Andreas Mühes sorgsam konzipierte und inszenierte Bildkompositionen verraten immer eine gewisse Verwandtschaft zu Schauspiel, Bühne, Film. Das erschließt sich unter anderem aus Mühes Biografie: Sein Vater war der bekannte, früh verstorbene Schauspieler Ulrich Mühe, (Oscarpreisträger mit dem Donnersmarck-Film „Das Leben der Anderen“, 2006). Seine Mutter ist die renommierte Theaterintendantin Annegret Hahn. Sein Bruder Konrad ist Bildhauer, die Halbschwester aus der zweiten Ehe des Vaters ist Anna Maria Mühe, eine bekannte Schauspielerin.
Von Kind an vertraut mit Verwandlung, schafft Andreas Mühe mit seinen Foto-Inszenierungen durch präzise Lichtregie irreal-schöne, beklemmende Momente der Verführung. Und er liefert so eine Menge Argumente für seine provokanten Inszenierungen „des Pathos als Distanz“, wie er es nennt, ganz nach Nietzsche, der den Philosophen die Überlegenheit des Distanzierten empfahl.
Zur Welt kam Andreas Mühe in Karl-Marx-Stadt, heute wieder Chemnitz, wo seine Eltern am Theater engagiert waren. Als sie nach Ost-Berlin gingen, wuchsen er und sein Bruder im Industriegebiet Schöneweide auf. Nach einem Praktikum während der Oberschulzeit bei PPS in Berlin, einem Fotofachlabor, 1971 in Hamburg von F. C. Gundlach gegründet, das in den 90er-Jahren eine Dependance in Ost-Berlin bekam, damals im Haus des Berliner Verlags, war klar: Er macht eine Lehre im Studio, das heute Pixelgrain heißt, wird Fotograf. Was sonst?
Heute wohnt er in Pankow, hat vier Töchter. Seine Frau Kristina Schrei ist Kunsthistorikerin. Ums Jahr 2012 herum wurde er bekannt mit seinen inszenierten Fotografien, die sich mit deutscher Geschichte und Mythen auseinandersetzen, die jedoch jedwede Erhabenheit des Moments provokant brechen. Seinen Arbeiten, die er ausschließlich analog herstellt, ist oftmals eine ambivalente, fast düstere Anmutung eigen. Sie verweisen auf die nicht mehr sichtbaren, aber noch immer spürbaren Folgen der Historie.

Er sei, das betont er mit Nachdruck, kein Reportage-Fotograf, auch kein Porträtist. Er erfindet fiktive, jedoch irritierend real wirkende Gestalten. Die Kunstwelt starrte 2014 frappiert auf seine „Obersalzberg-Serie“ – provokativ, sarkastisch, schneidend ironisch: dunkeldeutsche Geschichte. Mühe inszenierte Großfotos von Typen in NS-Uniform und mit zackigem Haarschnitt vor der Landschaftskulisse am Obersalzberg.
Ein Jahr später folgte die Serie „Neue Romantik“. Typische Aspekte für die Kunst dieses Stils: die Einsamkeit, das Verschmelzen mit der Natur. Und das „Sehen“ der Landschaft, die den Menschen nicht braucht, der Mensch wohl aber die Natur. Mühe paraphrasierte Caspar David Friedrichs ikonisches „Kreidefelsen“-Motiv an einem Baum vorm Abgrund zwischen den Formationen und ließ den „Wald im Spätherbst“ zum „Gespensterwald“ mutieren.
Diese Inszenierungen provozierten traditionelle Caspar-David-Friedrich-Verehrer. Als Gestalt in Rückenansicht in der hehren Landschaft drehte Mühe die Motive doppelbödig nicht nur in kaltes Mondlicht-Blau und brandiges Braungelb der untergehenden Sonne überm Wasser der Ostsee. Die Männergestalt in dieser Kulisse ist nackt, pinkelt dreist ins Panorama. Welch respektlose Störung der Harmonie. Pathos-Bruch. Die Auseinandersetzung mit den Seelen- oder Trugbildern des Romantikers, so Mühe, hätten ihn an die Natur wieder herangeführt, weil Friedrichs Trick, uns mittels seiner zur Betrachtung der Landschaft gezwungenen Figuren von der äußeren Welt abzuschneiden, so zeitlos funktioniere.
