Der Kokain-Konsum ist in Europa auf ein neues Rekordhoch gestiegen. Das zeigen die Ergebnisse der europaweiten Abwasseranalyse des European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction (EMCDDA). Spitzenreiter beim Kokain-Konsum ist Berlin.
Berlin erlebt nämlich gerade eine Drogenschwemme. Wird man da als Polizist nicht depressiv? Das wollten wir von Olaf Schremm wissen, mit dem wir uns im Berliner Landeskriminalamt trafen. Der Polizeidirektor, der im Mai 63 Jahre alt wird, leitet seit mehr als zehn Jahren das Drogendezernat.
Herr Schremm, verliert man als Polizist nicht die Hoffnung angesichts der vielen Drogen, die in Berlin gehandelt und konsumiert werden?
Eigentlich nicht. Ich mache das hier seit mehr als zehn Jahren. Und es ist ja nicht allein Aufgabe der Polizei, die Drogenprobleme in der Stadt zu bekämpfen. Man wird den Drogenkonsum nie auf null reduzieren; seit zehntausend Jahren versuchen sich die Menschen in Rausch zu versetzen. Aber man kann Drogen eindämmen, indem man ihre Attraktivität durch Aufklärung relativiert. Und wir als Polizei versuchen, den organisierten Handel zu bekämpfen. Wir kriegen nicht alle, aber viele Händler. Wir haben 170 bis 180 Haftbefehle im Jahr, sperren also jeden zweiten Tag einen Drogendealer ein. Und nicht nur den Kleinen vom Görlitzer Park, sondern auch Händler der oberen oder mittleren Ebene, die das Rauschgift aus dem Ausland hier einschmuggeln.
Eine europaweite Abwasseranalyse des European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction zeigt, dass der Drogenkonsum in Europa nach der Pandemie weiter angestiegen ist, besonders bei Kokain. In Deutschland ist Berlin Spitzenreiter beim Koks-Konsum. Wie verbreitet ist Rauschgift in der Stadt?
Cannabis ist die am meisten gehandelte und konsumierte Droge. Dann kommt Kokain und mit spürbarem Abstand Heroin, Amphetamine, Ecstasy und sonstige synthetische Drogen.
Man hat das Gefühl, dass es auf den Straßen immer mehr Drogensüchtige gibt. Stimmt dieser Eindruck?
Wir als Polizei zählen sie natürlich nicht. Mehr Erkenntnisse hat die Senatsgesundheitsverwaltung. Persönlich habe ich das Gefühl, dass es mehr geworden sind. Wir bekommen auch mehr Rauschgift in die Stadt. Konstant hoch ist der Cannabis-Konsum. Bei Kokain hat es in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Das sehen wir auch an den sogenannten Lieferdiensten, die auf Bestellung per Telefon und neuerdings vor allem per Messengerdienst Betäubungsmittel ausliefern. Wir hatten einen Fall, wo auf einer Telefonnummer 300 Bestellungen am Tag aufgelaufen sind.
Die Koks-Taxis sind ein neues Phänomen?
Es gibt sie schon seit einigen Jahren. Damals fing es mit Handynummern an, die man in der Szene verteilt hat. Das war für die Polizei immer ein guter Ermittlungsansatz. Zwischenzeitlich hat sich das in die Messengerdienste verlagert. Zurzeit ist es Telegram. Da ist für uns der Ermittlungsaufwand höher, denn der Betreiber von Telegram sitzt in Dubai und gibt keine Informationen über Kunden preis. Eine große Herausforderung für uns ist es auch, dass die Warenübergaben face-to-face ablaufen und wir deshalb keine Zahlungsströme verfolgen können.
Wie viele Lieferservices gibt es in Berlin?
Das können wir nicht einschätzen. Es gibt Gruppierungen, die gehen professionell arbeitsteilig vor. Oft wissen die Auslieferer nicht, wer die Hintermänner sind. Man schottet sich gegeneinander ab, damit man im Fall der Festnahme keine Aussage treffen kann. Es gibt auch Personen, die als sogenannte Ich-AG allein fahren.
Wer sind die Kunden der Dealer?
Das geht quer durch die Gesellschaft. Kokain ist attraktiv, weil es aufputscht und eine stark stimulierende Wirkung hat. Es wird genommen von Leuten, die Stress haben, in allen Berufsgruppen und in der Partyszene.

Woher haben Sie die Erkenntnis, dass mehr Rauschgift auf dem Markt ist?
