Essay

Genderdebatte: Warum vieles dafür spricht, dass Imane Khelif ein Mann ist

Wer genau prüft, sieht, dass mit Khelifs Chromosomen und Testosteronwerten etwas nicht stimmt. Fakten bleiben Fakten. Ein Gastbeitrag.

Die algerische Boxerin Imane Khelif mit ihrem Trainer bei den Olympischen Spielen in Paris.
Die algerische Boxerin Imane Khelif mit ihrem Trainer bei den Olympischen Spielen in Paris.Mohd Rasfan/AFP

Ich interessiere mich nicht sonderlich für die Olympischen Spiele. Und den Namen Imane Khelif habe ich in den vergangenen Wochen zum ersten Mal gelesen. Plötzlich tauchten in meiner Timeline Bilder der Boxerin auf. Oft geteilt wurde auch ein „Faktencheck“ des Volksverpetzers, der besagte: „Imane Khelif ist eine cis-Frau.“ Ich googelte ein bisschen und fand Ähnliches auf der Homepage der Tagesschau, die in ihrem Faktenfinder „transfeindliche Desinformation“ kommentierte.

Ich recherchierte weiter, sah mir den sehr kurzen Achtelfinalkampf von Imane Khelif gegen die italienische Boxerin Angela Carini auf YouTube an und las Postings von J.K. Rowling, Elon Musk oder Matteo Salvini von der rechtspopulistischen Partei Lega. Im Kern sagten alle drei dasselbe: Da hatte ein Mann eine Frau verprügelt. Für mich hingegen hatte das wie ein normaler Frauen-Boxkampf ausgesehen. Harte Schläge? Haben die schon mal einen Männer-Boxkampf gesehen?

Ich las weitere Artikel und postete dann selbst sinngemäß: „Wer sich bisher nicht für Biologie und Boxen interessiert hat, sollte jetzt nicht damit anfangen.“ Dabei hätte ich es belassen können. Später postete ich aber noch einen Artikel von n-tv: „Boxerin Khelif und die Flut an Falschinformationen“. Darin stand unter anderem zu lesen: „Auch Ex-Boxerin Regina Halmich gehört zu denjenigen, die sich entgegen der Fakten aufregen.“ In dem Artikel hieß es auch: „Die Kategorisierung in das binäre System Mann und Frau stoßen im Spitzensport an dessen Grenzen, egal in welche Richtung es geht, es wird schnell diskriminierend.“

Undurchsichtige Faktenlage?

Und so empfand ich es auch: Was sollte dieses entwürdigende Spekulieren über Gene, Hormone, Testosteronwerte oder gar die Frage, ob Khelif einen Mikropenis hat? Und war es nicht klar, dass ich dem weltoffen wirkenden Olympischen Komitee (IOC) mehr Vertrauen schenkte als der wegen Korruption in Misskredit geratenen International Boxing Association (IBA)? Die IBA hatte Khelif und die taiwanesische Boxerin Lin Yu Ting während der Box-Weltmeisterschaft 2023 in Neu-Delhi ausgeschlossen.

Was ich über den Ausschluss lesen konnte, kam mir undurchsichtig vor: Hatten die beiden Testosterontests nicht bestanden oder einen nicht näher benannten „Geschlechtertest“? Auch die zum Thema einberufene Pressekonferenz mit der IBA wirkte auf mich nicht gerade vertrauenerweckend. Der mit Putin befreundete IBA-Präsident Kremlew sprach von deutlich erhöhten Testosteronwerten, während auf der Homepage der IBA in den News vom 31.7.2024 zu lesen steht, dass bei Khelif und Ting keine Testosterontests durchgeführt wurden, sondern „Geschlechtstests“, die ihre geschlechtliche Nichteignung belegten. Der Inhalt müsse aber vertraulich bleiben. Und das sollte ich ernst nehmen?

Vertrauenswürdige Argumente

Damit hätte es gut sein können. Es gab schließlich wichtigere Themen in der Welt, zum Beispiel die Ausbreitung von Mpox-Viren in Afrika, die Kursk-Offensive der Ukraine, die anstehenden Verhandlungen im Nahostkonflikt oder einfach nur mein persönlicher Kontostand. Aber die Debatte um Imane Khelif verfolgte mich weiter. Mittlerweile hatten sich nämlich in den sozialen Medien auch Menschen kritisch zu Khelifs Olympiateilnahme geäußert, deren Sichtweisen ich generell ernst nahm.

