Abiball

Ein Berliner Abiball: 80 Euro Eintritt, Mädchen im Anzug und das Ende einer Kindheit

Eine 18-Jährige aus Pankow erzählt über das Ende eines Lebensabschnittes, Gender-Klischees und ihre Generation: planlos, veggie und vor allem sehr individuell.

Einen Dresscode gab es nicht. Bei uns gab es auch Mädchen, die im Anzug kamen. Eine kam im Hemd unter einem ärmellosen Jackett – sah schon cool aus.
Einen Dresscode gab es nicht. Bei uns gab es auch Mädchen, die im Anzug kamen. Eine kam im Hemd unter einem ärmellosen Jackett – sah schon cool aus.Kine Andersen für Berliner Zeitung am Wochenende

Am Ende haben wir alle nur noch geweint. Da standen wir, nachts um drei, in unseren Kleidern und Anzügen vor der Bolle-Meierei in Moabit, unsere Eltern waren schon längst weg, wir jedoch konnten einander so schnell nicht gehen lassen, nicht loslassen.

Das letzte Mal den Lieblingslehrer sehen, das letzte Mal den Rivalen gegenüberstehen, irgendwie auch: das letzte Mal Kind sein. Es ist nicht irgendein Ende – es ist das Ende einer Kindheit, einer Unbeschwertheit, unserer Ära.

Ich wollte diesen Moment weiter ausdehnen, weil er doch wirklich nie wieder kommen wird. Wenn jetzt andere in die Ferien gehen, startet für uns Abiturienten das, was selbstständiges Leben genannt wird. Stundenlang habe ich komplexe Matheaufgaben gelöst und Gedichte von Franz Kafka versucht zu verstehen („Erkenne Dich selbst“). Und doch fühlt es sich so an, als wäre meine Einschulung erst gestern gewesen, ich wollte die größte Zuckertüte haben.

Eigentlich könnte ich mich freuen, glücklich sein über das bestandene Abitur. Das große Ziel der letzten Jahre ist erreicht, und jetzt? Viele von uns sind planlos, machen ein „Gap Year“ oder starten ein Freiwilliges Soziales Jahr oder schreiben sich für Probe-Studiengänge ein. Und ich? Ich werde zwei Monate mit meiner Freundin durch Osteuropa reisen, dafür habe ich neben der Schule gearbeitet, Geld gespart.

Hoher Preis: Der Abiball ist für mich ein Muss, das 80 Euro kostet

Doch vor der Reise kam die Riesenparty in dieser Woche. Um 18 Uhr ging es los, nicht alle der 140 Abiturienten unserer Schule hatten sich angemeldet. Manche kamen zugegebenermaßen nicht so gut mit dem Jahrgang klar, andere waren schon im Urlaub oder finden es peinlich, mit den Eltern zu feiern, oder sie hatten schlichtweg keine Lust auf das Establishment – obwohl die Industriehalle in Moabit eher auf Coolness anstatt auf Kitsch setzt. 

Zumindest der Ticketpreis von 80 Euro kann keine Schuld daran haben. Wir wollten extra zuvor einen Basar organisieren, für jene, die sich das Ticket nicht leisten können. Doch war das am Ende nicht nötig, den Preis wollte jeder selbst zahlen. Für mich war das Event jedenfalls ein Muss, meine Eltern und meine Schwester kamen mit. Zwei Schüler hatten sogar sieben Familienmitglieder dabei – ein ganz schön teurer Abend.

Organisieren mussten wir so gut wie nichts: Heutzutage kümmert sich eine Eventagentur komplett um die Planung. Erst hatten wir Zweifel, aber mit dem Abistress hätten wir es allein auch nicht geschafft. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht einmal, ob wir das Abitur überhaupt bestehen würden.

Ein bisschen skeptisch waren wir, als unsere Eltern den Vertrag unterschreiben sollten: Dort stand, dass wir mindestens 400 Tickets verkaufen müssen. Zum Glück hatten wir das mit 530 verkauften Tickets ohne Probleme geschafft. Kein Wunder, dass der Einlass über eine Stunde dauerte. Ich machte es mir mit meinen Freunden auf der Dachterrasse gemütlich. Wir schauten auf Moabit herab und redeten über unseren ersten Schultag, die erste Jugendliebe und die bestandene Fahrprüfung. Nur eines sollte tabu sein für diesen Abend: die Abschlussnoten.

Ein Abiball ist keine amerikanische Prom-Nacht

Einen Dresscode gab es nicht. Wir wollten unbedingt vermeiden, dass alle Mädchen im langen Kleid kommen müssen und alle Jungen im schwarzen Anzug. Es ist ja schließlich keine Prom-Nacht wie in den USA. Bei uns gab es auch Mädchen, die im Anzug kamen. Eine kam im Hemd unter einem ärmellosen Jackett – sah schon cool aus. Das heißt nicht gleich, dass diese Mädchen non-binär oder lesbisch sind – obwohl sich an unserem Gymnasium relativ viele geoutet haben.

