Berlin-Verkehrs-Staatssekretär Ingmar Streese formulierte es in Denglisch, einem Kauderwelsch aus Deutsch und Englisch. „Tram goes West“, sagte der Grünen-Politiker. Soll heißen: Das Berliner Straßenbahnnetz wächst weiter in den Westen der Stadt. Am Mittwoch wurde der Baubeginn für die neue Trasse nach Moabit gefeiert. Knapp sechs Jahrzehnte, nachdem über die Straße Alt-Moabit zum letzten Mal eine Straßenbahn gerollt ist, soll dieses Verkehrsmittel dorthin zurückkehren. Doch wer sich jetzt fragt, warum entlang der geplanten Strecke zwischen dem Hauptbahnhof und dem U-Bahnhof Turmstraße noch keine Baustelle zu sehen ist, sollte Geduld haben. Der Gleisbau für die Verlängerung der Linie M10 wird erst nach der Wahl zum Abgeordnetenhaus beginnen.
Die Schreie waren unverkennbar: Bussarde! Die beiden Greifvögel kreisten gemächlich über dem Hof der U-Bahn-Fahrschule der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), auf dem der symbolische erste Spatenstich stattfand. Dann entdeckte Jens Wieseke vom Fahrgastverband IGEB ein Erdwespennest im Boden. Die Berliner Stadtnatur war jedenfalls anwesend, als Wirtschaftssenatorin Ramona Pop, Staatssekretär Ingmar Streese, BVG-Betriebsvorstand Rolf Erfurt, Stadträtin Sabine Weißler und Tassilo Grenz vom Bauunternehmen Strabag vor den Fotografen die Spaten schwangen. Menschliche Schaulustige gab es dagegen nicht, die Feier fand hinter einem Stahltor statt.
Mehr als 50 Bäume werden gefällt, Parkplätze fallen weg
„Putzig, dass wir noch nicht an der Strecke graben“, sagte Grünen-Politikerin Weißler. Als Erstes wird der Bau eines Gleichrichterwerkes in Angriff genommen, erklärte die BVG. In der Anlage auf dem Hof wird Wechselstrom in Gleichstrom umgewandelt – eine wichtige Voraussetzung, damit die M10 aus Friedrichshain und Prenzlauer Berg im Fünf-Minuten-Takt wie geplant ins Herz von Moabit weiterfahren kann. Ab Ende August dieses Jahres werde das Bauprojekt draußen auf den Straßen sichtbar sein. „Dann werden wir die Baufelder freimachen“, hieß es. Außerdem stehe Leitungsbau an. „Der Gleisbau wird dann im Dezember 2021 beginnen.“ Im ersten Halbjahr 2023, so der Plan, soll der Betrieb auf der 2,2 Kilometer langen Neubaustrecke starten, sagte Senatorin Pop.

Das sind die Daten der Neubaustrecke: Länge 2210 Meter, fünf barrierefreie Haltestellen. Über 50 Bäume werden gefällt, mehrere Dutzend Parkplätze fallen weg, außerdem Fahrstreifen in der Turmstraße und anderswo. Die Kosten betragen 33 Millionen Euro – anfangs war von 20 Millionen Euro die Rede. Bis zu 16.000 Nahverkehrsnutzer werden pro Tag erwartet, davon 10.000 bei der Straßenbahn. Ohne Tram wären es nur 10.950.
Am 1. Mai 1963 hatte sich an der Sandkrugbrücke an der Grenze zu Ost-Berlin zum letzten Mal eine „Elektrische“ der Linie 44 aufgemacht, um über den Westteil der Invalidenstraße und die Straße Alt-Moabit zu fahren. Über den Ernst-Reuter- und Fehrbelliner Platz ging es zur Steglitzer Birkbuschstraße. Dann wurden die 44 und vier weitere Linien, die in den Südwesten Berlins führten, stillgelegt. Offizielles Argument war damals, dass die Gleise dem Bau der heutigen U9 und der heutigen Autobahn A103 im Wege waren. Auf der Straße Alt-Moabit verblieb dann noch die Linie 2, die von der Bernauer Straße in Wedding bis zur Gotenstraße in Schöneberg rollte. Doch am 1. Juni 1964 war auch diese Strecke Vergangenheit, und die letzten Gleise verschwanden.
Die Beschluss, die Straßenbahn im Westen der Stadt abzuschaffen, war bereits in den 1950er-Jahren gefallen. Am 2. Oktober 1967 fanden die letzten Fahrten statt – auf der damaligen 55 zwischen Hakenfelde und Charlottenburg.
Hauptbahnhof wird vom Tramnetz abgeklemmt – aber nur eine Woche
„Die Einstellung der Straßenbahn im Westen war ein historischer Irrtum“, sagte Ingmar Streese. Viele West-Berliner sehen das bis heute anders. Für sie zählt, dass nach dem Abbau mehr Platz für Autos entstand. Zwar gab es nach der Wende immer wieder Forderungen, dass die Straßenbahn in die Westbezirke zurückkehrt. Doch es ging nur langsam voran. 1995 erreichte die Straßenbahn erstmals wieder westliches Gebiet – in der Bornholmer Straße in Wedding. Seit 2006 touchiert die M10 in der Bernauer Straße den Wedding, seit 2014 auch den Osten von Moabit. Die Verlängerung ins Moabiter Zentrum geht nun wieder tiefer in den Westen. Doch längst nicht jeder hält sie für sinnvoll: Gutachter haben einer Verlängerung der U-Bahn-Linie U5 zur Turmstraße eine hohe Wirtschaftlichkeit bescheinigt, auch wenn sie deutlich teurer und der Bau aufwändiger werden dürfte. Der Nutzen überstiege die Kosten um das 1,43-Fache.
„So viel Straßenbahn wie jetzt war nie“, so Streese. Derzeit habe die Verwaltung nicht weniger als 15 Projekte in Arbeit. Als nächstes soll die Neubaustrecke Adlershof II, die Schöneweide mit der Wissenschaftsstadt verbindet, eröffnet werden. BVG-Mann Erfurt sprach von „Ende Oktober oder Anfang November“. Eine weitere Verlängerung der M10, im Süden zum Hermannplatz in Neukölln, soll 2028 in Betrieb gehen. „Insgesamt wächst das Tramnetz um 85 Kilometer“, sagte Ramona Pop – auf fast 280 Kilometer.
Doch auch das Projekt in der Turmstraße zeigt, wie komplex solche Bauvorhaben sind. Weil der Senat Gutachten zu Lärm und Erschütterungen nicht für ausreichend hielt, musste nachgearbeitet werden, das kostete Zeit. Auch jetzt tauchen immer noch weitere Herausforderungen auf. Damit der Hauptbahnhof nicht wie vom Fahrgastverband befürchtet monatelang vom Straßenbahnnetz abgeklemmt wird, muss die BVG dort eine Weiche einbauen. Dauer der Sperrung im Dezember: eine Woche. Die künftigen Radverkehrsanlagen entlang der Strecke beschäftigen die Planer erneut. Weil sie vor Jahren vielerorts zu schmal ausgelegt wurden, werden sie nun neu geplant.


