Zeugnistag

Wie viel sagt mein Zeugnis wirklich aus, wenn der Lehrer meinen Namen nicht kennt?

Unsere Praktikantin hat heute auch ihr Zeugnis bekommen. Aber weil sie erlebt hat, wie die Noten zustande kommen, zweifelt sie daran, dass sie fair sind.

Ein Mädchen begutachtet ihr Zeugnis.
Ein Mädchen begutachtet ihr Zeugnis.photothek/imago

Zeugnisstage sind Tage, an denen sich die Menschen vergleichen. Das sieht dann zum Beispiel so aus: Das ganze Schuljahr über habe ich versucht, mich in einem Fach zu verbessern, habe mehr für Arbeiten gelernt als je zuvor und mich auch mündlich öfter eingebracht. Das muss eine Eins werden, denke ich. Dann überreicht der Klassenlehrer das Zeugnis und: Ich habe eine Zwei, genau wie letztes Jahr.

Der Sitznachbar hat eine Eins. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Er hat doch jedes verdammte Mal die Hausaufgaben abgeschrieben, ich musste ihm doch bei fast allen Aufgaben helfen – und er hat plötzlich eine bessere Note? Und dann schaut er mitleidig zu mir und sagt: „Hey, nächstes Jahr schaffst du es bestimmt, ich habe es doch auch geschafft.“

Faire Schulnoten kann es offensichtlich gar nicht geben

Mit so einer ungerechten Notenverteilung wird jeder Schüler ab dem ersten Test konfrontiert. Ständig vergleichen alle in der Schule ihre Zensuren mit Freunden und Feinden. Jedem muss dabei auffallen: Faire Noten kann es offensichtlich gar nicht geben.

Während der Bio-Lehrer mir eine gute Note in Mitarbeit gibt, weil ich relativ still meine Aufgaben erledigt und den Unterricht nicht gestört habe, gibt der Chemie-Lehrer eine Vier, weil ich mich nicht oft genug gemeldet habe. Sie haben beide eine völlig andere Definition von Mitarbeit im Kopf.

Wenn man nun noch bedenkt, dass eine Lehrkraft die Mitarbeit von jeweils 30 Schülern in etwa fünf Klassen genau beobachten und in Zahlen ausdrücken muss, frage ich mich schon, ob bei den meisten Schülern vielleicht einfach eine mittlere Zahl gegeben wird – nicht so extrem hoch, dass es auffällt, aber nicht so niedrig, dass jemand sie hinterfragt.

An meiner Schule kam es neulich zu einem Lehrerwechsel mitten im Schuljahr. Der neue Lehrer sollte dann trotzdem die Mitarbeit benoten, kannte aber noch nicht einmal alle Namen. Das kann gar nicht gerecht zugehen.

Die Arbeit bleibt an wenigen pflichtbewussten Schülern hängen

Noch schlimmer ist die Notenvergabe bei Gruppenarbeiten. Wenn nur eine Person in der Gruppe nicht motiviert ist mitzumachen, wird es schwierig, aber sobald mehrere keine Lust haben, bleibt die Arbeit an wenigen pflichtbewussten Schülern hängen, die selbst eine gute Note bekommen möchten. Die anderen verdienen die gute Note eigentlich nicht.

Aber wenigstens die schriftlichen Noten, die müssen aussagekräftig sein, das denken zumindest viele. Aber dank einem nur schwer durchsetzbaren Handyverbot in der Schule bieten ChatGPT und Co. die perfekte Möglichkeit, die Deutscharbeit vom Handy abzuschreiben. Natürlich gibt es noch das altbewährte Abschreiben vom Sitznachbarn. Aber da sollte man darauf achten, neben einer schlauen Person zu sitzen. Zum Glück erledigen das häufig die Lehrer für die Abschreiber: Sie denken, dass der Schüler besser wird, in dem die „Schlauen“ ihnen im Unterricht helfen. In Wirklichkeit werden die Noten nur besser, weil sich Abschreiben wieder lohnt.

Dass Noten nach Sympathien vergeben werden, hat auch schon jeder Schüler und jede Schülerin erlebt. Auch Lehrer können nicht 100 Prozent objektiv sein, vor allem wenn sie die aus einem anderen Fach oder gar einer AG kennen.

All das entwertet nicht das Zeugnis, aber alle, die heute eines in der Hand halten, sollten diese Geschichten kennen, um zu verstehen, dass hinter jeder Note eine Geschichte steckt. Aber Noten haben einen Vorteil: Sie sind ein festes Ergebnis, über das sich nicht mehr diskutieren lässt. Da steht es ja, schwarz auf weiß. Vielleicht hat der Sitznachbar auch einfach recht, und nächstes Jahr schaffe ich es. Zumindest wäre es schön, wenn sich mein Lehrer endlich meinen Namen merken könnte.