Gerichtsurteil

Rassismus in Berlin: Wie sich ein schwarzer Opernsänger gegen die BVG wehrte

Jeremy Osborne kam in der U2 in eine Fahrscheinkontrolle, wurde rassistisch beleidigt und verklagte die BVG auf Schmerzensgeld. Nun fiel ein historisches Urteil.

Der amerikanische Opernsänger Jeremy Osborne wurde in Berlin rassistisch beleidigt.
Der amerikanische Opernsänger Jeremy Osborne wurde in Berlin rassistisch beleidigt.Emmanuele Contini

Jeremy Osborne klingt erleichtert am Telefon. Das Urteil ist da, endlich. Das Amtsgericht Berlin-Mitte hat entschieden, dass die BVG dem schwarzen Opernsänger Schadensersatz in Höhe von 1000 Euro zahlen muss.

Osborne hatte der BVG vorgeworfen, im Oktober 2020 am U-Bahnhof Alexanderplatz von Ticketkontrolleuren diskriminiert und angegriffen worden zu sein.

1000 Euro seien nicht viel, sagt er nach dem Urteil der Berliner Zeitung, er habe ja 2000 gefordert. Froh sei er trotzdem. „Es tut unfassbar gut zu wissen, dass die Richterin anerkannt hat, dass die Kontrolleure meine Menschenwürde verletzt haben.“

Senatorin Cansel Kiziltepe begrüßt das Urteil

Jeremy Osborne dürfte damit Geschichte geschrieben haben. Denn das größte Nahverkehrsunternehmen Deutschlands wurde nie zuvor von einem Gericht zur Schadensersatzzahlung an einen Fahrgast wegen Diskriminierung verurteilt. Senatorin Cansel Kiziltepe, zuständig für Arbeit, Soziales, Gleichstellung und Antidiskriminierung, sagte der Berliner Zeitung, sie begrüße, „dass das Gericht die rassistische Diskriminierung von Herrn Osborne und die daraus resultierende schwerwiegende Persönlichkeitsverletzung klar benannt und verurteilt hat“.

Jeremy Osborne, 36 Jahre alt, wurde im US-amerikanischen Bundesstaat Arkanas geboren, zog im Alter von 27 nach New York, dann nach Nizza und schließlich nach Berlin, wo er im Chor der Deutschen Oper singt. An jenem Oktoberabend des Jahres 2020 fuhr er mit der U-Bahn-Linie U2 Richtung Alexanderplatz, als am Spittelmarkt vier Kontrolleure in Zivil in den Zug stiegen und nach seinem Fahrschein fragten. Osborne besaß ein gültiges Monatsticket, wollte aber erst die Dienstausweise der Kontrolleure sehen. Die forderten ihn auf, am Alexanderplatz die Bahn zu verlassen. Es kam zum Streit. Jeremy Osborne sagt, die Kontrolleure hätten ihn als „Schwarzkopf“ bezeichnet, gesagt: „Black Lives Matter ist nur eine Ausrede“, in Deutschland habe er sich zu benehmen. Einer habe ihn auf eine Metallbank gestoßen, seine Schrammen an Unterarm und Oberschenkel habe er im Krankenhaus behandeln lassen müssen.

Die BVG-Kontrolleure, die beim Subunternehmen B.O.S beschäftigt waren, sagten, es sei andersherum gewesen. Osborne habe sie wegen ihres türkischen Migrationshintergrundes als „Ausländer“ und „Rassisten“ beschimpft. Im „Feststellungs- und Versäumnisbericht“ des Subunternehmens gaben sie an, er habe sie provoziert, seinen Fahrschein nur langsam gezeigt, sei ihnen nach der Kontrolle zurück in die U-Bahn gefolgt, habe andere Fahrgäste vor den Kontrolleuren gewarnt, einen ihrer Kollegen bespuckt und aus der Bahn gezerrt. Als sie ihn „fixieren“ wollten, habe er dem Kollegen ins Gesicht geschlagen.

Die BVG erstattete Anzeige gegen Jeremy Osborne. Dem US-Amerikaner sollte daraufhin die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt werden, die er gerade erst bekommen hatte. Er sei vom Amt telefonisch aufgefordert worden, seine Einbürgerungsurkunde wieder zurückzuschicken, sagt er. Keine Staatsbürgerschaft bei laufendem Ermittlungsverfahren! Die BVG ließ die Anzeige bereits zwei Monate später wieder fallen, Osborne erhielt die Urkunde zurück, beschloss trotzdem, sich zu wehren, schrieb Beschwerden an die Ombudsstelle des Berliner Senats, das Antidiskriminierungsnetzwerk ADNB und verklagte die BVG wegen Diskriminierung nach dem Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG).

