Ricardo Lange ist der wahrscheinlich bekannteste Krankenpfleger Deutschlands. Der 41-Jährige aus Hoppegarten in Brandenburg spricht offen Probleme im Klinikalltag an. Probleme, die alle betreffen, die tödlich sein können. Für die Berliner Zeitung schreibt der Intensivpfleger jetzt in einer Kolumne darüber, alle 14 Tage am Wochenende. Startschuss für die erste Kolumne ist Sonnabend, der 17. Dezember 2022 (zu finden in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung oder online). Bevor er an diesem Sonnabend startet, spricht Lange im Interview über Leute, die früher für Pflegekräfte klatschten und ihm jetzt den Mund verbieten wollen. Über Eltern, die sich nicht gegen lebensgefährliche Zustände auf Kinderstationen wehren. Und über Karl Lauterbach, der mit E-Mails überschüttet werden muss, damit er hält, was er verspricht.
Herr Lange, wie war Ihre Frühschicht heute?
Ganz ehrlich?
Ja, bitte.
Beschissen! Ich bin als Intensivpfleger in der Zeitarbeit tätig und werde dort eingesetzt, wo die Personalnot am größten ist. Im Moment bin ich in einer Klinik, in der viele Kollegen gekündigt oder die Abteilung gewechselt haben. Außerdem sind im Moment viele krank. Deshalb wurde eine von zwei Intensivstationen geschlossen. Wir sind aber immer noch zu wenige. Es kommen pausenlos Notfälle rein. Man rennt hin und her, um den Bedürfnissen der Patienten halbwegs gerecht zu werden.
In welchem Krankenhaus sind Sie?
Ich nenne prinzipiell keine Arbeitgeber. Es handelt sich ja auch um ein generelles Problem.
Arbeiten Sie auf einer Kinderintensivstation? Bei Kindern ist die Situation gerade ja besonders schlimm.
Nein, aber ich habe vor der Corona-Pandemie auf einer Kinderintensivstation ausgeholfen. In diesem Bereich wird schon länger am Personal gespart. Es wurden kontinuierlich Betten abgebaut. Wenn dann eine Infektionswelle kommt, herrscht sofort Notstand.
Für eine Zeitarbeitsfirma springt Lange in Berliner Krankenhäusern ein, in denen die Personalnot am größten ist. Im Januar hat er ein Buch über den Pflegenotstand veröffentlicht: „Intensiv: Wenn der Ausnahmezustand Alltag ist – Ein Notruf“ (dtv). Er ist Kolumnist der Berliner Zeitung.
Warum wird das erst zum Thema, wenn es zu spät ist?
Pflegekräfte beschweren sich schon lange, werden aber nicht gehört. Das liegt auch an der medialen Beachtung.
Sind jetzt die Journalisten schuld?
Nein. Oder doch auch. Es gibt Medientrends. Mal steht Corona im Fokus, mal der Ukraine-Krieg, dann wieder die Klimakrise. Ebben die Trends ab, verschwinden die Probleme vom Radar, als hätte es sie nie gegeben.
Warum rühren sich nicht wenigstens Betroffene, die Patienten?
Gute Frage. Nehmen wir die Situation jetzt bei den Kindern. Wo bleibt die Reaktion der Eltern? Warum gehen sie nicht auf die Straße?
Haben wir nichts aus der Pandemie gelernt?
Nein, das war schon während der Pandemie zu sehen. Im Winter hieß es: Hilfe, wir brauchen mehr Pflegekräfte! Im Sommer hat das niemanden mehr interessiert. Erst im Herbst haben wieder alle gestaunt, dass es so schlimm wird.

Wie haben Sie das persönlich erlebt?
Im Sommer haben Medien vereinbarte Termine mit mir abgesagt. Es hieß, meine Themen seien im Moment nicht so gefragt. Inzwischen schreiben mir sogar Leute, ich solle mein Maul halten, ich hätte mir den Job schließlich selbst ausgesucht, ich hätte ja auch etwas Anständiges lernen können.
Wer schreibt denn so etwas?
Vermutlich dieselben Leute, die am Anfang der Pandemie auf dem Balkon standen und geklatscht haben. Leute, die meinen, dass auch in anderen Berufen Fachkräftemangel herrscht. Ich will andere Berufe nicht abwerten, aber es ist ein Unterschied, ob ein Kunde auf eine Schrankwand warten muss oder ein Patient stirbt.
Weil Ärzte und Pflegekräfte fehlen?
Das ist das Grundproblem. Ich vermisse konkrete Vorschläge der Politik, wie man diesem Mangel begegnet.
Tauschen Sie sich mit Politikern darüber aus?