Was für den Romantiker „der innere Blick aus dem gefährdeten Jetzt ins Unendliche“ war, kehrte Mühe um in eine desillusionierte Interpretation im 21. Jahrhundert. Er pflanzte den Ausnahmezustand in den Kopf des Betrachters, darin besteht das Subversive, Provokante. Man muss zweimal hinschauen, dann beginnt die Erzählung.
So in der spektakulären Nationalgalerie-Schau „Familienaufstellung“, 2019 im Hamburger Bahnhof: In wandbreiten Familienporträts vereinte er die lebenden wie toten Mitglieder seiner riesigen, verzweigten Familie, mütterlicher- und väterlicherseits. Die bereits verstorbenen Personen ließ er nach Fotovorlagen als verblüffend lebensecht wirkende Skulpturen nachbilden. Das öffentlich gemachte „Familienbild“ hatte, neben der psychosozialen Aufladung, noch einen denkwürdigen Aspekt: Fotografie zwischen Wahrhaftigkeit und Konstruktion.
Andreas Mühes Mutter als Kanzlerinnen-Double
2020 setzte er mit der „Helden“-Serie „Bioroboter“ oder auch „Liquidatoren“ sein Langzeitthema Helden fort, die eigentlich Antihelden sind. Mit theatralisch inszenierten Gestalten der opferbereiten Ersthelfer im Katastrophengebiet des am 26. April 1986 explodierten Atomreaktors Block 4 des sowjetischen Kernkraftwerks Tschernobyl, Ukraine. Ein erschütterndes Denkmal, inszeniert als dystopische Science-Fiction. Er fotografierte quasi die Verschmelzung von Mensch und Maschine – real und unwirklich zugleich.
Die Männer tragen Gasmasken und Handschuhe, wie zur DDR-Zeit bei Übungen der Zivilverteidigung, stecken in Overalls, Lederwesten, Gummihosen; vergebliche Versuche, sich vor der Strahlung zu schützen. Die angeblich saubere Atomkraft, Superlativ des Fortschritts, hatte ihre Unschuld verloren. Eine offizielle Opfer-Statistik gibt es nicht: 500.000 Tote als vage Annahme.
2021 redete alle Welt von einer Dresdner Schau und nennt Andreas Mühe Kanzlerinnen-Fotograf. Angela Merkels Amtszeit endet bald, aber er war mit ihr nicht etwa auf Tour, er fakte, inszenierte Porträts von der künftigen Polit-Ruheständlerin. Auf etlichen Fotos ist sie es real. Aber in einer langen Serie setzt Mühe seine Mutter Annegret Hahn als Double in Szene, täuschend echt im alten Bonner Kanzlerbungalow.
Dann Herbst 2024, Berlin Art Week. Mühe begann schon im Jahr zuvor eine neue Serie, Deutschlandbilder: Theatralisch und zugleich distanziert arrangierte er fiktive Fotoszenen wie Bühnenstücke mit surrealen Wiedergängern des linken und rechten Terrors in der Bundesrepublik: RAF und NSU, die das Gemeinwesen in den Siebzigern und alsbald nach der Wiedervereinigung in Angst und Schrecken versetzten und Legislative wie Exekutive samt Geheimdienst überforderten.
Inszenierte Gefängniszellen in Stammheim
Mühe hat sich, wie immer vor seinen farbigen Foto-Inszenierungen, die originalen Orte, die Gefängniszellen in Stammheim und den seit 2012 zugesperrten Rechtsradikalen-Club in Jena angeschaut, dann Kulissen gebaut, Schauspieler engagiert und in einer leeren Pankower Fabrikhalle die Zellen der drei RAF-Terroristen im Hochsicherheitstrakt Stammheim nachgestellt. Ebenso jenen düsteren Kellerclub im Plattenbau, wo sich das NSU-Trio radikalisiert hatte, schließlich im Land mordete, Leute mit Migrationshintergrund und eine junge Polizistin. Erst im November 2011 wurden die NSU-Zelle enttarnt und das klägliche staatliche Versagen offenbart.