Jeremy Osborne am U-Bahnhof Klosterstraße der Linie U2 in Berlin-Mitte
Jeremy Osborne am U-Bahnhof Klosterstraße der Linie U2 in Berlin-MitteEmmanuele Contini

„Rassismus wurde klar festgestellt“

Berlin ist das einzige Bundesland, das – seit 2020 – über eine Rechtsgrundlage verfügt, gegen Diskriminierung durch Behördenmitarbeiter vorzugehen. Zur Anwendung kam das LADG im Fall von Jeremy Osborne jedoch nicht. Ein BVG-Anwalt hatte vor Gericht erklärt, es handele sich „bei den mit den Fahrgästen abgeschlossenen Beförderungsverträgen um solche privatrechtlicher Art“. Auch das Amtsgericht Mitte sah das so, entschied, dass die Berliner Verkehrsbetriebe zivilrechtlich handelten und deshalb das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) Vorrang vor dem Landesantidiskriminierungsgesetz habe. Das AGG konnte allerdings ebenfalls nicht angewendet werden, weil der Vorfall länger als zwei Monate her war und damit die geforderte Frist nicht eingehalten wurde.

Die Ombudsstelle des Senats unterstützte Osborne und verwies in dem Verfahren darauf, „dass es der Sinn und Zweck des Landesantidiskriminierungsgesetzes ist, einen umfassenden Schutz vor Diskriminierung durch öffentliche Stellen wie die BVG zu gewährleisten“. Ohne Erfolg. Verurteilt wurde die BVG vom Gericht trotzdem. Jeremy Osborne sei durch die rassistischen Beleidigungen der Kontrolleure in seinem „allgemeinen Persönlichkeitsrecht“ verletzt worden, erklärt seine Anwältin Claire Lops. Dieses Recht sei im Grundgesetz verankert.

Das Berliner Amtsgericht hatte an mehreren Verhandlungstagen drei der Kontrolleure befragt und Aufnahmen der Überwachungskameras und von Osbornes Handy gesichtet. Jeremy Osborne sagt, die Kontrolleure hätten sich in Widersprüche verstrickt. „Erst hieß es, der Kontrolleur sei ins Gesicht geschlagen worden, dann war nur noch von einem Versuch die Rede.“ Die Frau, die den Feststellungs- und Versäumnisbericht für das Subunternehmen unterschrieben habe, hätte sich nicht mal mehr an ihre Unterschrift erinnern können. Osbornes Anwältin sagt, die Sicht ihres Mandanten sei vom Gericht als glaubhaft und bewiesen angesehen worden, „weil er widerspruchsfrei ausgesagt hat und die Videos seine Version bestätigt haben“. „Dass es sich um rassistische Beleidigung handelt, die den Kläger in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt, wurde klar festgestellt.“

Das Urteil ist 16 Seiten lang und noch nicht rechtskräftig. Lops sieht es als Erfolg für ihren Mandanten an. Und als „starkes Signal, dass Diskriminierung, ob rassistisch oder anderweitig motiviert, geahndet werden kann und die BVG für die Kontrollierenden haftet, auch dann, wenn diese bei Subunternehmen angestellt sind“.

Doris Liebscher, Chefin der Ombudsstelle des Berliner Senats, begrüßte das Urteil, bedauerte jedoch, dass das LADG vom Gericht nicht angewendet wurde. Es sei Sinn und Zweck des Gesetzes, „einen umfassenden Schutz vor Diskriminierung durch öffentliche Stellen wie der BVG zu gewährleisten“. Dieser Zweck werde beeinträchtigt, „wenn – wie hier – ein wesentlicher Teil bei der Erfüllung von Aufgaben der Daseinsvorsorge vom Anwendungsbereich ausgenommen wird“.

Allein 34 Beschwerden gegen die BVG im ersten Halbjahr

Von der BVG war keine Stellungnahme zu bekommen. BVG-Sprecher Markus Falkner erklärte per Mail gegenüber der Berliner Zeitung: „Da das Urteil vom 11.07. noch nicht rechtskräftig ist, können wir derzeit kein Statement abgeben und bitten hierfür um Verständnis.“

Immer wieder kommt es in Berlin zu Vorfällen bei Fahrscheinkontrollen. Allein im ersten Halbjahr 2023 erreichten die Ombudsstelle 34 Beschwerden „im Zusammenhang mit dem Handeln der BVG“, wie es aus der Pressestelle heißt, elf mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Zu Gerichtsverfahren kommt es selten. Jeremy Osborne ist der Erste, der mit einer Klage gegen die BVG vor Gericht Erfolg hat. Im April dieses Jahres aber beschäftigte ein ähnlicher Fall die Berliner Justiz. Ein Fahrscheinkontrolleur aus Neukölln wurde vom Amtsgericht Tiergarten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Haftstrafe von acht Monaten und zu 2000 Euro Schmerzensgeld verurteilt.

Der 22-Jährige, ebenfalls bei dem Subunternehmen B.O.S. beschäftigt, hatte, ebenfalls in Zivil, den schwarzen US-Amerikaner Abbeý Odunlami am U-Bahnhof Weberwiese nach einem Streit um sein Ticket auf die Bahnhofsfliesen geschleudert und um ein Haar umgebracht. (Die Berliner Zeitung berichtete.) Auch dieses Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Beide Seiten gingen in Berufung.

Abbéy Odunlami hat inzwischen die Stadt verlassen, weil er sich in Berlin nicht mehr sicher fühlt. Jeremy Osborne bleibt in der Stadt. Im Moment fahre er lieber Rad als U-Bahn, weil er immer noch Angst habe, sagt er, hoffe aber, dass die BVG aus Fällen wie seinem lernt und in Zukunft gegen Rassismus und Diskriminierung vorgehen wird.