Was Trump, Musk oder Meloni von sich geben, motiviert mich in der Regel nicht dazu, einen Sachverhalt genau zu überprüfen. Wenn aber Feministinnen, Tanspersonen und akademisch meist redlich argumentierende Freunde die Sache mit Khelif ganz anders sehen als ich, werde ich nachdenklich. Ich musste an die Diskussionen über Marie-Luise Vollbrecht denken. Die Biologin hatte an der Berliner Humboldt-Universität einen Vortrag halten wollen, Titel: „Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht: Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt“. Dieser wurde aufgrund von Protesten zunächst abgesagt.

Fakten müssen ernst genommen werden

Queer-Aktivist:innen bezeichneten Vollbrecht als „transfeindlich“, unter anderem, weil sie Mitverfasserin eines Welt-Artikels war, der Transgender-Ideologie im öffentlich-rechtlichen Rundfunk beklagte. Wie bei Imane Khelif hatte es damals in der Debatte zwei klar positionierte Lager gegeben. Das eine erklärte Vollbrecht zur geschichtsblinden Transhasserin, das andere zur seriösen wissenschaftlichen Stimme. Rechte Medien nutzten den Fall, um über die Cancel Culture „militanter Wissenschaftsgegner“ zu schreiben. Damals hatte ich mir Tweets von Vollbrecht angeschaut und sie nicht gerade sympathisch gefunden. Dann aber wollte ich das mit den biologischen Geschlechtern genauer wissen und las mich in das Thema ein.

Um es kurz zu machen: Biologisch betrachtet ist „Geschlecht“ ein Merkmal sich fortpflanzender Organismen, die entweder über männliche oder weibliche Gonaden (Keimzellen) verfügen. Entweder. Oder. Kein drittes, viertes oder fünftes Geschlecht, was ja evolutionär betrachtet auch unsinnig wäre. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass es innerhalb der Menschen mit Eizellen oder Spermien produzierenden Gameten (Keimdrüsen) nicht eine Spannbreite an biologischer Beschaffenheit gibt. Oder dass biologische Frauen nicht einen XY-Chromosomensatz haben können, wie etwa beim sogenannten Swyer-Syndrom.

Und natürlich kann uns biologische Forschung nichts dazu sagen, wie viele Geschlechtsidentitäten Menschen für sich annehmen oder ob sich ein Mann nicht als Frau fühlen und eine Transition durchführen lassen darf. Verwirrung entsteht, wenn einerseits Menschen basale biologische Fakten nutzen, um gegen trans-Personen zu argumentieren, und im Gegenzug andere Menschen die biologische Zweigeschlechtlichkeit anzweifeln, um transfreundlich zu sein. Anders gesagt: In Debatten um das Geschlecht eines Menschen mischen sich in der Regel biologische Argumente, weltanschauliche Deutungen und moralische Empörung. Den Forschungsstand zur Photosynthese hat meines Wissens nach noch niemand öffentlichkeitswirksam angezweifelt, aber Pflanzen feiern auch keinen CSD.

Wer einen XY-Chromosomensatz und hohe Testosteronwerte hat, ist biologisch ein Mann

Ich wollte es wirklich wissen: Ist Imane Khelif biologisch ein Mann, und ist es deshalb allein aus Sicherheitsgründen falsch, Khelif beim Frauenboxen antreten zu lassen? Wie kann man sich als Laie in einer aufgeheizten Debatte selbst ein klares Bild verschaffen? Es herrscht viel Konfusion: trans, inter, gender, sex. In Bezug auf das biologische Geschlecht (sex) machen selbst Wissenschaftler:innen den Kategorienfehler, von nicht klar definierten Grenzen zu sprechen, weil sie Abweichungen in der Geschlechtsentwicklung zu einer Grauzone oder gar weiteren biologischen Geschlechtern umdeuten. Da diese Deutungen in Zeitungen bereitwillig aufgenommen werden, muss man als Laie einen anderen Weg gehen, um sich Klarheit zu verschaffen. Man muss Expert:innen fragen. Biolog:innen, Humangenetiker:innen, Endokrinolog:innen.

Ich fragte rum und bekam den Hinweis auf ein fast zweistündiges Gespräch mit der Humangenetikerin Adenin bei YouTube. Laut Adenin sprechen alle verfügbaren Indizien klar dafür, dass Khelif biologisch betrachtet ein Mann ist. Sie stützt sich dabei zum einen auf ein Interview mit einem Trainer Khelifs, in dem dieser zugibt, dass sie selbst Tests durchgeführt haben, die zeigen, dass mit Khelifs Chromosomen und Testosteronwerten etwas nicht stimmt.

