Am Abend des 1. April sticht auf der Anzeigetafel am Berlin Hauptbahnhof ein Ziel heraus: Da fahren Regionalzüge nach Nauen oder Jüterbog, ICE nach Hamburg oder München, heute steht noch ein Zug nach Stockholm angeschrieben. Es ist eine Abfahrt, die seit Monaten mit viel Spannung und Vorfreude erwartet wurde – eine zweite direkte Nachtzugverbindung zwischen den deutschen und schwedischen Hauptstädten; betrieben wird sie von der schwedischen Staatsbahn SJ. Doch es gibt noch etwas, das diesen Zug besonders macht – es ist die einzige Verbindung auf der Tafel, für die kein Bahnsteig angezeigt wird. Fährt der Zug überhaupt?
Ich bin extra etwa 45 Minuten vor der geplanten Abfahrt des SJ Euronight nach Stockholm am Hauptbahnhof eingetroffen. Im Laufe des Tages hatten mich unterschiedliche Informationen zu der Abfahrt erreicht; erst hieß es, dass wir um 17.02 Uhr abfahren würden, dann um 18.02 Uhr. Doch das Gleis blieb immer gleich: Gleis 4. Doch am Sonnabend steht kein Zug an Gleis 4, auch die Informationen für unsere Fahrt werden hier nicht angezeigt. Ich werde langsam nervös, wie soll ich von der Eröffnungsfahrt dieser neuen Linie berichten, wenn sie ohne mich abfährt, oder gar nicht?
So hatte ich mir den Beginn dieser Reise nicht vorgestellt. Dabei besteht die Nachtzugverbindung nach Stockholm schon seit Juni 2021, nur dass sie bisher in Hamburg endete, jetzt wurde sie bis nach Berlin verlängert und soll jetzt fast täglich (mit Pausen) ab April bis September verkehren. Das Nachtzugangebot des Privatbetreibers Snälltåget soll es weiterhin geben. Der europäische Nachtzug, er erfährt gerade eine Renaissance; Berlin wird demnächst auch mit Paris und Brüssel verstärkt verbunden.
Einmal Schlafen bis Stockholm
Als begeisterter Nachtzug-Fan ist es für mich ein Schritt, den ich nur feiern kann. Es geht dabei nicht nur um die Gewissheit, dass die Emissionen dabei weitaus geringer sind als bei einer vergleichbaren Reise mit dem Flugzeug. Nachtzüge üben auf mich schon immer eine gewisse Magie aus: in einer warmen, gemütlichen Kabine einzuschlafen und noch im Schlaf in eine komplett andere Landschaft transportiert zu werden. Dass ich nicht die Einzige bin, beweist der Kultstatus der Reisen mit der Transsibirischen Eisenbahn, auf der Seidenstraße – oder der Erfolg von Werken wie „Nachtzug nach Lissabon“ und „Mord im Orient-Express“.
Noch zwanzig Minuten bis zur Abfahrt, immer noch keine Information. Ich mache mich auf den Weg zum DB-Kundeninformationsschalter und finde eine Kollegin, die neben dem Schalter von einer Gruppe Fahrgäste umgeben ist. Alle sehen gestresst aus. Es heißt, auch die DB habe seit mindestens einer Stunde keine Informationen mehr zum Standort des SJ-Zuges erhalten.
Plötzlich erblickt jemand aus unserer Gruppe den marineblauen und hellgrünen SJ-Zug – weil unser Kollege Peter Neumann schon häufiger über den Zug berichtete, wusste ich, wie er aussieht. Wir rannten los. Rund 30 Fahrgäste steigen ein und gegen 18.30 Uhr fährt der Zug ab, rund eine halbe Stunde später als geplant. Auf dem Bahnsteig zücken Nachtzug-Fans ihre Handys, um die Abfahrt zu filmen.
Sitzplätze ab 45 Euro, Schlafplätze ab 84 Euro
Erleichtert sitze ich auf meinem Platz im Liegewagen; dort bietet ein Abteil sechs Schlafplätze auf Liegesesseln, von denen zwei an die Wand geklappt sind, als wir einsteigen. Eine Leiter am Fenster hilft beim Erreichen der mittleren und oberen Kojen. Ein solcher Schlafplatz kostet ab 84 Euro; der Preis für einen einfachen Sitzplatz liegt bei etwa 45 Euro, ein komplettes Schlafwagenabteil kostet ab 283 Euro.

