Für Martin Kaltenmaier fing der ganze Ärger mit einer Frau an, die eine Wohnung in dem Haus besitzt, in dem auch seine Bar ist. Und mit einer verrückten Angst. Die Frau sei auf ihn zugekommen und habe zu ihm gesagt: Ich fürchte, dass meine Kinder drogenabhängig werden. Von der Luft aus dem Tomsky.
So erzählt Kaltenmaier die Geschichte, so hat er sie auch auf die Flugblätter geschrieben, die seit einigen Tagen laminiert auf den Tischen im Tomsky in Prenzlauer Berg liegen. Über den Tischen zieht sich das Lüftungsrohr durch den Raum. Es tritt auf dem Hinterhof des Hauses aus. Die Bar Tomsky ist eine Raucherkneipe. Es ist ein bisschen unklar, wann die Nachbarin ihre Befürchtung äußerte, der kalte Zigarettenrauch könne ihre Kinder zu Süchtigen machen, in einem ersten Gespräch über die Lage des Tomsky sagt Kaltenmaier, es sei vor der Pandemie gewesen, auf seinem Flugblatt steht, der Stress habe vor einem Jahr begonnen. Damals sei, ebenfalls von Nachbarn aus dem Haus, auch der Satz gefallen: Es war so schön ruhig in der Pandemie, als die Kneipe dicht war.
Die Kneipe könnte bald für immer dicht sein, befürchtet Kaltenmaier. Das ist die Lage. Sein Mietvertrag für das Tomsky läuft Ende Juni aus. Nach 27 Jahren. Ein neuer Vertrag ist nicht in Sicht. Kaltenmaier hat sich einen Anwalt genommen und Mails an Redaktionen geschrieben. Auch die Stammgäste sind alarmiert, einer hat eine Online-Petition für das Tomsky aufgesetzt, auf den Flugblättern findet sich ein QR-Code, der zur Unterschriftensammlung führt. Ein anderer hat eine Politikerin der Grünen, die in seinem Haus wohnt, informiert. Abends reden die Leute im Tomsky jetzt darüber, wie viele Unterschriften schon eingegangen sind. Ein Gast sagt am Dienstagabend dieser Woche, er sei heute spontan hergekommen, weil das Tomsky doch bald schließt. Er kenne den Laden von früher.
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In Prenzlauer Berg sind Kneipen, die man von früher kennt, selten geworden. Das Tomsky liegt in der Winsstraße, eine der schönsten Straßen des Stadtteils. Die Altbauten sind komplett durchsaniert, auf der Ecke gegenüber vom Tomsky, wo lange nur ein Supermarkt stand, sind teure Neubauten entstanden. Nichts erinnert hier mehr an die 1990er-Jahre. An den Prenzlauer Berg der Nachwendezeit. Das Künstler- und Studentenviertel. Die langen Nächte, die man in Kneipen verbrachte, in denen Flohmarktmöbel standen und Kerzen in Weinflaschen, die über und über mit Wachs betropft waren.
Nichts, bis auf das Tomsky. Es gibt zwar keine Kerzen, aber die Möbel sehen nach Flohmarkt aus. Aus Sesseln platzt das Futter. Die Wände sind weinrot und gelb, das Licht aus kleinen Lampen ist schummrig. Ein Teil der Kneipe besteht aus einem langen, fensterlosen Schlauch, an dessen Ende ein Billardtisch steht, der am Dienstagabend ab acht durchgehend belegt ist. Es gibt nur Getränke, vor allem Bier, der Geruch von kaltem Rauch mischt sich mit dem von frischen Zigaretten. Am Dienstagabend ab neun ist kein Tisch mehr zu bekommen, nur an der Bar sind noch ein paar Plätze frei.
Das Tomsky wird in diesem Jahr 31. Es machte 1992 auf, zwei Jahre nach der Wiedervereinigung, in den Räumen einer Fleischerei, die dichtgemacht hatte. Kaltenmaier holt einen Rahmen mit zwei Fotos hinter dem Tresen hervor. Auf einem Bild sieht man eine graue Hausfassade, ein Schild, auf dem Fleischwaren steht, vor allem aber einen LKW vor dem Haus. Auf der offenen Ladefläche liegt ein großer Berg Knochen. Das Bild ist von 1985, Kaltenmaier hat es in einem Fotobuch gefunden. Das zweite Foto zeigt die gelbe Fassade der Bar im Jahr 2010. So, wie sie bis heute aussieht.

