Krieg in der Ukraine

Ein Stück Heimat: Wie Ukrainer in Berlin auf die Weihnachtszeit blicken

Zehn Monate nach dem russischen Überfall wirft der Krieg einen Schatten auf die Weihnachtszeit. Wir haben Ukrainer in Berlin gefragt, wie sie damit umgehen.

Am Schloss Charlottenburg isst man ukrainisch: Andrei Nikolenko (M.) mit seinen Kolleginnen Cèline Kochmann (l.) und Tanja Rakschejewa (r.) an ihrem Stand am Weihnachtsmarkt.
Am Schloss Charlottenburg isst man ukrainisch: Andrei Nikolenko (M.) mit seinen Kolleginnen Cèline Kochmann (l.) und Tanja Rakschejewa (r.) an ihrem Stand am Weihnachtsmarkt.Gerd Engelsmann

Eine Frau nimmt eine Tasse mit blauen und gelben Sonnenblumen in die Hand. Sie liegt auf einem Tisch mit handgemachten Tellern, Schüsseln und Schalen in Form von Pflanzenblättern, Katzen oder sogar einem Spiegelei für den Frühstückstisch. Der Weihnachtsmarkt für Kunsthandwerk in der Preußenallee hat noch nicht einmal eine Stunde geöffnet. Die Frau zeigt die Kaffeetasse der Verkäuferin, Viktoriia Deputat. Diese zeigt auf ihre Freundin Switlana Levochko und sagt stolz: „Die Tasse hat meine Freundin in Charkiw gemacht.“

Die beiden Frauen verbindet nicht nur die Leidenschaft fürs Töpfern, sondern auch eine Freundschaft, die in ihrer Heimatstadt Charkiw, die zweitgrößte Stadt der Ukraine, vor 30 Jahren begann. Aber was in ihrem Heimatland vor sich geht, wirft einen Schatten auf die Weihnachtszeit in diesem Jahr: Am Heiligabend sind zehn Monate seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine am 24. Februar vergangen.

Millionen Ukrainer werden die Weihnachtszeit auf der Flucht in anderen Ländern, unter Bombenangriffen und Stromausfällen oder in Sorge um ihre Familie in der Heimat verbringen werden müssen. Eine Zeit, die normalerweise für Wärme und Zusammenhalt steht, kommt nach einem Jahr, das für viele von Trennung und Blutvergießen geprägt war.

Viktoriia wohnt seit sechs Jahren in Potsdam, Switlana besucht sie schon zum zweiten Mal seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar. Sie kam ausgerechnet wieder zur Weihnachtssaison, um ihre Arbeiten zusammen mit Viktoriia auf den Weihnachtsmärkten in Berlin und Potsdam zu verkaufen – damit sie in Charkiw ein bisschen besser über die Runden kommt. Am vierten Advent war das Paar zum letzten Mal auf einem Berliner Markt unterwegs. Aber schon die Vorbereitungen für den Besuch haben ihr gutgetan, sagt Switlana. „Wenn du einfach da in dieser Hilflosigkeit rumsitzt und nichts tust, dann brichst du schnell zusammen“, sagt sie. Sie musste manchmal die ganze Nacht hindurch arbeiten, wenn in Charkiw der Strom wieder eingeschaltet wurde, um all die Keramikstücke zu brennen, die sie nach Berlin bringen wollte.

„Wenn wir keinen Krieg hätten, wäre Charkiw so beleuchtet wie Berlin“

Solche Stromausfälle sind inzwischen normal geworden in Charkiw. Switlana hat sich seit März in den ruhigeren Außenbezirken der Stadt versteckt, weit weg von ihrer Wohnung im Stadtzentrum. Die ersten Tage nach dem 24. Februar verbrachte sie aber im Luftschutzkeller unter dem Palast der Arbeit, einem denkmalgeschützten Gebäude aus dem Jahr 1914. „Es war wie im Zweiten Weltkrieg“, sagt sie. „Die Bombardierungen waren endlos, ich habe einfach eine Tasche gepackt und bin zum Bunker gerannt.“ Nach einer Woche beschloss sie, nach Hause zurückzukehren; am 2. März wurde der Palast von russischen Raketen getroffen und weitgehend zerstört.

