Mobilität

Erste Tram zur Turmstraße: Das sagen Bürger zur neuen Straßenbahnstrecke

Auf der Neubautrasse in den Westen Berlins hat der Probebetrieb begonnen. Passanten waren überrascht, eine Debatte begann. Ein Eröffnungstermin ist in Sicht.  

New kid on the block: Seit knapp sechs Jahrzehnten fährt wieder eine Straßenbahn durch die Rathenower Straße. Hier der Wagen 9081 auf der Abnahmefahrt vor der Justizvollzugsanstalt Moabit.
New kid on the block: Seit knapp sechs Jahrzehnten fährt wieder eine Straßenbahn durch die Rathenower Straße. Hier der Wagen 9081 auf der Abnahmefahrt vor der Justizvollzugsanstalt Moabit.Sabine Gudath/Berliner Zeitung

Jessica Juhnke war die Frau des Tages. Die Straßenbahnfahrerin vom Hof Lichtenberg steuerte den ersten Zug, der die Neubaustrecke zum U-Bahnhof Turmstraße befuhr. Viele Passanten wirkten überrascht, dass plötzlich eine Straßenbahn durch diesen Teil von Moabit rollte – mehr als sechs Jahrzehnte, nachdem zum vorerst letzten Mal eine „Elektrische“ in der Turmstraße unterwegs war. Doch die Reaktionen waren positiv, und die Mitarbeiter der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) mussten am Donnerstag viele Fragen beantworten. Die wichtigste war: Wann darf ich mitfahren? Jetzt zeichnet sich ein Termin ab, wann die M10 aus Friedrichshain weiter in den Westen Berlins hineinfährt. 

Der Mann mit dem Rollator freut sich. „Ich finde es gut, dass ich bald mit der Straßenbahn zum Aldi fahren kann“, sagt Peter Wolf. „In die Tram komme ich viel leichter hinein als in den Bus. Außerdem ist es in den Bussen immer zu voll.“ Der frühere Koch, der weiterhin gern am Herd steht und im Winter Gulaschsuppe für Wohnungslose zubereitet, steht an der Straßenbahn-Haltestelle am U-Bahnhof Turmstraße. Gerade hat er dabei zugesehen, wie die Straßenbahn mit der Nummer 2237 langsam einrollte, mit Jessica Juhnke im Führerstand, BVG-Mitarbeitern und Vertretern der Technischen Aufsichtsbehörde (TAB) an Bord. „Erstbefahrung“ steht vorn auf einem Schild.

Zu den Schaulustigen, die unbeabsichtigt zu einer Art Empfangskomitee geworden sind, gehören auch Sinje Ewert und ihre beiden kleinen Söhne. „Wir freuen uns auf die Straßenbahn“, sagt die Frau aus Moabit. Sie und die Kinder könnten ohne Weiteres in einem Werbefilm über die Tram glänzen. So freut sich Ewert, dass sie in naher Zukunft  nicht mehr mit Kindern und Gepäck in einen Bus der Linie 245 klettern muss, wenn die Familie zum Hauptbahnhof möchte. „Straßenbahn fahren ist viel schöner als Bus fahren“, sagt Sinje Ewert. „Ökologisch ist es auch.“ Die Kinder nicken. Allerdings gehörte zum Projekt auch, dass Bäume gefällt werden – ihre Zahl wurde mit 85 beziffert.

Berlins größte Straßenbahnweiche bringt fast 78 Tonnen auf die Waage

Die Nachricht, dass auf der 2210 Meter langen Neubaustrecke vom Hauptbahnhof zum U-Bahnhof Turmstraße am Donnerstag erstmals Straßenbahnen unterwegs sind, hat sich in der Berliner Fanszene rasch verbreitet. Junge und schon etwas ältere Männer mit Kameras postieren sich entlang der Strecke, während vor dem Kriminalgericht Moabit noch das Rasengleis gewässert wird und ein Bauarbeiter auf der Verkehrsinsel vor der Justizvollzugsanstalt Moabit die letzten Pflastersteine in den Boden klopft.

