Mein Name ist Ricardo. Ich bin Intensivpfleger und arbeite als Leiharbeiter in den unterschiedlichsten Kliniken in Berlin und Brandenburg. Wenn ich nicht gerade an den Betten meiner Patienten stehe, gebe ich mir auch gerne mal mit dem einen oder anderen Politiker einen Schlagabtausch – über das Gesundheitswesen und dessen zum Teil katastrophalen Zustände.
Erst heute hatte ich wieder Frühdienst auf einer Intensivstation, der Einzigen, die die Klinik noch zur Verfügung hat. Die Zweite wurde aufgrund von – wer hätte das gedacht – Personalmangel bis auf Weiteres geschlossen. Die Grippewelle macht auch vor uns nicht halt. Andere Kollegen sind Corona-positiv oder haben bereits gekündigt. Hinzu kommt, dass viele Kliniken momentan in einer finanziellen Krise stecken und somit weniger auf Pflegekräfte aus der Zeitarbeit zurückgreifen, um den Personalausfall zu kompensieren. Obwohl nun alle Mitarbeiter beider Stationen ihre Arbeitskraft auf einer gebündelt haben, reicht es hinten und vorne nicht.
Unsere Kapazitäten sind erschöpft, alle Betten belegt. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ein Notfall nach dem anderen bei uns eintrudelt.
Die Überforderung beim Pflegepersonal
Uns bleibt oft nichts anderes übrig, als zum Beispiel sterbende Intensivpatienten mit wachen Patienten zusammenzulegen, die jetzt gezwungenermaßen ganz vorne in der ersten Reihe sitzen und miterleben müssen, wie das Leben eines Menschen zu Ende geht und Angehörige weinend am Bett zusammenbrechen. Selbst der angebrachte Sichtschutz kann weder das schrille Piepen der Überwachungsmonitore noch das Schluchzen der Trauernden ausblenden – eine unzumutbare Zerreißprobe für alle.
Einer meiner heutigen Patienten hat genau das durchleben müssen und ist völlig überfordert in Tränen ausgebrochen. Lange hat er sich mit dem Toten das Zimmer geteilt, bis die Formalien erledigt waren und dieser abgeholt werden konnte.
Einzelfall? Denkste!

Für eine Zeitarbeitsfirma springt Lange in Berliner Krankenhäusern ein, in denen die Personalnot am größten ist. Im Januar hat er ein Buch über den Pflegenotstand veröffentlicht: „Intensiv: Wenn der Ausnahmezustand Alltag ist – Ein Notruf“ (dtv). Er ist Kolumnist der Berliner Zeitung.
Sogar die Charité sagt alle planbaren Eingriffe bis Ende des Jahres ab
Es brennt überall in Deutschland: Kinderkliniken stehen vor dem Kollaps, Mütter liegen mit ihren kleinen Kindern auf den Fluren – wenn überhaupt ein Bettenplatz zur Verfügung steht. Schwerverletzte, Herzinfarkte oder Schlaganfälle müssen teilweise längere Transportwege überstehen, weil auch die Notaufnahmen völlig überfüllt sind und niemanden mehr aufnehmen können. Sogar die Charité sagt alle planbaren Eingriffe bis Ende des Jahres ab, da viele Pflegekräfte und Ärzte fehlen.
Kurzum: Unser Gesundheitswesen pfeift auf dem letzten Loch. Ob Karl Lauterbach das genauso sieht? Es ist noch gar nicht so lange her, da habe ich ihn bei Anne Will gefragt, wann denn in seinen Augen das Gesundheitssystem überlastet sei. Eine konkrete Antwort ist er mir bis heute schuldig geblieben; aber das spielt auch gar keine Rolle mehr, denn die Fakten sprechen für sich.

Es spielt aber sehr wohl eine Rolle, wie er dem patientengefährdenden Personalnotstand entgegentreten wird. Denn dieser wird auch in Zukunft seine Opfer fordern.
Heute wird nicht mehr geklatscht
Bei dem, was auf dem Spiel steht, vermisse ich nicht nur entschlossenes Handeln der Politik, sondern frage mich auch: Wo ist der Aufschrei in der Bevölkerung? Wo sind die Beschwerdebriefe, die sich säckeweise im Bundesgesundheitsministerium stapeln sollten? Wo sind die Mütter und Väter, die auf die Barrikaden gehen, weil die Versorgung ihrer Kinder in einer Notfallsituation nicht mehr sicher gewährleistet werden kann? Unzählige haben auf den Straßen gegen die Maskenpflicht protestiert, Tausende gehen regelmäßig für das Klima demonstrieren. Wenn es aber um Menschenleben geht, bleiben die Straßen leer.
2020 hatte man noch für das medizinische Personal geklatscht und heldenhafte Karikaturen gezeichnet. Heute schreibt man uns, dass wir die Klappe halten und nicht nerven sollen. Schließlich hätten wir uns den Job ja selbst ausgesucht. Auf dem Balkon stehen und für uns applaudieren tut jedenfalls keiner mehr, dafür ist es wohl zu kalt.
Die neue Kolumne von Ricardo Lange erscheint alle zwei Wochen in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung und auf den Onlineseiten www.berliner-zeitung.de. Die nächste Kolumne lesen Sie am 31. Dezember 2022.






