Titelgeschichte

Kontrolleure bringen Fahrgast fast um: Wie eine BVG-Ticketkontrolle eskaliert

Es ist eine normale Fahrscheinkontrolle, dann wird Abbéy Odunlami brutal zusammengeschlagen. Wer sind die Täter? Wenn es um Rassismus geht, wird die BVG still.

Wer kontrolliert die Kontrolleure? Wie viel Gewalt und Rassismus steckt in den Ticketkontrollen der BVG?
Wer kontrolliert die Kontrolleure? Wie viel Gewalt und Rassismus steckt in den Ticketkontrollen der BVG?Shaheen Wacker

Berlin-Abbéy Odunlami hat es eilig an jenem 16. Dezember 2020, acht Tage vor Weihnachten, sieben Tage bevor seine Frau ihr gemeinsames Kind erwartet. Er kommt von einem Arzttermin und muss in sein Studio in der Herzbergstraße zu einem Online-Termin. Er ist mit dem Rad unterwegs, aber um schneller am Ziel zu sein, trägt er es am U-Bahnhof Rotes Rathaus die Treppe hinunter und steigt in die U5 Richtung Kaulsdorf. Die Fahrkarte kauft er auf seiner Handy-App.

Am Strausberger Platz steigen drei Kontrolleure zu, Abbéy Odunlami zeigt sein Ticket auf dem Handy, der erste Kontrolleur scannt es, läuft weiter, aber der zweite bleibt vor ihm stehen und fordert ihn auf, an der nächsten Station auszusteigen. „Step out!“

Bis zu diesem Moment ist es eine normale Fahrscheinkontrolle, aber nun passiert etwas, kommt es zum Streit, geraten die Dinge außer Kontrolle. Es gibt verschiedene Darstellungen, wie es dazu kommen konnte, aber feststeht: Fünf Minuten später liegt Abbéy Odunlami auf den Fliesen der U-Bahnstation. Sein Schulterblatt ist zertrümmert, sein Schlüsselbein und zwei Rippen sind gebrochen, ein Knochen drückt direkt auf seine Lunge. „Der Arzt, der mich operierte, hat zu mir gesagt, dass ich Glück hatte. Ein, zwei Millimeter tiefer und ich hätte nicht überlebt“, sagt Odunlami.

Er sitzt vor seinem Computer, nicht in Berlin, sondern in seiner Heimatstadt Chicago. Wir sind über Zoom zum Interview verabredet, fast genau ein Jahr nach dem Vorfall an der Weberwiese. Abbéy Odunlami ist 39 Jahre alt, Professor am Kunstinstitut der Hochschule Chicago. Er ist Schwarz. Er will, dass seine Geschichte öffentlich wird, die Männer, die ihm das angetan haben, endlich zur Verantwortung gezogen werden. Er spricht von einem rassistischen Überfall, einem systemischen Problem, einer großen Enttäuschung.

Seine Frau, eine Deutsche, und er haben sich in London kennengelernt, drei Jahre lebten sie zusammen in Chicago, bevor sie im März 2020 nach Berlin zogen. „Meine Frau hat mir versichert, dort ist alles besser, das Gesundheitssystem, die Politik, die Kriminalitätsrate“, sagt Odunlami, „a safe place“. Sie fanden eine Wohnung in Neukölln, er mietete sich ein Studio in der Herzbergstraße in Lichtenberg für die Videokonferenzen mit seinen Chicagoer Studenten, Weihnachten sollte ihre Tochter geboren werden. „Es ging uns gut“, sagt er. Bis er an jenem Tag im Dezember an der Weberwiese aus der U-Bahn stieg.

Geht es gar nicht um das Ticket?

Odunlami sagt, es könne sein, dass er nicht alles verstand, sein Deutsch sei nach ein paar Monaten in Berlin noch nicht so gut gewesen, die Englischkenntnisse der Kontrolleure auch eher begrenzt. Es ging wohl um sein Rad, soviel verstand er, er hatte kein extra Ticket dafür. Er habe nicht gewusst, dass er eins brauchte, sagt Odunlami. Er dachte, er bekomme einen Strafzettel und könne dann weiterfahren. Aber die Kontrolleure behaupteten nun, auch sein anderes Ticket sei nicht gültig, er habe es zu spät gekauft, nicht auf dem Bahnsteig, sondern erst im Zug.