In dem Jahr, in dem das Tomsky aufmachte, landete Martin Kaltenmaier in Berlin. Er kam aus Rheinland-Pfalz und war anderthalb Jahre auf Weltreise gewesen, erzählt er. Unterwegs habe er mit dem Gedanken gespielt, gar nicht mehr nach Deutschland zurückzukommen. Als er doch wiederkam, sei nur Berlin für ihn in Frage gekommen. Das neue Berlin, der Osten. Er zog nach Friedrichshain, dann Prenzlauer Berg. Begann zu studieren, Afrikanistik und Internationale Beziehungen, Fächer, die ihn noch in der Ferne hielten, nebenbei jobbte er in einer Computerfirma. Bis ihn ein Bekannter gefragt habe, ob er nicht beim Tomsky mit einsteigen wolle. Einer der Gründer der Bar habe aufgehört.
Er sei 30 gewesen, sagt Kaltenmaier, er habe sich überlegt, was er noch machen wolle im Leben. Das war 1997. Der andere Gründer stieg später auch aus. Martin Kaltenmaier verbrachte fast sein halbes Leben im Tomsky, er ist jetzt 57, sein Bart ist grau geworden. Zwei oder drei Schichten pro Woche steht er noch selbst hinterm Tresen. „Und jetzt soll ich hier auf der Strecke bleiben?“, fragt er.
Es ist Anfang Mai, er sitzt an einem Vormittag an einem der Fenster der Bar. Das neue Berlin der 90er-Jahre, das ihn und so viele andere angezogen hatte, in dem Langzeitstudenten Bars übernahmen, ist das alte Berlin geworden. So schnell geht das. „Damals ist hier der Nimbus vom weltoffenen Berlin entstanden“, sagt Kaltenmaier über den alten Prenzlauer Berg. Er wohne selbst immer noch hier, am Mauerpark. Da werde es nachts durchaus noch laut. Insgesamt gebe es in Berlin aber „eine ganz traurige Entwicklung“. Er habe es schmerzhaft bemerkt, als er mit seiner Familie im letzten Jahr durch Südeuropa gereist sei. „Überall gibt es mehr Leben und Lärm auf den Straßen als in Berlin.“
Mögen das die Menschen, die in Südeuropa an den lauten Straßen wohnen? Sollte, egal wo in Europa, nachts dort gefeiert werden, wo Nachbarn am nächsten Morgen zur Arbeit, Kinder in die Schule müssen? Ist Berlin zu empfindlich geworden?

Kaltenmaier erzählt von den Nachbarn seiner Bar. Im Haus seien längst nur noch Eigentumswohnungen. Alle Nachbarn seien aber nach dem Tomsky eingezogen. Sie wussten vorher, dass eine Bar im Haus ist. Im Mai vor einem Jahr sei der Ärger um die Lüftungsanlage, die in den Hinterhof geht, eskaliert. Kaltenmaier vermutet, dass es sich um eine Art Spätfolge der Pandemie handelte. In der Coronazeit war das Tomsky zweimal lange geschlossen. Die Nachbarn wussten nun auch, wie es sein kann, wenn keine Bar im Haus ist.
Es habe Treffen und Begehungen gegeben, die Hausverwaltung schaltete sich ein, er selbst habe zwei Fachfirmen mit einer Einschätzung beauftragt, erzählt Kaltenmaier. Es habe den Vorschlag gegeben, die Lüftung über das Dach zu führen, das sei von den Wohnungseigentümern aber auch nicht erwünscht gewesen. Das verschandele die Terrasse, habe es geheißen, und mindere den Wert der Immobilie.