Für Adenin ist das ein deutliches Indiz: Wer einen XY-Chromosomensatz UND sehr hohe Testosteronwerte hat, hat kein Swyer-Syndrom und ist biologisch ein Mann. In diese Richtung weisen auch die Aussagen von Dr. Ioannis Filippatos, der 2023 Vorsitzender des medizinischen Ausschusses der IBA war. In den Südtirol-News, die sich auf einen Artikel in der italienischen Zeitung La Verità beziehen, wird Filippatos zu den Tests an Khelif und Ting so zitiert: „Es handelte sich um Gentests, die in zwei von der Schweizer Organisation für Normung ISO und vom College of American Pathologists akkreditierten Laboren – im Tip Laboratuvari System in Istanbul und im Dr. Lal PathLabs in Neu-Delhi – an Blutproben durchgeführt wurden. Ich weiß nicht, warum das IOC sie nicht anerkennen will, aber das Ergebnis ist eindeutig. Die Chromosomenanalyse ergab in beiden Fällen einen männlichen Karyotyp.“

Zuordnungen von Chromosomenpaaren

Dazu muss man wissen: Laut der IBA ist männlich, wer in der Chromosomenanalyse ein Y-Chromosom aufweist. Laut dem IOC hingegen ist weiblich, wer im Pass als „weiblich“ deklariert ist. Beide Kriterien lassen sich anzweifeln. Entsprechend räumt Filippatos laut Südtirol-News ein, dass zum Ausschluss einer Störung der Geschlechtsentwicklung bei beiden Sportlerinnen weitere Untersuchungen notwendig wären.

Tatsächlich ist die Zuordnung XY-Chromosomenpaar = männlich wissenschaftlich nicht korrekt und mindestens veraltet. Manche sprechen von „intersexuell“, andere von Anomalien beziehungsweise DSD (differences in sexual development), um Fälle zu beschreiben, in denen die primären Geschlechtsmerkmale eines Menschen nicht zu seinem Chromosomensatz passen. So wie offenbar bei Khelif. Auch Menschen mit DSD sind entweder biologisch männlich oder weiblich, aber es ist „von außen“ oft nicht leicht zu beurteilen.

Wenn Geschlecht nur eine Performance ist

Adenin macht darauf aufmerksam, dass es keinen Sinn ergibt, Gentests zu fälschen, da eine Sportlerin oder ein Sportler falsche Ergebnisse leicht durch einen eigenen Test widerlegen und das Renommee der Testinstitute beschädigen könnte. Dass Khelif das nicht tut, ist für Adenin ein weiteres Indiz. Und schließlich gibt es mit Alan Abrahamson einen Sportjournalisten, der sich sachlich um Klärung aus erster Hand bemüht hat. Anhand der ihm vorliegenden Testergebnisse kommt er zu dem Schluss: Khelif ist biologisch ein Mann.

Es bleibt die Frage: Ist ein biologischer Mann Frauen im Boxen so überlegen, dass eine Teilnahme in jedem Fall unfair und gefährlich ist? Schließlich ist Khelif doch offensichtlich als Frau geboren und leidet an einer Abweichung der Geschlechtsentwicklung. Wie sich eine solche untypische Biologie auf die Leistungsfähigkeit im Sport auswirkt und wo die Grenze wegen Wettbewerbsvorteilen zu ziehen wäre, ist ein kompliziertes und keineswegs abschließend erforschtes Feld.

Die Regelung des IOC, einfach den Pass entscheiden zu lassen, kann allerdings keineswegs befriedigen. Der Sportphysiologe Tommy Lundberg, der unter anderem zu Muskelkraft, -größe und -zusammensetzung bei transgender-Personen forschte, sieht eindeutige Belege dafür, dass sich Inklusion und Fairness bei Personen wie Khelif im Sport ausschließen. Die Schlagkraft biologisch männlicher Individuen ist Studien zufolge um 162 Prozent höher als bei Frauen. Grund dafür ist vor allem der deutlich höhere Testosteronausschuss während der Pubertät.

Es spricht viel dafür, dass biologische Männer auf keinen Fall beim Frauenboxen teilnehmen sollten und falsch verstandene Liberalität nichts mit Emanzipation und Feminismus zu tun hat. Man mag die IBA unseriös finden, Rowling überspannt und die mehrheitlich rechten Kommentatoren, die Khelif als Mann bezeichnen, ideologisch fragwürdig – davon sollte man sich aber nicht abhalten lassen, die Fakten zur Kenntnis zu nehmen, gerade als Journalist:in. Angebliche Progressivität kann schnell zum – von Reaktionären beklatschten – Bumerang werden. Eine „Ideologiekritik“, die auch das biologische Geschlecht zum kulturellen Konstrukt erklärt, sollte ihre Position überdenken: Wenn Geschlecht nur eine Performance ist – wer muss dann trans-Personen ernst nehmen?

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