Er hatte den Eindruck, es gehe gar nicht um das Ticket, es gehe darum, dass er Schwarz ist. Das sagte er den Kontrolleuren. Er wehrte sich. Vielleicht hat das die Kontrolleure ja am meisten provoziert.

Man kann sie nicht fragen, die BVG-Pressestelle spricht von einem laufenden Verfahren, zu dem man sich nicht äußern könne. Aber der U-Bahnhof Weberwiese wird überwacht, der Vorfall wurde mit verschiedenen Kameras aus verschiedenen Richtungen gefilmt. Die Videos liegen der Berliner Zeitung vor.

Darauf ist zu sehen, wie die U-Bahn um 12.25 Uhr in den Bahnhof einfährt. Die Türen öffnen sich, ein Mann mit Rad, Maske und Mütze steigt aus, bleibt dicht an der Bahnsteigkante stehen, als würde er gleich wieder einsteigen wollen: Abbéy Odunlami. Ein anderer Mann steht vor ihm, scannt sein Handyticket, zwei andere Männer laufen weiter. Dass sie Kontrolleure sind, erkennt man nur an den Schildern, die um ihren Hals hängen. Sie sehen eher aus wie drei Jungs aus Neukölln, schwarze Haare, Jeans, Kapuzenshirt. Der größte und schwerste trägt eine Kutte mit Fellkapuze.

Die Bahn fährt ab. Die Männer reden, gestikulieren. Wer was sagt, ist nicht zu hören. Die Videos haben keinen Ton. Als Odunlami Richtung Ausgang laufen will, drängen ihn zwei Kontrolleure dicht an die Bahnsteigkante. Odunlami sagt etwas zu ihnen, sehr erregt, sie weichen zurück. Wie bei einem Boxkampf. Der dritte Kontrolleur ist nun auch dabei. Drei gegen einen.

Niemand mischt sich ein oder hilft

Abbéy Odunlami sagt, er habe auf Englisch zu ihnen gesagt: „Was denkt ihr, was passiert, wenn ihr mich auf die Gleise werft? Glaubt ihr wirklich, ihr kommt damit davon?“ Als er weiterläuft, versperren sie ihm den Weg, tänzeln um ihn herum, er holt sein Handy aus der Tasche, das Gesicht einer Frau erscheint auf dem Display, er wirkt verzweifelt, wütend, packt sein Rad, läuft die Treppen hoch, schafft es bis zum ersten Treppenabsatz.

Auf dem Video sieht es aus wie ein Streit unter vier Männern auf einem fast leeren Bahnhof. Es ist mitten im Lockdown, zwei Mädchen bleiben stehen, trauen sich nicht vorbei, laufen auf den Bahnsteig zurück. Niemand filmt mit dem Handy, niemand mischt sich ein, niemand kommt Odunlami zu Hilfe.

Er steht jetzt an der Wand, die Kontrolleure vor ihm. Einer zieht an seiner Jacke, der Dicke fasst ihn an die Schulter, links, rechts. Odunlami stößt ihn mit beiden Händen weg, der Dicke packt ihn, hebt ihn an und schleudert ihn mit voller Wucht auf die Bahnhofsfliesen, kniet sich auf ihn, minutenlang, lässt erst von ihm ab, als die Polizei kommt.

Vor seinem Bildschirm in Chicago bricht Abbéy Odunlami die Stimme, wenn er davon erzählt: Wie die Kontrolleure ihm den Weg versperrten, wie er seine Frau anrief, wie sie, im neunten Monat schwanger, versuchte, zu verhandeln, was er für Angst hatte, wie er weglief, die Männer ihn einholten und der Größte, „mindestens doppelt so schwer wie ich“, ihn auf den Boden warf.

Die Polizisten, sagt Odunlami, hätten ihn wie den Täter behandelt und nicht wie das Opfer. „Während ich schwer verletzt auf den Rettungswagen wartete, gaben sie mir noch meinen Bußgeldbescheid.“ Der Rettungswagen bringt ihn ins Krankenhaus Friedrichshain. Als er ein paar Tage später operiert wird, bekommt seine Frau in einem anderen Krankenhaus ihr Kind. Ohne ihn. Das war das Schlimmste, sagt er. Nicht bei der Geburt dabei zu sein, monatelang wegen der Schmerzen nicht seine Tochter in den Armen halten zu können. Noch immer fällt es ihm schwer. Seine Schulter, sagt er, werde wohl nie wieder heilen.