Zum Lüftungsstress mit den Hausnachbarn kommen die Beschwerden über den Lärm von den Nachbarn, die gegenüber wohnen. Sobald die Nächte in Berlin wärmer werden und die Gäste lange vor dem Tomsky sitzen, reden und lachen, gehe es los. Nach 22 Uhr rufe oft jemand die Polizei. „In den 90ern saßen die Leute bis fünf, sechs oder sieben draußen“, sagt Kaltenmaier. Sieben Uhr morgens! Ohne Probleme. Das „Rumgemäkel“ der Nachbarn habe mit den Immobilienpreisen im Viertel zugenommen. Die Polizisten seien immer ausgesprochen freundlich, aber wenn sie kommen, muss Kaltenmaier seine Gäste in den Laden schicken und Fenster und Türen schließen, egal, wie heiß es draußen ist. Oft gehen die Leute dann lieber.
Martin Kaltenmaier gewann mehr und mehr den Eindruck, dass er und seine Bar nicht mehr erwünscht sind in der Winsstraße. Das letzte Überbleibsel der alten Zeit, an die sich zwar alle gern erinnern, aber neben der niemand mehr leben will.

Dann sei der Ärger mit der Vermieterin hinzugekommen. Die eigentliche Bedrohung für das Tomsky. Das Ladenlokal, in dem sich die Bar befindet, ist als einzelne Einheit schon vor Jahrzehnten verkauft worden, an ein Ehepaar aus Hamburg. Der Mann kümmerte sich um die Immobilie. Es habe nie Probleme gegeben, im Gegenteil. „Er war ein Geschäftsmann, ich war ein Geschäftsmann, wir kamen gut miteinander aus.“ Als der Mann vor drei Jahren starb, habe seine Witwe übernommen. Auch mit ihr habe er sich gut verstanden, sagt Kaltenmaier. In der Pandemie sei sie ihm sogar mit der Miete entgegengekommen.
Doch inzwischen sei die Frau mit der Verwaltung der Immobilie in Berlin „überfordert“. Das will Kaltenmaier aus Gesprächen mit ihr herausgehört haben. Im Herbst habe sie sich jedenfalls entschieden, das Ladenlokal zu verkaufen. Dummerweise lief da gerade der aktuelle Gewerbemietvertrag für das Tomsky aus. Nach fünf Jahren. Im Vertrag stehe eine Option auf die nächsten fünf Jahre. So sei das auch vorher immer geregelt gewesen. Er habe mit der Vermieterin über eine Verlängerung gesprochen, man sei sich grundsätzlich einig gewesen, sagt Kaltenmaier. Aber einen neuen schriftlichen Mietvertrag bekam er nicht. Stattdessen erschien eine Anzeige für das Ladenlokal auf Immobilienscout.
Ein Makler verlangte 900.000 Euro, sagt Kaltenmaier. Er zahle 3050 Euro Nettokaltmiete im Monat. Damit würde man den gewünschten Kaufpreis in 25 Jahren wieder eingespielt haben. Die steigenden Zinsen nicht mit einberechnet. Eine höhere Miete sei kaum zu stemmen, sagt Kaltenmaier, seine Angestellten seien fest angestellt und würden fair bezahlt. Anders gehe es beim Fachkräftemangel in der Gastronomie sowieso kaum noch. Die Preise im Tomsky sind vergleichsweise günstig. Ein kleines Bier vom Fass kostet drei Euro, der halbe Liter vier Euro. „Ich versuch schon, dass hier noch normale Leute reinkommen“, sagt Kaltenmaier.
„Das härteste Gewerbemietrecht in Europa“
Ein paar Tage später kommt er in die Kanzlei seines Anwalts in der Nähe vom Moritzplatz. Er trägt kurze Hosen und einen Kapuzenpulli mit dem Logo des Schnapsherstellers Mampe Berlin. Er sagt, im Tomsky habe sich seit Oktober kein Kaufinteressent blicken lassen. Der Anwalt, Moritz Heusinger, trägt einen dunkelblauen Anzug. Er nickt Kaltenmaier aufmunternd zu. Vielleicht merke die Vermieterin ja im Juli, dass es schön sei, wenn weiterhin die Miete reinkomme, sagt er.
Der Vertrag für das Tomsky laufe Ende Juni aus, aber er gehe davon aus, dass er mündlich verlängert worden sei, sagt Heusinger. In den Gesprächen zwischen Kaltenmaier und der Vermieterin. Leider könne man aber einen Gewerbemietvertrag „ohne schriftliche Fixierung“ jederzeit kündigen.
