Personalmangel

Wie Grippe und Erkältungen die Krisen Berlins verschärfen: „Es wird ein harter Winter“

Eine riesige Erkältungswelle hat Berlin erfasst. Schulen, Kitas, Kliniken schlagen Alarm. Unterwegs in einer Stadt mit bedrohlich hohem Krankenstand.

Viele Kinderkliniken sind wegen der Infektionswelle stark überlastet. 
Viele Kinderkliniken sind wegen der Infektionswelle stark überlastet. dpa/Christoph Soeder

Ein Mädchen hustet, es ist ein trockener, stoßender Husten. Das Kind hält einen Plüsch-Seehund im Arm, sein Vater liest ihm etwas vor. Aus der Ecke der medizinischen Fachangestellten am Eingang klingt ebenfalls ein trockener Husten. Und schon kommt der nächste Patient, ein Mann im mittleren Alter, er schnaubt sich die Nase, und auch er hat einen lästigen Husten. Es ist das Geräusch dieser Tage in Berlin. Die Stadt hustet. Und sie hat Schnupfen, Halsweh, sie niest, sie liegt mit Fieber im Bett.

Es ist Freitag, kurz nach neun, das Wartezimmer der HNO-Praxis von Antonio Jivanjee am Bundesplatz füllt sich. An diesem Freitag ist zum Glück etwas weniger los als am Tag zuvor. Da kamen allein am Vormittag 50 Patienten, erzählt Jivanjee, „30 davon mit Atemwegserkrankungen“. Er teilt sich die Praxis mit einer zweiten Ärztin. Alle müssten derzeit schneller arbeiten, sagt Jivanjee, sie würden auch Termine verschieben. „Zum Beispiel den von dem älteren Herrn, der wegen der Hörgerätekontrolle kommt.“ Sie brauchen jede freie Minute für die Akutpatienten.

Dr. Antonio Jivanjee hat eine Praxis am Bundesplatz und ist Vorsitzender des HNO-Verbunds Berlin.
Dr. Antonio Jivanjee hat eine Praxis am Bundesplatz und ist Vorsitzender des HNO-Verbunds Berlin.Berliner Zeitung/Markus Wächter

Von denen gibt es in Berlin gerade mehr als genug. Die Stadt ist von einer Krankheitswelle erfasst, wie es sie lange nicht gab. Man kann es aus den Kurven des Robert-Koch-Instituts (RKI) ablesen, die angeben, wie viele Menschen gerade mit Atemwegsinfekten zum Arzt gehen, sie zeigen für Berlin und Brandenburg seit Mitte November steil nach oben und liegen weit über denen des Vorjahres.

Man spürt es in jedem Büro, jeder Dienststelle, in den Schulen und Kitas der eigenen Kinder. Die Kollegen, die Lehrer, die Mitschüler – gefühlt sind alle krank.

Seit Menschen wieder in Büros und Fabriken eng zusammenarbeiten, auf Weihnachtsfeiern tanzen, seit das Leben wieder läuft wie vor der Pandemie, verbreiten sich auch die Erkältungsviren wieder wie vorher. Viele Menschen haben in den vergangenen Jahren keine schwere Erkältung durchgemacht, sodass sie jetzt besonders stark betroffen sind oder sich kränker fühlen. Auch Corona-Fälle gibt es natürlich weiterhin. Viele Erkrankte aber machen Test um Test. Und stellen fest: Es muss wohl etwas anderes sein.

Bei der Polizei ist jeder Fünfte krank

In diesem Jahr verläuft die Erkältungswelle, nach allem, was man bisher weiß, vergleichsweise heftig. In ganz Deutschland litten in der zweiten Dezemberwoche etwa 9,3 Millionen Menschen an einer akuten Erkrankung der Atemwege, heißt es im Wochenbericht des RKI. Diese Zahl liege „über dem Niveau der Vorjahre zum Höhepunkt schwerer Grippewellen“. Auch die Zahl der Menschen, die wegen Erkältungssymptomen eine Arztpraxis aufsuchen (in der zweiten Dezemberwoche 2,3 Millionen), liege „in einem Bereich, der sonst nur in Spitzenwochen starker Grippewellen erreicht wurde“.