Werden die Täter zur Verantwortung gezogen?

Als er aus dem Krankenhaus entlassen wird, stellt er Anzeige bei der Polizei und wartet darauf, dass die Täter zur Verantwortung gezogen werden und sich die BVG bei ihm entschuldigt. Stattdessen bekommt er Mahnschreiben wegen des fehlenden Tickets zugeschickt, und im Februar 2021, zwei Monate nach dem Vorfall, sieht er einen der Männer in der U-Bahn wieder, bei einer Fahrscheinkontrolle. Als wäre nichts geschehen.

Die BVG, ein landeseigenes Unternehmen, macht mit dem Slogan „Weil wir dich lieben“ Werbung und hat erst kürzlich aus politisch korrekten Gründen das Wort „Schwarzfahren“ aus ihrem Vokabular genommen. Aber wenn es um Rassismus in den eigenen Reihen geht, werden sie plötzlich still.

Die Berliner Zeitung fragte für diesen Artikel bei der BVG-Pressestelle nach: „Hat die BVG sich bei Herrn Odunlami gemeldet, sich entschuldigt und Unterstützung angeboten? Welche Konsequenzen hatte der Vorfall für die betroffenen Kontrolleure? Sind die Kontrolleure weiterhin im Einsatz?“ Keine Antwort, mit Hinweis auf das laufende Verfahren.

Sechs Wochen nach dem Vorfall an der Weberwiese erfahren Anna-Rebekka Helmy und Achan Malonda von dem Fall, zwei Schwarze Berlinerinnen, die zur Antirassismus-Initiative „Black Womxn Matter“ gehören. Helmy nimmt Kontakt zu Abbéy Odunlami auf, lässt sich von seiner Ticketkontrolle erzählen. Ihr Eindruck: „Ein klarer Fall von Racial Profiling“. Und offensichtlich nicht der einzige. Ihre Internetrecherche bringt andere, ähnliche Fälle ans Licht. „Da tauchten Berichte über gewalttätige Kontrolleure auf, die bis zum Jahr 2003 zurückgehen“, sagt Helmy, die selbst Journalistin ist. Am 23. Februar 2021 starten sie und ihre Mitstreiterinnen die Petition #BVGWeilWirUnsFürchten: „Stoppt Diskriminierung und Gewalt durch Kontrolleur*innen der BVG und der S-Bahn Berlin!“

Die Debatte nimmt Fahrt auf

Seitdem nimmt die Debatte Fahrt auf, melden sich immer mehr Menschen, die von Kontrolleuren angegriffen wurden, 50 sind es bis heute. „Die Dunkelziffer ist aber viel höher“, sagt Helmy. „Wir sind ja keine offizielle Beschwerdestelle.“ Sie erzählt von einer jungen Amerikanerin, die aus Angst vor Kontrolleuren am S-Bahnhof Frankfurter Allee ins Gleisbett sprang, von einem schwarzen Opernsänger, der am Alexanderplatz auf eine Bank gedrückt und geschlagen wurde, von einer schwarzen Britin, die von Kontrolleuren betatscht wurde, obwohl sie immer wieder „Don’t touch me“ gerufen hatte.

„Menschen, die kein Deutsch sprechen, kriegen ganz viel Shit ab in Berlin“, sagt Helmy. Betroffen seien auch viele Frauen, Minderjährige, queere Personen. „Mir ist kein Fall bekannt, in dem es einen weißen, deutschen, hetero Mann getroffen hat.“

Beschwerde bei der BVG einzureichen, berichteten die Opfer, sei schwierig, das Verfahren „komplett intransparent“. Außerdem, fand Helmy heraus, sind drei Viertel der Kontrolleure bei Subunternehmen beschäftigt und die BVG habe deshalb oft keinen direkten Zugriff auf sie. „Die haben ihre eigenen Verträge, ihre eigenen Klauseln, und die BVG-Verantwortlichen verstecken sich dahinter.“ Von Odunlamis Fall hätten sie erst durch die Petition gehört.