„Deutschland hat das mit Abstand härteste Gewerbemietrecht in Europa,“ sagt Heusinger. Nur die zeitliche Befristung der Verträge schütze Mieter vor Kündigung, bringe sie aber immer wieder in die Not, neu verhandeln zu müssen. Außerdem gebe es kein Limit nach oben bei den Mieten. Dieses unfaire Gewerbemietrecht treffe nun auf die irre Explosion der Immobilienpreise. Die Eigentümer wollen immer mehr aus ihren Immobilien herausholen. In Berlin würden viele kleine Läden gerade mit Mieterhöhungen kämpfen – oder mit auslaufenden Mietverträgen wie das Tomsky.
Für den Anwalt ist das Tomsky nicht irgendein Fall. Er verteidigt nicht nur eine Bar, sondern den Geist der 90er-Jahre in Berlin. Der Zeit, in der auch er in die Stadt kam, 1991, vorher hatte er in Marburg studiert. Er gehört wie Kaltenmaier zu der Generation von Neuberlinern, die damals die riesigen Freiräume nutzten, um sich in der Stadt neu zu erfinden. Heusinger besetzte ein Haus in der Brunnenstraße mit. Als Anwalt vertrat er später die Hausbesetzer aus der Köpenicker Straße oder das Café Schokoladen in Mitte, das aus derselben Zeit stammt wie das Tomsky und ebenfalls verdrängt zu werden drohte.
Orte wie das Tomsky hätten für ihn immer Berlin ausgemacht, sagt Heusinger. Die Bar leiste einen „kulturellen Beitrag“ zu Berlin. Als klassische Kiezbar, als Ort, an dem Menschen miteinander ins Gespräch kommen. Das sei „schützenswert“. Er will einen runden Tisch einberufen, sollte dem Tomsky wirklich gekündigt werden, den Fall politisieren, sagt er.
Die Nachbarn wollen keine Feinde des Tomsky sein
Die Vermieterin reagiert nicht auf eine Anfrage der Berliner Zeitung. Zwei Nachbarn aus dem Haus melden sich zurück, wollen aber auf keinen Fall namentlich erwähnt oder auf andere Weise identifizierbar werden. Sie wehren sich gegen den Vorwurf, Feinde des Tomsky zu sein. Typische Gentrifizierer, die vom Mythos Prenzlauer Berg als Immobilienbesitzer profitieren, den Stadtteil aber gleichzeitig verändern wollen. Das sei die vollkommen falsche Erzählung, sagen die Nachbarn.
Es habe Gespräche über die Entlüftung der Kneipe gegeben, bestätigen sie. Diskussionen um eine andere Entlüftungsanlage. Aber nie sei es dabei um die Existenz des Tomsky an sich gegangen. „Wir haben uns nie bemüht, die Kneipe aus dem Haus zu drängen“, sagen sie. Man habe, ganz im Gegenteil, gemeinsam nach Lösungen suchen wollen. Sie hoffen, dass das Tomsky bleibt, sagen die Nachbarn aus dem Haus. Sie hätten sogar die Petition von Martin Kaltenmaier schon unterschrieben.
Am Dienstagabend dieser Woche steht Kaltenmaier im Tomsky hinter dem Tresen. Er trägt einen Strohhut. Ein Mann fragt ihn auf Englisch, wie es mit den Unterschriften laufe. Es sind schon 700, sagt ein Gast, der an der Theke sitzt.
Er erzählt, dass er zweimal in der Woche ins Tomsky komme. Es sei ja die letzte Kneipe der Gegend. Auch er kommt sofort wieder in den 90er-Jahren an, erzählt, wie er hinten an einem Tisch mit seinen Freunden saß, damals konnte man noch Essen bestellen, er erinnert sich an Fladenbrote. Er zählt Läden auf, die verschwunden sind. Das Titanic, der Club, das Wins, der Mandelmond, das New Orleans. Das Tomsky wird immer größer, je länger man sich mit seinen Verteidigern und Stammgästen unterhält. Der letzte Überlebende einer großen Zeit.


