Vor der Kulisse des Kriminalgerichts Moabit rollt der Wagen 2237 auf Abnahmefahrt durch die Turmstraße.
Vor der Kulisse des Kriminalgerichts Moabit rollt der Wagen 2237 auf Abnahmefahrt durch die Turmstraße.Peter Neumann/Berliner Zeitung

Als kurz vor 10 Uhr der große gelbe Entstörwagen zur Seite fährt und BVG-Mitarbeiter die rot-weißen Verkehrskegel von den Schienen räumen, wächst die Spannung. Und dann kommt sie, die Bahn, mit der die Abnahmefahrten beginnen. Aufgabe der Experten an Bord des Wagens 2237 aus Lichtenberg ist es, sich mit der Fahrleitung und anderen Elektrothemen zu befassen. Kurz darauf folgt der Wagen 9081 vom Hof Weißensee, ebenfalls mit BVG- und TAB-Leuten an Bord. Sie stoppen mehrmals, um sich die Gleise, die fünf barrierefreien Haltestellen und die anderen Anlagen anzuschauen. An der Endstelle befindet sich Berlins gewichtigste Straßenbahnweiche – 77,6 Tonnen schwer.

Kniffliges Ampelthema: Müssen Straßenbahnen zu lange warten?

Das Projekt, die Strecke M10 über den heutigen Endpunkt am Rand von Moabit weiter nach Westen zu verlängern, hatte sich in die Länge gezogen. So musste das Planfeststellungsverfahren von neuem begonnen werden, weil sich Regelungen geändert hatten und Lärmgutachten als nicht ausreichend eingeschätzt wurden.

Problemstellen gibt es natürlich auch heute noch. So rechnet ein Beobachter mit Engpässen an der Einmündung der Turm- in die Rathenower Straße: „Die Schienen schneiden Richtung Hauptbahnhof die Fahrbahn, sodass ein gleichzeitiges Abbiegen mit dem Autoverkehr nicht möglich ist. Zugleich muss es eine getrennte Signalisierung für den Radverkehr geben, der teilweise auch geradeaus in den Fritz-Schloss-Park fährt. Es wird eine Vielzahl getrennter Ampelphasen geben müssen, mit entsprechenden Umlaufzeiten.“ Erwartete Folge: längere Wartezeiten als sonst – auch für die Tram.

70 Parkplätze fielen weg, Fahrstreifen wurden schmaler

Allerdings müssen auch Kraftfahrer Einbußen hinnehmen. 70 Autostellplätze sind weggefallen (diese Zahl stammt aus den Planfeststellungsunterlagen). Fahrstreifen wurden schmaler, die Leistungsfähigkeit von zwei Kreuzungen wurde vermindert. Für die Straßenbahn und ihre Fahrgäste bleiben Kraftfahrzeuge ein Problem: Bereits bei den Abnahmefahrten am Donnerstag wurde die Tram immer wieder aufgehalten.

Ampeln sind auch an der Endstelle am U-Bahnhof Turmstraße ein Thema. Teilweise müssen Fußgänger rund eine Minute warten, bis sie die Gleise kreuzen dürfen. Dabei wächst gerade in Berlin in solchen Fällen mit der Länge der Rotzeit das Risiko, dass das Lichtsignal missachtet wird. Ein anderer neuralgischer Punkt befindet sich in der Rathenower Straße, wo das Gleis Richtung Hauptbahnhof von der Fahrbahn auf den Mittelstreifen schwenkt. Damit Autos der Bahn nicht hinterherfahren und dann im Rasengleis landen, wurden kleine orangerote Leuchten in den Asphalt eingelassen.

Momentan bedient die Buslinie 245 den Streckenabschnitt in dichtem Takt – montags bis freitags zum Beispiel tagsüber alle sechs oder sieben Minuten. Laut Fahrplan dauert die Fahrt vom U-Bahnhof Turmstraße zum Hauptbahnhof zehn Minuten, in der Gegenrichtung müssen neun Minuten eingeplant werden. Die Straßenbahn M10 wird während der Hauptverkehrszeiten alle fünf Minuten ins Moabiter Zentrum verkehren, die Fahrzeit auf dem Neubauabschnitt soll in beiden Richtungen acht Minuten betragen.