Anna Palmberg, eine Schwedin, sitzt im Nachbarabteil. Sie ist Dolmetscherin und reist oft geschäftlich nach Berlin. Der holprige Start unserer Fahrt hat sie weder überrascht noch gestört – dafür kennt sie Berlin zu gut. „Hauptsache, wir kommen pünktlich in Stockholm an.“ Sie setzt große Hoffnungen in dieses neue Angebot von SJ, denn er biete schon einige Vorteile im Vergleich zum Snälltåget: Nämlich, dass dieser Zug bereits am Samstagabend fährt.
Palmberg sei die Strecke im Laufe der Jahre ans Herz gewachsen. Aber die Züge von Snälltåget fahren oft erst gegen 19 Uhr ab und kommen dann in Schweden am frühen Nachmittag des folgenden Tages an. Das neue Angebot von SJ fährt um 18 Uhr los und trifft laut Fahrplan bereits gegen 10 Uhr in Stockholm ein. „Je praktischer ein Angebot ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass es die Menschen überzeugt und von den Flughäfen wegführt.“
Auf dieser ersten Etappe von Berlin nach Hamburg gibt es nicht viele Fahrgäste. Nach dem Chaos bei der Abfahrt ist es fast verdächtig ruhig im Zug; nur das gleichmäßige Rumpeln der Bahngleise ist zu hören. Der Blick aus dem Fenster auf die Landschaften Berlins und Brandenburgs ist grau, größtenteils flach – und trotzdem ist es angenehm, einfach nur dazusitzen und die Welt auf beiden Seiten des schmalen Waggons vorbeiziehen zu sehen. Langsam wird es dunkel vor den Fenstern und ich frage mich: Warum findet man nicht öfter Zeit für so was?
Kurz vor 21 Uhr tauchen die Lichter der Hamburger Werften in der Ferne auf, es wird langsam gemütlich im Abteil. Das Deckenlicht strahlt eine nicht zu helle, wärmende Atmosphäre aus. In Hamburg gesellen sich drei weitere Passagiere zu mir in das Abteil: ein allein reisender Mann, der die ganze Zeit kein Wort sagt und nur schläft, und eine Frau mit ihrem kleinen Sohn. Anna Palmberg hatte mich bereits vorgewarnt, dass die meisten deutschen Passagiere in Hamburg zusteigen.

Aber es ist schön, etwas Gesellschaft zu haben: Denn auch das macht ja die Magie des Nachtzugs aus, die zufälligen Begegnungen und das Mitreisen mit Fremden. Als ich gegen 22 Uhr das Licht ausschalte und mich zum Schlafen umdrehe, höre ich, wie meine Abteilnachbarin ihrem Sohn eine Gutenachtgeschichte vorliest. Es geht um einen tapferen Ritter, der seine Familie und sein Dorf vor den Wikingern retten muss.
„God morgon allihopa“ – so klingt die Ankunft in Schweden
Langsam übernimmt das Geräusch der sich rhythmisch drehenden Räder, das Ra-ta-ta-tam, ra-ta-ta-tam, es wird zu einem beruhigenden Begleiter, der mich weiter durch die Nacht bringt. Ich denke noch, dass es nicht das weichste Bett ist, in dem ich je geschlafen habe, aber mit meinem Pullover und der SJ-Decke kann ich es etwas auspolstern. Um Mitternacht wache ich noch einmal auf, um im dänischen Padborg meinen Reisepass vorzuziehen, aber bin fast sofort wieder eingeschlafen. Die Halte in Malmö und Lund in den frühen Morgenstunden bekomme ich gar nicht mit.
Ich wache mit der Sonne auf, um etwa 6.30 Uhr, und kann meine Augen nicht mehr vom Fenster abwenden: glänzende weiße Birken, alles ist schneebedeckt, ein pudriger weißer Nebel gleitet über die Felder und wird von der Sonne beleuchtet. Um 7 Uhr erklingt zum ersten Mal die Stimme des Zugleiters, der jetzt nicht mehr Deutsch spricht: „God morgon allihopa“ – Guten Morgen zusammen. Wir sind jetzt in Schweden.
