denen ich sofort süchtig werde: „Ach, Sie? Von Ihnen habe ich kürzlich was gelesen.“
Zwischendurch zeigen mir meine Freunde ihre Lieblingsecken: ein kleines japanisches Restaurant, die dreckigsten U-Bahn-Stationen Moabits, die vollen Straßen mit der schlimmen Straßenmusik vom „Prenzlberg“. Ich bin dabei, bis es nicht mehr geht. Ich merke, wie mir jeden Tag weniger Energie zur Verfügung steht. In Rostock bin ich eher der Keks-Back-Typ am Wochenende. Hier werde ich plötzlich zum „Feiern“ eingeladen – und gehe sogar mit. Diese Stadt fördert Seiten aus mir zutage, von denen ich keine Ahnung hatte.
Auch das ist eine Erkenntnis: Nicht nur die Zeit ist hier ein knappes Gut, genau wie die Erholung, sondern auch Geld. Ich gehe morgens nicht zu „Zeit für Brot“, sondern zu einer kleinen arabischen Bäckerei. Dort kaufe ich mir ab und zu ein Brötchen und ein Croissant. Jeden Morgen 5,80 Euro, dazu mittags Essen gehen für rund 10 Euro, dann noch irgendwas auf dem Heimweg. Sagen wir so: Das Praktikum ist unbezahlt und mein Taschengeld ist dafür nicht ausgelegt. Eure Stadt ist verdammt teuer!
Veränderung ist unvermeidlich in einer Stadt wie Berlin
Am letzten Tag sitze ich in der U8 Richtung Hermannstraße, es ist mein vorletzter Abend in Berlin, ich kenne jetzt jede Station, habe mich an den Moritzplatz gewöhnt, den Geruch der Schönleinstraße, und wenn am Herrmannplatz jemand schreit, schaue ich nicht mehr auf. Das Nervenbündel von vor drei Wochen ist weg. Viel schwieriger ist nach dem Wahnsinn hier die Vorstellung, jetzt wieder Schüler in der Provinz zu sein.