Durch verschiedene Hinweise. Es gab sehr große Sicherstellungsmengen. Gerade im letzten Jahr wurden in Europa 214 Tonnen Kokain sichergestellt, im Hamburger Hafen gab es zwei große Sicherstellungen im jeweils zweistelligen Tonnenbereich. Und wir merken, dass sich weder der Marktpreis noch der Wirkstoffgehalt oder die Verfügbarkeit geändert haben. Der Nachschub muss unendlich sein.
Das wäre ja genau das, was bei einem Polizisten Depressionen verursachen würde, oder?
Das ist Ansporn für uns weiterzumachen. Es gibt ja auch eine interessante Entwicklung. Ich weiß nicht, ob Sie von Enchrochat schon gehört haben …
… das ist der Messengerdienst, über den viele internationale Banden mittels verschlüsselter Handys kommunizierten und der 2020 von der französischen Polizei geknackt wurde.
Allein anhand der ausgewerteten Chatdaten bekommen viele Täter Haftstrafen. Wenn ich diese Händler und Schmuggler mit ihren internationalen Verbindungen für mehrere Jahre aus dem Verkehr ziehe, habe ich nachhaltigeren Erfolg, als wenn ich nur Rauschgift sicherstelle. Ich kann die Strukturen kaputt machen.
Crystal-Meth-Herstellung in Holland mit Know-how aus Mexiko
Auf welchen Wegen kommt das Rauschgift nach Deutschland?
Heroin kommt hauptsächlich aus dem Vorderen Orient, etwa aus Afghanistan, wo Mohn angebaut und daraus Opium gewonnen wird. Die Wege gehen meistens über Iran und Irak und jetzt wegen des Krieges in der Ukraine hauptsächlich über den Balkan. Vor dem Krieg gab es auch die sogenannte Nordroute ums Schwarze Meer herum.
In was für Behältern kommt das Heroin?
Hauptsächlich mit legaler Fracht in Lkws. Wir haben teilweise auch Heroin in verflüssigter Form, das dann in Zusatztanks an den Lkws angebracht wird.
Woher stammt das Kokain?
Ausschließlich aus Südamerika – Peru, Brasilien, Kolumbien, Ecuador. Dort gibt es überall Koka-Anbaugebiete, zum Teil staatlich subventioniert, weil man die Kokapflanze auch für andere Dinge nutzen kann. Man kann zum Beispiel Körbe daraus basteln. Per Schiff wird das Kokain über die großen Häfen nach Europa gebracht und teilweise auch über Nigeria und dann per Landweg über Spanien.
Und Cannabis?
Die größten Anbaugebiete sind in Nordafrika, aber auch in Madagaskar. In Europa ist es immer noch Albanien. Der Schmuggel ist immens. Encrochat hat uns gezeigt, dass Cannabis in der Größenordnung von Tonnen nach Deutschland geschmuggelt wurde und wahrscheinlich auch weiterhin wird.

Wo entstehen die chemischen Drogen?
Ecstasy oder neue psychoaktive Stoffe werden vor allem in illegalen Laboren im Süden der Niederlande und im Norden Belgiens hergestellt. Das hat damit zu tun, dass die Grundstoffe dafür hauptsächlich per Schiff mit legaler Ware aus Asien kommen und dort auch sofort weiterverarbeitet werden.
Kam Crystal Meth nicht immer auch aus Tschechien?
Bis vor ein, zwei Jahren wurde dort das meiste Crystal hergestellt. Die dortige Polizei ist offensiv gegen diese Labore vorgegangen. Die Produktion hat sich deshalb ebenfalls in die Niederlande verlagert, mit Know-how aus Lateinamerika, denn Mexiko ist auch ein bekanntes Herstellungsland für Crystal.
Sie sagten, dass der Drogenkonsum alle Teile der Gesellschaft betrifft. Doch der Teil der verelendeten Drogensüchtigen auf den Straßen ist in letzter Zeit sehr sichtbar geworden, etwa in Neukölln. Was passiert da?
Das sind im Wesentlichen die Heroin-Konsumenten. Bei ihrer Zahl gibt es aber keinen signifikanten Anstieg. Die Gesundheitsverwaltung geht von rund 14.000 bis 15.000 Heroinkonsumenten in der Stadt aus. Die erwerben ihren Stoff in der Regel in der Öffentlichkeit. Es gibt auch viele Kokainabhängige, die abgerutscht sind. Kokain ist eine harte Droge, der Suchtfaktor spielt eine immense Rolle. Wer schwer kokainabhängig ist, konsumiert intravenös, der schnupft nicht mehr. Dann ist eine Stufe erreicht, wo Sie den Heroin- und den Kokainkonsumenten kaum noch unterscheiden können, was den gesundheitlichen Verfall anbelangt.