Das wird nur noch klarer, je weiter wir durch die schwedischen Weiden fahren. Zwischen den Birken erscheinen Holzhütten, manchmal grasen ein paar flauschige Kühe daneben. Ihre Farben sind in der Morgensonne und neben dem glänzenden Schnee fabelhaft bunt: tiefes Mahagonirot, Waldgrün, Senfgelb. Es würde mich nicht wundern, wenn plötzlich Pippi Langstrumpf durch den Hof hüpfen würde.
Langsam verschwinden die ländlichen Hütten und Felder, Brücken und Hochhäuser geraten in unser Blickfeld. Der Zug fährt sanft, pünktlich und ohne Aufsehen in Stockholm ein – genau das Gegenteil wie bei seiner Abfahrt aus Berlin. Als ich aussteige, kann ich es immer noch kaum glauben, dass ich es trotz allem mit der Bahn nach Schweden geschafft habe. Aber dann verlasse ich die subtile Pracht des Stockholmer Hauptbahnhofs und sehe, wie das Wasser rund um die 14 Inseln, auf denen Stockholm liegt, in der Sonne glitzert; ich sehe die Kirchtürme und die strengen nordischen Winkel des Rathauses, die die Skyline der Stadt prägen. Außerdem bin ich von Menschen umgeben, die Skier tragen. Stockholm eben, total normal.
Ich habe noch fast zwei Tage in der Stadt, bevor ich zurück nach Berlin mit dem Zug fahre. Ich verbringe sie damit, durch ihre Straßen zu schlendern, oft mit einer Tasse Kaffee oder einer Kardamomschnecke in der Hand. Ich sehe mir mit einer Pendlerfähre die Außenbezirke der Stadt an und suche nach Postkarten in den Souvenirläden der Altstadt.
Ankunft in Hamburg mit 400 Minuten Verspätung
Jedem höflichen Schweden, der sich dafür interessiert, erzähle ich, wie ich mit dem ersten direkten SJ-Zug aus Berlin angereist bin. Vielen von ihnen kommt diese Nachricht ganz cool vor. Stockholm erwarte in diesem Sommer bereits einen enormen Zustrom internationaler Touristen, sagt Peter, ein Student, der am Wochenende in einem Souvenirladen arbeitet. Während Schweden in seinem Umgang mit dem Coronavirus ein Ausreißer war, haben auch andere europäische Länder ihre Reisebeschränkungen vollständig aufgehoben. „Wenn wir jetzt auch noch diese Zugverbindung mit Berlin haben, dann könnte es wirklich ernst werden.“
Am Montag fährt mein Zug zurück nach Berlin pünktlich ab, um 17.34 Uhr. Als der Euronight aus dem Stockholmer Hauptbahnhof abzieht, strahlt die Sonne hell und hoch am blauen Himmel hinter dem Stockholmer Rathaus und spiegelt sich auf dem Wasser; es ist fast blendend. Wir verlassen die Stadt und fahren wieder aufs Land, der Himmel färbt sich über den weißen Schneefeldern puderblau und pfirsichfarben. Und als die Sonne untergeht, wird die untere Hälfte des Horizonts hinter den Birken und Kiefern zu einem atemberaubenden Fuchsia-Rosa. Im gemütlichen Zugabteil, und mit einem glücklichen Gefühl über die vor mir liegende Reise, falle ich in den Schlaf.
Als ich um 7.30 Uhr aufwache, stehen wir schon seit zwei Stunden wieder im dänischen Padborg, erzählt mir mein Sitznachbar, der bereits um 6 Uhr in Hamburg hätte sein sollen. Eine defekte Oberleitung nahe Flensburg sei der Grund für die Verspätung; wir hören, dass wir vielleicht mit dem Bus nach Hamburg weitergebracht werden. Endlich bewegt sich der Zug wieder, wir schaffen es bis Flensburg – und stehen dann wieder zwei Stunden still; die Strecke nach Hamburg ist wieder gesperrt. Als der SJ Euronight gegen 13 Uhr endlich in Hamburg einfährt, gibt es eine überraschende Durchsage: Dies wird nun die Endstation sein. Der Zug hatte mehr als 400 Minuten Verspätung.


















