Berlin-Marcel Luthe ist kein zeitreisender Pirat. Doch mit seinem Captain-Morgan-Bart, der großen Narbe auf der Stirn, seinen halbhohen Lackstiefeln und dem Loch im linken Ohrläppchen (das sich auf Nachfrage als Muttermal herausstellt), wirkt der Spitzenkandidat der Freien Wähler wie aus einer etwas anderen Welt. Aber auch ohne Zeitmaschine ist Luthe ein bunter Vogel und passt damit gut zu den Freien Wählern. Denn bei der Partei, deren Wappentier der Flamingo ist, wird Individualität radikal gelebt.

Am 11./12. September 2021 im Blatt:
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Wer wissen will, was ein Opernsänger mit tiefem Ausschnitt, die Mafia, Imprägnierspray-Vorratsdosen und der drohende Sozialismus miteinander zu tun haben, erfährt es bei den Freien Wählern. Um kurz nach sieben betritt Ilja Martin die Bühne der Tegeler Seeterrassen. „Die Zeit ist reif zum Korrigieren alter Fehler, die Zeit ist reif für uns Freie Wähler“, singt der Direktkandidat für Pankow 3 zum Auftakt. Später wird der Tenor noch Elvis-Songs zum Besten geben. Doch erst einmal wird es ernst.
Luthe geißelt in seiner Rede das Vorgehen der Berliner Behörden im Umgang mit der Organisierten Kriminalität. Während Razzien in Schischa-Bars den Bürgern eine Null-Toleranz-Politik gegen Clans vorgaukeln sollen, schöben die richtigen Bosse im Hintergrund Millionensummen hin- und her.
Keine Lagebild zur Organisierten Kriminalität seit 2014
Was Luthes These stützt: Seit 2014 hat es zur Organisierten Kriminalität in der Stadt kein Lagebild mehr gegeben. Luthe tritt an, dem Senat die Maske vom Gesicht zu reißen. An einem Tisch im hinteren Bereich klatscht der Leiter der Polizeidirektion 6, Michael Knape. Vor ihm und auf vielen weiteren Tischen stehen dabei zahllose Collonil-Sprays mit 33 Prozent mehr Inhalt, die von einem der Geschäftsführer der Reinickendorfer Firma gespendet wurden.
Doch die kampfeslustige Stimmung und teils kuriosen Szenen wandeln sich nach den ersten Minuten der Rede von Hubertus Knabe ins Düstere. Der ehemalige Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen spricht zuletzt. Er zeichnet ein beängstigendes Bild linksradikaler Kräfte in der Stadt, die den Weg zurück in den Totalitarismus ebnen. Zum Glück lockert zuletzt ein Duett des Tenors mit seiner Teenager-Tochter den Abend auf.
Die Freien Wähler sind nicht Luthes erste politische Heimat. Rund 20 Jahre wirkte der geborene Bottroper (das liegt im Ruhrpott) bei den Freien Demokraten. Bis vergangenes Jahr. Im Juli 2020 schloss die Fraktion Luthe ohne konkrete Angabe von Gründen aus. Luthe selbst führt den Bruch auf eine Reihe von Meinungsverschiedenheiten zurück; beispielsweise beim Thema Antisemitismus. Aus der FDP heißt es nur, Luthe sei keine einfache Persönlichkeit und kein Teamplayer. So kann es gehen, wenn selbst für Liberale zu viel Eigensinn herrscht. In jedem Falle konnte man sich durch den Rauswurf auch eines prominenten parteiinternen Mitbewerbers entledigen.
Der Piesacken-Profi aus dem Abgeordnetenhaus
Denn mit Luthe verloren die Freien Demokraten nicht nur einen bunten Hund, sondern auch einen Experten im parlamentarischen Piesacken. Bei aller Extravaganz im Auftritt weiß der 44 Jahre alte Mann, die Klaviatur des Abgeordnetenhauses zu spielen. Er gilt als Anfragekönig und bombardiert den Senat seit Jahr und Tag mit Fragen zu allem von Hunderenten bis Corona-Maßnahmen. Ganz zu schweigen von seiner Rolle beim wichtigsten Thema der Berliner FDP in den letzten Jahren: Es war Luthe, der die Idee für den Volksentscheid zu Tegel hatte.
Im Herbst trat der Familienvater dann auch aus der FDP aus und fand zu den Freien Wählern. Das ist nicht ungewöhnlich. Viele, die bei FDP und CDU unzufrieden wurden, finden sich hier wieder. Doch solche Wechsel führen zu Spannungen. Starke Persönlichkeiten drängen mit Macht in die kleine Partei. Auch Luthe bekam Anfang des Jahres Schwierigkeiten. Er soll eine Hoheit über die Verteilung der Listenplätze verlangt haben. Es rumorte im Landesverband. Treffen Luthes mit FW-Spitzenvertretern an Straßenecken während des Lockdowns im Frühjahr wurden heimlich per Teleobjektiv aufgenommen und Zeitungen zugespielt. Doch am Ende entschied sich die Partei für den vielversprechenden Weg mit dem bekannten Luthe.
Gerade an ihm hängt der Erfolg. Denn für den Einzug ins Abgeordnetenhaus müssen die Freien Wähler nicht einmal zwingend über die Fünfprozenthürde. In Berlin gibt es da nämlich eine Ausnahme: Erringt ein Kandidat ein Direktmandat, gilt die Hürde nicht mehr. Luthe will das ist Charlottenburg-Wilmersdorf schaffen und träumt bereits von bürgerlichen Koalitionen jenseits der SPD. Dafür müssen wohl aber die Berliner noch etwas mehr Fantasie aufbringen.