Der HNO-Arzt Antonio Jivanjee sagt, er sei von den vollen Wartezimmern in Berlin nicht überrascht. Es habe sich auch die Wahrnehmung verändert, durch die Pandemie, glaubt er. Die Erkältungswelle wirke „ein bisschen krasser“, die Wartezimmer voller, „weil die Leute während Corona seltener zum Arzt gegangen sind“.

In Berlin legt die starke Krankheitswelle eine bekannte Notlage offen: den Personalmangel in fast allen Bereichen der öffentlichen Versorgung. Die Charité hat in dieser Woche alle planbaren Operationen abgesagt, erst mal bis Jahresende, Grund: zu viele erkrankte Kollegen. Bei der S-Bahn sind fast 14 Prozent der Triebfahrzeugführer krankgeschrieben, zwei Linien wurden eingestellt. Die BVG teilte am späten Freitagnachmittag mit, dass Fahrpläne der Straßenbahn ausgedünnt werden müssen, das Angebot der Linie 12 wird halbiert. Wegen der hohen Krankenstände könne es auch bei U-Bahnen und Bussen „aktuell im gesamten Stadtgebiet zum Ausfall von Fahrten kommen“.

Bei der Polizei fällt nach Gewerkschaftsangaben derzeit jeder fünfte Beamte aus. Bei der Feuerwehr liegt der Krankenstand dem Vernehmen nach bei 17 Prozent. Die Arbeitsfähigkeit sei nicht eingeschränkt, heißt es. Bei den Berliner Wasserbetrieben ist es noch nicht ganz so schlimm. In dem landeseigenen Unternehmen liegt die „Gesundheitsquote“ nach Angaben des Sprechers Stephan Natz – der bis vor kurzem ebenfalls krankgeschrieben war – bei etwa 90 Prozent. Fast jeder Zehnte ist krank.

Das Besteck des HNO-Arztes Antonio Jivanjee.
Das Besteck des HNO-Arztes Antonio Jivanjee.Berliner Zeitung/Markus Wächter

Die Krankenkasse AOK, bei der die Berliner Zeitung nach Daten der Versicherten zur Erkältungswelle in der Region fragte, teilte mit, man würde die Daten gern bereitstellen. Leider seien derzeit aber die zuständigen Mitarbeiter krank. Ein Kinderarzt, der in seiner Praxis Auskunft über die aktuelle Lage geben wollte, musste den Termin wieder absagen. Auch er ist erkrankt.

Bei den allermeisten Patienten, die wegen Husten, Schnupfen oder Fieber zum Arzt gehen, wird nicht im Labor bestimmt, welcher Erreger sie krank gemacht hat. Doch wenn eine solche Bestimmung vorgenommen wurde, kam laut RKI dabei zuletzt heraus, dass mehr als die Hälfte eine Influenza hatte, 18 Prozent der Erkrankten hatte das Respiratorische Synzytial-Virus erwischt, kurz RSV.

Kinderärztin: „Wir wussten, dass die Umstände prekär sind“

Es ist das Virus, dass derzeit vor allem vielen Kindern schwer zu schaffen macht. Es ist kein neues Virus, sondern ein alter Bekannter. Jedes Kind bekommt es irgendwann, es gibt keine Impfung gegen RSV. Doch in den vergangenen Jahren steckten sich weniger Kinder an, weil die Kitas geschlossen waren, die Kontakte beschränkt. Nun bekommen es mehrere Jahrgänge auf einmal. Schwere Verläufe, die vor allem bei sehr kleinen Kindern oder Babys auftreten, sind zum Glück eher selten. Aber jetzt ballen sich auch diese Fälle. Die Folge: Die Betten auf den Intensivstationen für Kinder sind äußerst knapp.