Nach dem Angriff musste Abbéy Odunlami eine Auszeit von Berlin nehmen. Er wohnt jetzt in Chicago.
Nach dem Angriff musste Abbéy Odunlami eine Auszeit von Berlin nehmen. Er wohnt jetzt in Chicago.Privat

Stimmt das?

Die BVG „kann“ dazu wieder „keine Stellung nehmen“, wegen des laufenden Ermittlungsverfahrens, aber bestätigt zumindest, dass es sich um eine Subfirma handelt. „Das Dienstleistungsunternehmen B.O.S. Berliner Objektschutz und Service Eltan GmbH ist seit 2018 als Fahrausweisprüfdienst im Auftrag der BVG tätig“, schreibt der BVG-Sprecher.

Sind die Fälle Verfehlungen einzelner, wie die BVG behauptet

Wolfgang Ranke ist Bereichsleiter bei B.O.S. Am Telefon will er sich ebenfalls „zum Fall selbst“ nicht äußern, er kenne ja nicht mal die Videoaufnahmen, sagt er, versichert aber: „Die betroffenen Mitarbeiter sind nicht mehr im Einsatz.“ Auf die Frage, ob seine Firma es versäumt habe, die BVG über den Vorfall zu informieren, sagt er: „Dazu kann ich nichts sagen, aber normalerweise weiß die BVG zuerst von solchen Sachen.“

Anna-Rebekka Helmy und Achan Malonda haben sich nach dem Start der Petition zweimal mit BVG-Verantwortlichen getroffen. Die BVG-Chefin, der Sicherheitschef und die Marketing-Chefin seien dabei gewesen, erzählt Helmy. Die BVG hätte die Beschwerden ernst genommen, bewerte die Fälle aber als Verfehlungen Einzelner. „Das Problem ist das Gesamtsystem, die undurchsichtigen Strukturen“, sagt Helmy.

Wie Odunlami spricht sie von einem „systemischen Problem“ und meint damit auch die Bezahlung der Kontrolleure, ihre Ausbildung, ihre Erscheinung. „Bis Dezember trugen sie keine Uniform, waren überhaupt nicht als Kontrolleure erkennbar“, sagt Helmy. „Man hat das Gefühl, man wird von einer Gang attackiert“, sagt Odunlami.

Und dann sind da noch die Gerüchte, die Kontrolleure bekommen einen extra Bonus für jedes Ticket, das sie ausstellen: Je mehr Fälle, desto mehr Gehalt. Bereichsleiter Ranke von der B.O.S. sagt dazu: „Die Kontrolleure werden nach Tarif bezahlt. Wieviel das ist, kann ich Ihnen nicht sagen.“

Kontrolleure betrügen Touristen

Einer Firma, der Wisag GmbH, wurde gekündigt, weil ihre Kontrolleure Touristen betrogen und die Staatsanwaltschaft 2018 Anklage wegen Körperverletzung in mehreren Fällen erhoben hatte. Aber auch danach kam es immer wieder zu Übergriffen bei Fahrscheinkontrollen. Und viele werden gar nicht bekannt, weil die Opfer keine Beschwerde einreichen, und wenn sie es tun, lernen müssen, wie schwierig die Beweislage ist.

Kontrolleure im Sicherheitsdienst haben das Recht, Fahrgäste ohne gültiges Ticket „mit verhältnismäßigen Mitteln“ aufzuhalten, bis die Polizei kommt. „Auf dieses Recht berufen sie sich, aber manche dehnen es gefährlich aus, bringen Menschen zu Boden, fixieren sie“, sagt Helmy. Sie vergleicht die kriminellen Kontrolleure mit „Wegelagerern im Dienst eines Verkehrsunternehmens, die auf ihre Opfer warten“. Sie seien in einer Machtposition, „und die nutzen sie aus, auch, weil es bislang kaum Konsequenzen gab“.

Wolfgang Ranke von der Sicherheitsfirma B.O.S. stellt die Situation ganz anders dar. Es seien nicht die Fahrgäste, sondern die Kontrolleure, die Angriffen ausgesetzt seien. In der Pandemie sei es besonders schlimm, deshalb werde gerade nur noch „äußerst vorsichtig“ kontrolliert. Neulich sei einer sogar angegriffen worden, ohne ein Ticket ausgestellt zu haben, „einfach nur, weil er kontrolliert hat“. Anzeigen gegen Fahrgäste, sagt Ranke, liefen aber oft ins Leere, „weil es meistens gleich zu einer Gegenanzeige kommt und das Ermittlungsverfahren eingestellt wird“.