Es gab die unterschiedlichsten Stile: von klassischem Ballkleid bis hin zu selbstgenähter Robe oder lässiger Jeanshose mit Hemd. Nur einen Jungen im Ballkleid, den gab es bei uns nicht, aber einer hat lange darüber nachgedacht. Vielleicht zeigt das am besten, wie individuell meine Generation ist: Alle waren auf ihre Art und Weise schick. Auf den Fotos sehen alle entspannt aus, ihr Outfit passt zu ihnen. Ich hatte auch überlegt, einen Anzug zu tragen, aber entschied dann doch für das klassische kleine Schwarze.

Das Essen war ausschließlich vegetarisch, weil die meisten aus unserem Jahrgang kein Fleisch essen. Manche Eltern hätten es sicher anders gewollt, aber es war unser Abiball. Wichtiger als das Essen war allerdings das Bühnenprogramm: Unsere Lehrer hatten das Lied „Griechischer Wein“ für uns umgedichtet und lauthals gesungen – und danach spielten sie das bekannte Partyspiel „Never Have I Ever“.

Never Have I Ever – Lehrer-Edition

Dabei sagt jemand einen Satz wie: „Ich habe nie geraucht.“ Wer aber dann einen Schluck aus seinem Glas nimmt, zeigt damit, dass er sehr wohl geraucht hat. Die Frage, die noch lange für Gerüchte sorgen wird, war die: „Noch nie in meinem Leben hatte ich etwas mit einem anderen Lehrer.“ Mein Lehrer nahm einen Schluck aus seinem Glas, vor allen! Das nenne ich mutig. Der Saal lachte. Wer die (oder der?) Auserwählte ist, wissen wir nicht. Das muss der nächste Jahrgang herausfinden.

Um 22.30 Uhr wurden endlich die Tische weggeräumt und weitere Freunde konnten für 20 Euro zur Party kommen – natürlich nur, wenn sie auf der Gästeliste standen. Aus Sicherheitsgründen musste die zwei Wochen vor der Party feststehen. Schließlich wollten wir nicht, dass irgendwelche fremden Personen die Feier sprengen.

Sicherheit beim Abiball: Vater mit K.o.-Tropfen?

Überhaupt war die Security extrem streng. Es gab wohl schon wirklich schlimme Vorfälle in den letzten Jahren. Es heißt, bei einem Vater seien K.o.-Tropfen in der Tasche gefunden worden. Generell wurden diese Mittel bereits bei vielen Abibällen nachgewiesen. Bei uns war das kein Thema. Soweit ich weiß, waren Drogen an diesem Abend nicht im Spiel. 

Wir tanzten auch so unbeschwert mit Eltern und Lehrern in die Nacht. Der DJ spielte die Mainstream-Songs, die wir ihm zuvor aufgelistet hatten, nur das mit den Übergängen hat er noch nicht so drauf. Gegen 1 Uhr wurde es immer lauter, die meisten Eltern waren schon weg. Zum Glück zählten auch meine Eltern dazu und ich konnte ausgelassen mit meinen Mitschülern zu Katy Perry und Harry Styles tanzen.

Um 3 Uhr ging dann aber auch für uns das Licht aus, die Party war vorbei, wir mussten den Saal verlassen. Die Security machte plötzlich ganz schön Tempo, ein bisschen konnte ich es verstehen, sie wollten Feierabend haben. Der harte Kern wartete vor dem Gebäude.

Unglück im Estrel-Hotel: Ich war zur After-Show-Party eingeladen

Wir setzten uns verschwitzt und mit aufgeknöpften Hemden vor einen Späti, es war eine sehr warme Nacht. Wir redeten über geplante Auslandsreisen: Australien, USA, mit dem Rucksack durch Asien. Und als es wieder hell wurde, war uns dann auch wirklich bewusst, dass es das jetzt war. Und wir mussten eben weinen.

Uns fällt dann auch die Abifeier im Estrel-Hotel ein, bei der ein Mädchen gestorben ist. Auch sie gehört zu unserem Jahrgang, zu unserer Generation, zu unserer Ära. Es muss furchtbar sein, in dem Alter eine Freundin zu verlieren, ein junges Mädchen, das jetzt auch ins Leben starten wollte. Als wir darüber sprechen, sagen einige in der Runde, dass sie dort dabei waren. Das Unglück haben sie nicht gesehen, da waren sie schon weg. 

Touristen finden Berlin ja oft anonym, aber echte Berliner wissen, dass doch jeder jeden kennt. Ich war zu der Party im Estrel auch eingeladen, stand auf der Gästeliste. Ich habe gute Freunde am Rosa-Luxemburg-Gymnasium. Ich konnte dann nicht kommen, weil ich zu einem Familientreffen musste. 

Auch wenn dieses gemeinsame Heulen traurig war, wird es für mich auch der schönste Moment des Abends bleiben. Alles kam in mir hoch, weil ich begriffen habe: So stressig die Schulzeit war, so sorgenfrei und bunt war sie zugleich auch. Unwissen konnte ich immer auf mein Alter schieben, Verantwortung immer an meine Eltern abgeben und Probleme auf die Zukunft schieben. Jetzt ist es vorbei mit den Ausreden! Jetzt geht es los.

Am Ende sage ich doch zu den meisten nur tschüss, auch wenn ich sie vielleicht Jahre lang nicht mehr sehen werde. Manche vielleicht nie wieder. Gegen 6 Uhr kam ich zu Hause an und schlief sofort ein. 

*Name geändert. Aufgezeichnet von Chiara Maria Leister.

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