Beatrix Schmidt ist Chefärztin am St.-Joseph-Krankenhaus in Tempelhof, einem Krankenhaus mit großer Kinder- und Jugendstation. In den vergangenen Wochen sei des Öfteren mal die Sorge groß gewesen, dass Kinder in der Zentralen Notaufnahme übernachten müssten. Aber bisher habe sich immer irgendwie noch ein Bett gefunden, sagt sie, wenn auch mitunter in anderen Städten. Die Atemwege von Babys können bei einer RSV-Infektion schnell zuschwellen, sie brauchen dann dringend Sauerstoff.

Zwei Drittel der Patienten in ihrer Kinderklinik seien an Atemwegsinfekten erkrankt, sagt Chefärztin Schmidt. Auch „extrem viele Pflegekräfte“ seien krank. Einige Kollegen, die eigentlich frei gehabt hätten, mussten bereits einspringen. „Schon im letzten Winter wussten wir, dass die Umstände prekär sind“, sagt Schmidt. „Aber dann kamen Frühling und Sommer und nichts hat sich getan.“ Und jetzt sei der Personalmangel so massiv, dass Kinderärzte förmlich Angst davor hätten, dass irgendetwas Schlimmeres bei zwei Patienten gleichzeitig passiere, aber nicht genügend Personal für beide Fälle da sei. „Das Ende des Tunnels kommt eigentlich erst, wenn die Monate vorbei sind, die auf r enden“, sagt Beatrix Schmidt.

Ziyad Salem betreut seinen achteinhalb Monate alten Sohn Omran Salem, der mit einem Atemwegsinfekt auf der Intensivstation der Kinderklinik des St.-Joseph-Krankenhauses liegt.
Ziyad Salem betreut seinen achteinhalb Monate alten Sohn Omran Salem, der mit einem Atemwegsinfekt auf der Intensivstation der Kinderklinik des St.-Joseph-Krankenhauses liegt.dpa/Christoph Soeder

Für Sebastian Büttner ist gerade jedes kranke Kind ein Segen. Auch wenn es dem Kita-Erzieher ein ungutes Gefühl bereitet, es so zu sehen. Er arbeitet seit elf Jahren in einer Kita in Baumschulenweg. In den letzten Wochen hat er erlebt, wie eine Kollegin nach der nächsten ausfiel und plötzlich nur noch 50 Prozent der Erzieher da waren. „Da atmet man erleichtert durch, wenn ein Elternteil anruft und sein Kind krankmeldet“, sagt er.

Kita-Erzieher: „Zu einer Kinder-Verwahranstalt geworden“

Normalerweise sind sie in der Kita pro Gruppe zu fünft: Vier Fachkräfte und ein Azubi kümmern sich um 25 Kinder. Doch seit sechs Wochen teilt Büttner sich die Schichten mit nur noch einer Kollegin. Ihre Gruppe ist deswegen aufgeteilt, die älteren Kinder sind auf die anderen Gruppen verteilt worden. Büttner und seine Kollegin betreuen nun nur noch die zwölf jüngsten in der Kita, Altersspanne: 16 Monate bis fünf Jahre. Immer häufiger kommt es nun vor, dass Büttner mit den Kindern ganze Stunden allein ist. Sind sie zu zweit, müssen sie auch anderswo noch aushelfen. „Heute haben wir ab 15 Uhr zu zweit zwei Gruppen beaufsichtigt, also 25 Kinder“, sagt er.

An pädagogische Arbeit sei nicht mehr zu denken. „Wir sind froh, wenn nichts Schlimmeres passiert“, sagt Büttner. „Wir sind zu einer Kinder-Verwahranstalt geworden.“

Ein leeres Klassenzimmer in einer Grundschule in Berlin. 
Ein leeres Klassenzimmer in einer Grundschule in Berlin. dpa/Fabian Sommer

Nuri Kiefer ist Grundstufenleiter der Paula-Fürst-Gemeinschaftsschule in Charlottenburg. Wie viele Kinder und Lehrer derzeit in Berlin krank seien, das könne niemand genau sagen, nicht mal der Senat. „Es fällt mir ja schon schwer, in der eigenen Schule den Überblick zu behalten“, sagt Kiefer. „An manchen Tagen fehlen gerade bis zu 40 Prozent der Lehrer, in manchen Klassen sitzt nur noch ein Drittel der Kinder.“ Er habe von Schulen gehört, an denen für ein oder zwei Tagen der gesamte Betrieb eingestellt werden musste. Ein besonderes Problem sei, dass viele Lehrer sich gerade um ihre eigenen kranken Kinder kümmern müssten.