Die BVG gibt sich einsilbig

Petitionsstarterin Helmy hat von dieser Methode gehört, aber genau umgekehrt: Die Kontrolleure drehen den Spieß um und behaupten, der Fahrgast habe angefangen, gespuckt oder geschlagen. Da sie stets mit Kollegen unterwegs sind, haben sie Zeugen, die für sie aussagen können, im Gegensatz zum Fahrgast, der meist allein mit seiner Aussage dasteht. Wenn er Pech hat, wird am Ende auch noch gegen ihn ermittelt.

So ist es auch bei Abbéy Odunlami. Die BVG teilt mit: „Das Ermittlungsverfahren in dieser Sache wird in beide Richtungen geführt, d.h. auch gegen Herrn Odunlami.“ Der hat von seinem Anwalt erfahren, dass die BVG ihm gefährliche Körperverletzung vorwirft, dass die Kontrolleure behaupten, sie hätten ihn aus reiner Notwehr auf den Boden geworfen. Odunlami habe sein Rad benutzt, um sie zu attackieren, sie geschubst und in die Hand gebissen.

Auf den Videos ist davon nichts zu sehen.

Im Zoom-Gespräch in Chicago sagt Abbéy Odunlami, er verstehe das alles nicht, warum er jetzt der Täter sein soll, warum die Staatsanwaltschaft noch immer keine Anklage erhoben hat, sich die BVG nicht bei ihm entschuldigt. Er wirkt müde, ratlos, erschöpft.

Im Juni 2021 hat seine Frau einen Brief an die Marketingchefin der BVG geschrieben: „Guten Tag! Gestern war es sechs Monate her, dass mein Mann Herr Dr. Abiodun Odunlami von drei Kontrolleuren an der Haltestelle Weberwiese umzingelt, angegriffen und schwer verletzt wurde.“ Seit dem Vorfall hätten sie nicht „ein einziges Signal der Anteilnahme oder des Bedauerns“ erhalten. „Stattdessen wurden wir mit Aufforderungen von Ticketbeweisen, Mahnbriefen und Inkassoschreiben bombardiert.“

Die BVG behauptet, diesen Brief nie bekommen zu haben.

Das Opfer lebt jetzt in Chicago

Als das Jahr 2021 zu Ende ging, haben der Kunstprofessor und seine Frau beschlossen, erstmal zurück nach Chicago zu gehen. In Pandemie-Zeiten können beide im Homeoffice arbeiten und ihre alte Wohnung hatten sie zum Glück noch nicht aufgegeben. Dort sitzt Odunlami jetzt vor dem Bildschirm, im Hintergrund ist seine kleine Tochter zu hören. „Wir brauchten Abstand, Ruhe, das Gefühl, dass sich jemand um uns sorgt“, sagt er. Chicago hat eine viel höhere Kriminalitätsrate als Berlin, aber als Schwarzer fühlt er sich dort, so seltsam das klingt, sicherer. Weil er Teil einer Community ist, die ihn unterstützt, die in Zeiten von Black Lives Matter Druck macht gegenüber Behörden und Autoritäten, anstatt sich schön klingende Werbeslogans auszudenken.

Drei Monate wollen er und seine Frau erstmal in Chicago bleiben. Bis dahin, hoffen sie, beginnt endlich der Gerichtsprozess gegen die Kontrolleure. Aber der Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft bestätigt mehr als ein Jahr nach der Tat lediglich, dass es im Fall Odunlami ein laufendes Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung gegen drei BVG-Kontrolleure gibt. Wann es abgeschlossen wird, ob es zu einer Anklage kommt, weiß er nicht.

Auch die BVG hat sich noch immer nicht bei Odunlami entschuldigt, aber – so scheint es – erste Konsequenzen aus seinem Fall gezogen. Anna-Rebekka Helmy berichtet, dass Fahrscheinkontrolleure in der U-Bahn seit Neuestem gelbe Westen tragen müssen, damit man sie erkennt. Außerdem gibt es im Beschwerdeformular der BVG einen neuen Stichpunkt zum Ankreuzen: Diskriminierung.


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