Wieder vereint in Berlin: Viktoriia Deputat (l.) und Switlana Levochko aus Charkiw.
Wieder vereint in Berlin: Viktoriia Deputat (l.) und Switlana Levochko aus Charkiw.Gerd Engelsmann

Charkiw wird immer noch bombardiert, der Strom fällt manchmal tagelang aus, aber es wird trotzdem versucht, so weit wie möglich für eine Weihnachtsstimmung in der Stadt zu sorgen: Ein leuchtender Weihnachtsbaum ist in der Charkiwer U-Bahn aufgestellt worden. Switlana findet, das sei ein starkes und notwendiges Zeichen: „Die Kinder brauchen so was noch, die Erwachsenen dieses kleine Stück Normalität eigentlich auch“, sagt sie. „Wenn wir keinen Krieg hätten, wäre alles beleuchtet wie im Zentrum von Berlin.“

Viktoriia blickt eher mit schwierigen Gefühlen auf das Weihnachtsfest. „Ich habe die Wohnung geschmückt, aber ich habe nicht dieses übliche Weihnachtsgefühl“, sagt sie. Der Krieg betrifft sie trotz der Entfernung immer noch schwer – und hat auch für Schwierigkeiten in ihrer Familie gesorgt. Ihre Schwester, die auch in Deutschland lebt und mit der sie normalerweise die Weihnachtszeit verbringt, hat eine ganz andere Sicht auf den Krieg.

Meinungsverschiedenheiten zum Krieg spalten ukrainische Familien

„Es ist ihr ganz egal, was in der Ukraine passiert“, sagt Viktoriia, ihre Schwester habe russische Freundinnen, die für Putin einstehen, die glauben, auch die Ukraine hätte Schuld an diesem Krieg. Inzwischen hat Viktoriia fast keinen Kontakt mehr zu ihr. „Es ist sehr schmerzhaft“, sagt sie. Sie hat sich demgegenüber viel für ihr Land in diesem Jahr engagiert, sie hat mehr als 10.000 Euro in Spenden für die Ukraine gesammelt und organisierte im Sommer eine Ausstellung mit Kinderbildern, die den Alltag in der Charkiwer U-Bahn zeigten, wo die Menschen Schutz vor Bomben suchen.

Dass jetzt auch ein Tannenbaum in der Charkiwer U-Bahn steht, ist nur ein Zeichen dafür, dass die Ukrainer trotz des Krieges die Weihnachtszeit noch so gut wie möglich feiern wollen. So wurden auch am Montag, dem Nikolaustag des orthodoxen Kalenders, überall in der Ukraine Süßigkeiten und Schokolade an Kinder verteilt – eine Tradition, die auch der Krieg nicht aufhalten kann. In der Ukraine wird Weihnachten allerdings sehr unterschiedlich gefeiert, je nachdem, in welcher Region man wohnt oder welcher Religion man angehört.

Im Osten der Ukraine, wo Switlana und Viktoriia herkommen, wird eher im orthodoxen Stil gefeiert, wobei der Weihnachtstag nach dem gregorianischen Kalender auf den 7. Januar fällt. Im Westen der Ukraine wird in manchen Gemeinden nach dem westlichen christlichen Zeitplan gefeiert. Der 25. Dezember sowie der 1. Januar sind aber gesetzliche Feiertage im ganzen Land, für viele Ukrainer gelten also die Wochen zwischen Mitte Dezember und Mitte Januar als eine festliche Zeit.