Der Wagen 2237 an der Haltestelle U-Bahnhof Turmstraße. Von hier aus soll die Strecke nach Jungfernheide führen. Die Planungen sind im Gang, Termine gibt es aber derzeit nicht. Zuletzt hieß es, dass die Strecke 2028 fertig wird.<a href="https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/mit-der-strassenbahn-in-den-westen-baubeginn-fuer-strecke-nach-moabit-li.176396"></a>
Der Wagen 2237 an der Haltestelle U-Bahnhof Turmstraße. Von hier aus soll die Strecke nach Jungfernheide führen. Die Planungen sind im Gang, Termine gibt es aber derzeit nicht. Zuletzt hieß es, dass die Strecke 2028 fertig wird.Peter Neumann/Berliner Zeitung

Aber wann beginnt der Fahrgastbetrieb auf der Neubaustrecke? Im Sommer 2021 startete der Bau. Zuletzt war bei der BVG optimistisch von einer Eröffnung im Juli 2023 die Rede. Allerdings ziehen sich die Arbeiten an den Ampeln in die Länge. Dann hieß es, dass die Premierenfahrt für die BVG-Kundschaft im August stattfindet. Inzwischen scheint sich für den großen Tag die erste Hälfte des Monats Septembers herauszukristallisieren. Das erste Wochenende wird es wohl nicht sein, weil dann die Einschulungen Teile der Stadt auf Trab halten werden. Wahrscheinlicher ist da schon eine Eröffnung am zweiten September-Wochenende. Am 9. September? Die BVG äußert sich dazu nicht offiziell. Doch genau dieser Sonnabend wird nun als Tag der Inbetriebnahme avisiert.

„Berlin hat viel Potenzial für die Straßenbahn“

Für die Straßenbahn-Fans, die am Donnerstag die ersten Fahrten fotografieren und filmen, wird es auf jeden Fall ein wichtiger Termin sein. „Aber nicht nur für uns, auch für die ganze Stadt“, sagt Bernhard Kußmagk, einer von ihnen. Schon nach der Eröffnung der Neubaustrecke zum Hauptbahnhof 2014 seien die Prognosen bald überholt worden. „Anfangs rechnete man mit 20.000 Fahrgästen pro Tag, inzwischen sind es mehr als 40.000“, sagt er. „Berlin hat viel Potenzial für die Straßenbahn.“

„Die Eröffnung der Tramstrecke zur Turmstraße zeigt, was möglich ist, wenn es politisch gewollt ist. Es handelt sich seit der Wiedervereinigung erst um die zweite Strecke, die den Westteil der Stadt erreicht. Da muss mehr gehen, wenn wir die Klimaziele auch im Verkehrssektor erreichen wollen“, sagte Heiner von Marschall, Landesvorsitzender des Verkehrsclubs Deutschland (VCD).

Eine U-Bahn wäre noch wirtschaftlicher – aber viel teurer

Doch leider – die neue Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) will dem Ausbau des U-Bahn-Netzes den Vorzug geben. Zudem sollen die geplanten Neubaustrecken zum Potsdamer und zum Hermannplatz sowie im Blankenburger Süden überprüft werden. Für die Verbindung vom Hauptbahnhof zur Turmstraße war die U-Bahn im Gespräch. Die Wirtschaftlichkeitsuntersuchung für die Verlängerung der U5 vom Alexanderplatz nach Moabit ergab, dass der Nutzen das 1,43-Fache der Kosten betragen würde. Das jetzige Straßenbahnprojekt hat es dagegen nur auf einen Faktor von 1,2 gebracht.

Doch es ist preiswerter – zuletzt war von 33 Millionen Euro die Rede. Und positive Wirkungen hat es auch: Auf der Route werden künftig pro Tag bis zu 16.000 Nahverkehrsnutzer erwartet, davon 10.000 bei der Straßenbahn. Ohne Tram wären es 10.950 pro Tag.

„Vor 62 Jahren ist zum vorerst letzten Mal eine Straßenbahn durch die Turmstraße gefahren“, sagt ein Fan, der die Erstfahrten vor der Kulisse des Kriminalgerichts fotografiert. „Es ist gut, dass dieses Verkehrsmittel wieder nach Moabit kommt.“ Eine Frau, die neben ihm die Gleise kreuzt, widerspricht. „Die Bahn ist doch viel zu teuer. Berlin braucht Wohnungen und keine Straßenbahnen, mit denen niemand fährt.“ Das stimmt nicht, entgegnet ein Mann mit Fahrrad. So viel steht fest, sagt er: „Es wird voll.“