Ich twittere ja viel zu dem Problem. Neulich hat mich eine Bundestagsabgeordnete angeschrieben. Ohne Namen zu nennen: Die Frau hat mit dem Thema Gesundheit zu tun. Sie schrieb ohne Anrede, ohne alles: „Welche konkreten Lösungsvorschläge haben Sie. Würde mich echt interessieren.“
Ricardo Lange: „Im Gesundheitswesen steht Profit an erster Stelle“
Was haben Sie geantwortet?
Ich habe erst mal einen guten Tag gewünscht und mich dann verwundert gezeigt, dass ausgerechnet sie mich das fragt. Ihre Partei hatte viele tolle Vorschläge. Im Wahlkampf.
Wie würden Sie denn den Personalmangel beheben?
Wenn diese Frage kommt, überlege ich immer, ob der Fragesteller zwei Jahre lang in einem Keller eingesperrt war.
Ich habe mir als Redakteur der Berliner Zeitung während der vergangenen zwei Jahre die Finger wund geschrieben über fehlende Pflegekräfte, die Ursachen und mögliche Lösungen.
Ja ja, aber mit wem man auch spricht, ob mit Journalisten, Politikern, irgendwann kommt diese Frage, obwohl die Lösungen auf dem Tisch liegen.
Warum ändert sich dann nichts?
Weil im Gesundheitswesen Profit leider immer noch an erster Stelle steht: Krankenhäuser müssen wie Wirtschaftsunternehmen funktionieren. Deshalb wird versucht, das Maximum aus Pflegekräften und Patienten herauszuholen. Herr Lauterbach …
Der Bundesgesundheitsminister von der SPD …
Genau, der sagt, er will mehr Qualität statt Quantität. Mal abwarten, ob seine Reform der Krankenhaus-Finanzierung dazu führt. Ohne bessere Arbeitsbedingungen wird jedenfalls weiter Pflegepersonal aus den Kliniken abwandern. Ohne genug Pflegepersonal ist Qualität nicht machbar.
Bringen die gesetzlich vorgeschriebenen Personal-Untergrenzen nichts?
Erstens werden die fast nie eingehalten. Und zweitens gelten sie nicht für einzelne Schichten, sondern sind Durchschnittswerte über einen Monat. Wenn es zu Krisensituationen wie jetzt kommt, werden diese Grenzen ausgesetzt. Dabei wird vergessen, dass sie nicht nur zum Schutz des Personals gedacht sind.
Sondern?
Zum Schutz der Patienten, ist ja logisch. Je weniger Personal da ist, desto größer die Gefahr, dass schlimme Fehler passieren.
Warum schaffen so wenige diesen gedanklichen Schritt?
Das frage ich mich auch. Die Pflegekräfte der Berliner Krankenhausbewegung oder in NRW haben ja nicht vorrangig für mehr Geld gestreikt, sondern für einen besseren Patienten-Schlüssel, damit sie ihren Beruf wieder so ausüben können, wie sie ihn erlernt haben. Und natürlich auch, damit sie selbst nicht krank werden.

Und dann den Beruf verlassen?
Das ist das Problem, um das wir uns zuallererst kümmern müssen: Wir müssen die Pflegekräfte halten, die noch da sind.
Hat die Pandemie die Berufsflucht verstärkt?
Ich nehme an, dass sich viele gesagt haben: „Ich halte so lange durch, bis Corona halbwegs vorbei ist, dann gehe ich.“ Jede Pflegekraft, die ich in der Pandemie kennengelernt habe, hat alles gegeben, mental und körperlich, um möglichst viele Patienten betreuen und retten zu können. Und jetzt werden sie einfach vergessen. Bestes Beispiel ist der Corona-Bonus.
Die Milliarde Euro, die Karl Lauterbach für bestimmte Gruppen von Pflegekräften ausgibt?
Ich als Zeitarbeiter habe bis heute davon keinen Cent gesehen, wie viele meiner Kollegen auch. Zum Beispiel die Mitarbeiter der Rettungsstellen oder die Pflegehelfer. Dabei haben wir uns genauso um Corona-Patienten gekümmert. Das ist ein Schlag ins Gesicht für alle, die nonstop gegen die Pandemie gekämpft haben.
Wie reagiert die Politik auf Ihre Kritik?
Ich habe mit Karl Lauterbach mal in einer Talkshow gesessen, bei Anne Will. Ich war voller Emotionen, weil nichts passiert, habe ihm die Meinung gesagt. Es gab einen Shitstorm. Herr Lauterbach hat sich öffentlich mit mir solidarisiert. Er hat getwittert, dass er sich freut, künftig mit mir zusammenzuarbeiten. Um es kurz zu machen: Es gab irgendwann ein Treffen, bei dem ich dem Minister ein Schreiben von Pflegekräften übergeben habe. Sie haben darin ihre Sorgen und Nöte geschildert. Er versprach mir, darauf zu antworten.