Der Höhepunkt ist für viele Familien das traditionelle Essen am Heiligabend, unabhängig davon, nach welchem religiösen Kalender man sich richtet. Zum ukrainischen Weihnachtstisch gehören zwölf Gerichte, darunter viele Klassiker wie Borschtsch, Warenniki (Teigtaschen mit Kartoffel- oder Fleischfüllung) und Holubtsi (Kohlrouladen). Das Wesentliche ist aber wohl Kutja – eine süße Speise unter anderem aus Weizen, Nüssen, Rosinen und Mohn.

Kutja: Ein Klassiker des ukrainischen Weihnachtstisches und Glücksbringer für das neue Jahr. 
Kutja: Ein Klassiker des ukrainischen Weihnachtstisches und Glücksbringer für das neue Jahr. Gerd Engelsmann

Dass ausgerechnet Kutja vom ukrainischen Weihnachtstisch nicht fehlen darf, macht sie zum Hit am Weihnachtsmarkt vor dem Schloss Charlottenburg. Dort verkaufen zwei Stände ukrainisches Essen; am Stand des Charkiwers Andrei Nikolenko gibt es neben Kutja auch Borschtsch, Pilzsuppe und Brotsnacks mit Gurken und dem klassischen ukrainischen Rückenspeck Salo. Nikolenko ist beruflich in der Catering-Branche unterwegs, er durfte Charkiw verlassen, um auf den Weihnachtsmärkten in Berlin ukrainisches Essen zu servieren. 

Im Hintergrund erklingt eine Instrumentalversion von Schtschedrik – des ukrainischen Chorlieds zur Begrüßung des neuen Jahres, das im Westen als das Weihnachtslied „Carol of the Bells“ bekannt geworden ist. Viele haben erst in diesem Jahr von den ukrainischen Ursprüngen des Lieds erfahren; Andrei Nikolenko sagt, es habe seinen ukrainischen Kunden offensichtlich viel bedeutet, diese Musik zu hören und auch traditionelles Weihnachtsessen genießen zu können. „Es ist für sie wie ein Stück Heimat“, sagt er. „Da wächst auch für uns die festliche Stimmung, wenn wir den Menschen so dieses kleine bisschen Freude schenken können.“

Auch zu Weihnachten sollte man den Krieg nicht vergessen

Außer ukrainischem Essen werden auf dem Markt vor dem Schloss Charlottenburg Weihnachtsschmuck im Stil der traditionellen Petrykiwka-Malerei und ukrainische Souvenirs im Info-Zelt verkauft – der Erlös wird an humanitäre Hilfsorganisationen in der Ukraine gespendet. Im Zelt gibt es auch eine Fotoausstellung, die die russischen Gräueltaten in der Ukraine zeigt, mit ausgebrannten Autos und zerstörten Hochhäusern. 

Andrei Nikolenko findet es richtig, den Krieg so zu thematisieren, trotz der Festlichkeiten vor dem Zelt  – offenbar haben die Bilder bei seinen Kunden einen starken Eindruck gemacht. „Für viele sind das Bilder wie aus einer Parallelwelt, aber viele haben sich sogar bedankt, an sie erinnert zu werden“, sagt er. „Es öffnet ihnen die Augen für die Realität in der Ukraine.“ 

Nach dem letzten Tag des Markts am 26. Dezember fährt Andrei zurück nach Charkiw; er freut sich darauf, Silvester mit Freunden zu feiern, hoffentlich auch mit Licht und Wärme. Wenn dieser Text erscheint, ist Switlana Levochko bereits unterwegs nach Charkiw. Sie wolle nach Hause, könne sich nicht vorstellen, die Feiertage woanders zu verbringen. Die Weihnachtszeit sei für sie „eine Zeit, in der man nach vorne blicken kann“.

Wenn man Andrei, Switlana und Viktoriia fragt, was sie sich zum Jahr 2023 wünschen, fällt ihnen nur ein ukrainisches Wort ein: Peremoha – Sieg. Für Switlana ist das aber viel weniger ein Wunsch als eine Frage der Zeit. „Der Sieg wird sicher unser sein“, sagt sie. „Wir müssen nur diesen Winter überstehen.“