In der Karl-Marx-Straße stehen die Dealer ganz offen herum, sammeln zu einer bestimmten Zeit ihre Kunden und verschwinden dann mit ihnen zusammen im Körnerpark oder in der öffentlichen Toilette, um ihnen die Drogen zu verkaufen.
Diese Situation und der Konsum in der Öffentlichkeit ist auch für die Bevölkerung nicht erfreulich. Die Stadt ist sehr bemüht, weitere Drogenkonsumräume gerade in diesen Brennpunkten einzurichten.
Angeblich ist in dem Milieu auch die stark süchtig machende Droge Crack auf dem Vormarsch.
Tatsächlich ist das Problem von Crack wohl größer, als wir als Polizei es sehen können. Allerdings registrierten die Mitarbeiter in den Drogenkonsumräumen eine verstärkte Einnahme von Crack. Der Konsum nimmt dort ganz erheblich zu.
Mit MDMA kann man die Nacht durchtanzen und alle Clubs abklappern
In den USA verbreitet sich die hochgefährliche Droge Fentayl, ein synthetisches Opioid. Es ist 50-mal stärker als Heroin, und etwa 100.000 Menschen sterben dort pro Jahr. Ist damit bald auch hier zu rechnen?
Tatsächlich ist es schon in geringen Mengen tödlich. Es wird konsumiert, indem man in Krankenhäusern die Pflaster aus der Tonne kramt und auslutscht. Aber im Gegensatz zu den USA spielt es bei uns noch keine große Rolle. Ich würde aber auch auf gleicher Stufe, weil wesentlich weiter verbreitet, das gefährliche Crystal sehen. Und da hat mich in der Abwasserstudie doch überrascht, dass der Wert für Crystal in Berlin relativ hoch ist. Crystal spielt nach unserem Aufkommen an Ermittlungsvorgängen eine untergeordnete Rolle. Die Zahlen liegen im unteren dreistelligen Bereich. Und wenn man die Gesamtzahl der Drogendelikte sieht, bewegen wir uns bei bis zu 20.000 pro Jahr. Dass es in den südostdeutschen Ländern noch wesentlich höhere Werte bei Crystal gibt, verwundert mich nicht, weil Crystal dort sehr weit verbreitet ist – angefangen von der Südgrenze Berlins bis runter an die tschechische Grenze spielt Crystal auf dem Drogenmarkt eine dominierende Rolle.
Gehören Drogen in Berlin zum Lifestyle?
Was Partydrogen wie Ecstasy, jene kleinen bunten Tabletten, oder Amphetamine betrifft, auf jeden Fall. In Vor-Corona-Zeiten war Berlin ein Anziehungspunkt für Reisende aus ganz Deutschland und Europa, und wird es auch wieder werden.
Drogen seien Teil der Berliner Clubkultur, lautet ein oft gehörter Satz. Gibt es da ein gewisses Laissez-faire?
Ja, diese Erzählung befeuert das natürlich. Die Wirkung von MDMA, also Ecstasy, ist eine aufputschende, sodass man in der Lage ist, am Wochenende durchzutanzen und, wenn man schon hier ist, jede Stunde zu nutzen in Berlin, um die Clubs abzuklappern.
Wie kooperativ sind die Clubbetreiber gegenüber der Polizei?
Mit der Clubcommisson, dem Verband der Berliner Clubbetreiber, stehen wir in Verbindung und haben in den Gesprächen sehr gute Erfahrungen gemacht. Natürlich gibt es unterschiedliche Standpunkte. Aber in der Grundauffassung, dass Handel und Konsum nach Möglichkeit verhindert werden sollen, sind wir uns einig. Aber man kann nicht jedem Gast einen Aufpasser an die Hand geben. Den Konsum hier ganz zu unterbinden ist genauso unmöglich wie in ganz Berlin.

In wessen Hand ist der Drogenhandel in dieser Stadt?