Was hat er Ihren Kollegen zurückgeschrieben?
Nichts. Ich hatte daraufhin mehrfach über Whatsapp Kontakt aufgenommen, vergeblich. Man erkennt ja an einem blauen Haken, ob eine Nachricht gelesen wurde. Jedes Mal war ein blauer Haken zu sehen. Ich habe dann noch ein paar Worte zum Thema Höflichkeit und Versprechen formuliert, auf die ebenfalls keine Reaktion kam. Seitdem weiß ich, welchen Stellenwert die Pflege für Herrn Lauterbach hat.
Verhalten sich alle Politiker so?
Zu vielen habe ich einen guten Kontakt. Ricarda Lang von den Grünen zum Beispiel fragt regelmäßig, welche Themen gerade anliegen. Selbst das Büro von Bundeskanzler Olaf Scholz reagiert auf Anfragen immer respektvoll, obwohl ich auch ihn schon kritisiert habe. Aber manche meinen, ich sei naiv.
Berliner Intensivpfleger: „Wo bleiben die Prominenten?“
Warum?
Man muss ja immer im Hinterkopf haben, dass in drei Jahren ein neuer Bundestag gewählt wird, dass Politiker auch Lobbyarbeit machen. Aber das kann man ja vor der nächsten Wahl öffentlich zur Sprache bringen: „Vier Jahre haben wir geredet, nichts ist passiert. Warum sollten wir euch wiederwählen?“
Helfen prominente Fürsprecher?
Na ja, als die Kollegen in NRW für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Menschenwürde zwölf Wochen gestreikt haben, habe ich mich gefragt, wo all die Prominenten waren, die mich in der Pandemie mal bei einer Schicht begleiten wollten.
Die Anfragen gab es?
Klar, jede Menge, aber eine Intensivstation ist ja keine Peepshow. Ich habe das abgelehnt.
Welche Prominente waren das denn?
Das spielt ja keine Rolle. Ich frage mich jedenfalls, wo die abgeblieben sind.
Müssten Pflegekräfte öfter wie in Berlin oder NRW streiken?
Es geht ja im Kleinen los. Nehmen wir eine Pflegekraft, die ständig meckert, dass es so nicht weitergehen kann, aber trotzdem immer wieder einspringt, vorzeitig aus dem Urlaub zurückkommt, kurzfristig Schichten übernimmt. Ohne es zu wollen, signalisiert sie, dass immer noch ein bisschen mehr geht mit dem wenigen Personal. Das führt dazu, dass sich nichts ändert.
Wenn sie das nicht macht, können weniger Patienten betreut werden.
Wir sind keine heiligen Samariter. Es bringt dem Patienten nichts, wenn die Pflegekraft kurz vor dem Burnout steht. In manchen Kliniken kommt es vor, dass eine ganze Station eine Belastungsanzeige schreibt. Die Pflegekräfte können nicht mehr gewährleisten, dass die Patienten unversehrt die Schicht überstehen. Manchmal landen diese Belastungsanzeigen im Papierkorb. Unglaublich! Das System darf nicht darauf aufbauen, dass Pflegekräfte permanent mehr machen, als in ihren Arbeitsverträgen steht.

Das klingt nach viel Stoff für Ihre Kolumnen in der Berliner Zeitung.
Das Gute an einer Kolumne ist, dass ich viele Menschen erreiche. Dass ich ihnen von Problemen berichten kann, die sie betreffen, von denen sie sonst aber nichts erfahren würden. Ich hoffe, dass ich ein Bewusstsein für den Pflegeberuf wecke, für die schwierigen, aber auch die schönen Seiten.
Zum Beispiel?
Man hilft anderen Menschen. Ein Beispiel: Ein beatmeter Patient hat einen Tubus im Mund. Dadurch wird die Mundflora gestört. Bakterien sammeln sich an. Deshalb wird zweimal pro Schicht eine antibakterielle Mundhygiene vorgenommen. Passiert das nicht, können Bakterien eine Lungenentzündung auslösen. Wenn ich nicht an seiner Seite bin, kann der Patient schlimmstenfalls sterben. Doch solche Zusammenhänge kennen ja die wenigsten.
Werden Menschen erst aktiv, wenn sie selbst betroffen sind?
Falls sie es noch können? Selbst falls sie es können, meckern Patienten immer nur mit der Pflegekraft. Viel mehr würde es bringen, wenn sie dem Gesundheitsminister schreiben. Karl Lauterbach müsste so mit E-Mails zugeschüttet werden, dass ihm schwindlig wird. Man muss den Entscheidungsträgern richtig auf den Sack gehen.
Könnte das Thema der ersten Kolumne sein, oder?
Könnte sein.
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