Auch in Kitas und Schulen gilt: Die Krankheitswelle trifft auf ein strukturell geschwächtes, unterbesetztes System. Die Personaldecke ist überall so dünn, dass man schon in guten Zeiten fast hindurchsehen kann. In einer Erkältungswelle reißt sie. „Lehrkräfte und Erzieherinnen leiden unter dem Personalmangel, unter schlechten Arbeitsbedingungen und Überlastung. Viele bezahlen mit ihrer Gesundheit dafür“, sagt Markus Hanisch, Sprecher der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Berlin (GEW). Die GEW hatte deswegen am Donnerstag bereits zum siebten Mal zum Streik aufgerufen. 2500 Lehrer, Kita-Erzieherinnen und Schulpsychologen gingen für mehr Gesundheitsschutz auf die Straße.

HNO-Ärzte nutzen eine Vielzahl an medizinischen Instrumenten, die man so vom Hausarzt nicht kennt.
HNO-Ärzte nutzen eine Vielzahl an medizinischen Instrumenten, die man so vom Hausarzt nicht kennt.Berliner Zeitung/Markus Wächter

Die Krankheitswelle – ob sie nun stärker als in den Jahren vor der Pandemie ist oder genauso stark – zeigt, was Berlin in den kommenden Jahren bevorsteht, wenn immer mehr Menschen in den Ruhestand gehen, ihre Stellen nicht mehr besetzt werden können. Schon jetzt sagt Sebastian Büttner, der Kita-Erzieher: „So schlimm, wie es gerade ist, war es noch nie.“ Er berichtet von Erzieherinnen aus anderen Kitas, die wegen Burnout und Depression ihren Job aufgeben mussten. Auch viele seiner Kollegen wollten nicht mehr weitermachen. Büttner selbst überlegt, in Teilzeit zu gehen und ist sich sicher, dass er diesen Job nicht bis zur Rente durchhalten wird. „Irgendwann hat jeder seine persönliche Kotzgrenze erreicht“, sagt er.

In der HNO-Praxis klingelt das Telefon ohne Pause

Doch die Kita-Erzieher stecken wie alle anderen Angestellten im Bereich der öffentlichen Versorgung wie Polizistinnen, Feuerwehrmänner, Pflegekräfte, Ärztinnen und Lehrer in einer Zwickmühle. „Wenn wir uns nicht kümmern, wer macht es dann?“, fragt Büttner. Was würde helfen? Im Grunde gibt es nur eine Antwort: mehr Personal. „Aber der Markt ist leer“, sagt Büttner. 

Auch Beatrix Schmidt, die Chefärztin aus dem Krankenhaus St. Joseph sagt, dass sie dringend personelle Verstärkung bräuchte, und zwar bald, vielleicht sogar durch Studierende, sonst sei es wahrscheinlich, „dass viel mehr Mitarbeitende krank werden“ oder sich komplett überarbeiten. „Das wird ein harter Winter“, sagt Schmidt. Und dass man den nächsten gut vorplanen müsse.

In der HNO-Praxis von Antonio Jivanjee am Bundesplatz sitzt am Freitagmorgen die medizinische Fachangestellte Iris Wiesner, erschöpft von der Woche. Das Telefon neben ihr klingelt fast ohne Pause. So sei es die ganze Zeit, sagt Wiesner. „Das Personal ist gar nicht da, um alle Anrufe entgegenzunehmen.“ Viele Patienten kämen gerade nicht nur einmal, sondern immer wieder, sie habe das Gefühl, dass auch die Verunsicherung zugenommen habe, die Angst vor den Infekten. Auch Iris Wiesner bleibt am Ende dieser Woche nur eine Hoffnung: „Wir warten auf den Frühling, darauf, dass es wieder besser wird“, sagt sie.

Mitarbeit: Andreas Kopietz, Peter Neumann


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