Da sind sämtliche Nationalitäten vertreten und natürlich auch hier in Deutschland geborene Personen. Leute aus dem Bereich der Clankriminalität sind auch beteiligt, etwa beim Handel in U-Bahnhöfen. Aber sie dominieren den Rauschgiftmarkt hier nicht. Wir stellen zunehmend fest, dass sich Gruppierungen ethnien- und herkunftsmäßig nur für bestimmte Geschäfte zusammentun und dann auch wieder trennen. Enchrochat zeigte uns, dass wir die eine oder andere Gruppierung bisher noch nicht im Auge hatten. Zum Beispiel albanischstämmige Tätergruppen, die im Berliner Rauschgiftmarkt eine nennenswerte Rolle spielen. Ansonsten kann man die Gruppierungen nicht auf bestimmte Ethnien begrenzen.
Wäre es aus polizeilicher Sicht nicht am besten, man würde alle Drogen legalisieren, damit sich illegaler Handel nicht mehr lohnt?
Die Bundesregierung plant ein Gesetz zur Cannabis-Legalisierung. Aber wenn man mit einem legalen Preis auf dem Markt erscheint, der über dem Schwarzmarkt-Preis liegt, wird man den Schwarzmarkt nicht verdrängen. Das nächste Problem könnte sein, dass lizensierte Verkaufsstellen nicht massenhaft im Stadtgebiet existieren werden. Ein Schwarzmarkt wird wesentlich flexibler und kundenfreundlicher sein als eine lizensierte Verkaufsstelle, die von 9 bis 20 Uhr offen und samstags, sonntags zu hat. Die Freigabe aller Drogen würde zudem bedeuten, dass die Therapieeinrichtungen überfordert wären. Man sieht es an Crystal in den südostdeutschen Ländern. Die Therapieeinrichtungen sind alle voll. Die Therapiekosten für die Drogensüchtigen sind für die Allgemeinheit immens.
Auch aus polizeilicher Sicht würde es nicht viel bringen?
Ob der Schwarzmarkt damit ausgelöscht wird, weiß ich nicht. Bei Cannabis bleiben der Schmuggel und der Handel ja weiterhin strafbar. Die Freigabe betrifft nur den Konsum. Kriminalistisch interessiert mich der Konsument aber nicht. Sondern mich interessiert der Händler, der Schmuggler – diejenigen, die mit den illegalen Betäubungsmitteln hohe Geldwerte illegal erlangen und dann versuchen, wieder in den legalen Kreislauf zu bringen, indem sie Immobilien kaufen. Während andere von morgens bis abends arbeiten, steht dieses Klientel erst mittags auf und verdient sich trotzdem eine goldene Nase. Unser Ziel ist es, deren illegales Vermögen abzuschöpfen. Und das wird unverändert auch mit dem Cannabislegalisierungsgesetz weiter Aufgabe der Polizei sein.
Jeder Dealer zahlt 200 Euro an den Administrator bei Telegram
Ist die Befürchtung eingetreten, die man 2015 hatte, dass Flüchtlinge für den Drogenhandel rekrutiert werden?
Ja, für den Kleinsthandel, den Verkauf auf der Straße. Sie stehen auf unterster Stufe dieser illegalen Handelskette. Die größten Gewinne machen die Hinterleute. Wenn man sich überlegt, dass die Herstellung eines Kilos Kokain, wenn es Südamerika verlässt, bei 1200 bis 1500 Dollar liegt, und wenn es hier ankommt, ist man bei 30.000. Die Gewinnmargen sind also extrem. Aber die Gewinne machen andere, nicht der kleine Dealer.
Warum gehen wir beide eigentlich noch legal arbeiten?
In Bezug auf den Handel über Messengerdienste habe ich mich das auch schon gefragt. Bei Telegram gibt es geschlossene Gruppen, die von einem Administrator verwaltet werden. In die kommen Sie nur rein aufgrund von Empfehlungen. In der Gruppe können Sie dann von Dealern Rauschgift erwerben. Diese Dealer in der geschlossenen Gruppe müssen dem Administrator eine Gebühr zahlen, damit sie in seiner Gruppe verkaufen können. Da gibt es einen spannenden Fall, wo der Administrator von jedem seiner 30 Verkäufer in der Gruppe 200 Euro im Monat kassierte. Das sind 6000 Euro im Monat, und der Administrator hat den Stoff niemals angefasst, niemals gesehen. Der Mann bekam einen Europäischen Haftbefehl, aber er sitzt bestimmt irgendwo am Strand mit einem Cocktail in der Hand.











