Politik-Check zur Abgeordnetenhaus-Wahl

Franziska Giffey: Trotz aberkannten Doktortitels auf Erfolgskurs

Die Spitzenkandidatin der Berliner SPD, Franziska Giffey, führt mit Abstand in den Umfragen. Obwohl sie Fehler gemacht hat. Wie schafft sie das?

Franziska Giffey
Franziska GiffeyBerliner Zeitung

Berlin-An einem gestochen scharfen Septembermorgen wird Franziska Giffey am Nordbahnhof eine besprayte Plakatwand vorgestellt. Das Presseteam der Spitzenkandidatin schießt Fotos, die Schöpferin S04 Melone erzählt von ihrem Werk mit dem SPD-Herz darauf, ein Herr von der sogenannten Graffiti Lobby wünscht sich mehr freie Wände in der Stadt. Es könnte ein belangloser Termin sein. Doch dann hakt Giffey ein.

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Ob denn mit mehr solcher Freiflächen auch endlich weniger Häuser besprüht werden, will sie wissen. Na klar, versichert der Lobbyist. Giffey neigt leicht den Kopf, lächelt, so als wollte sie sagen: Wer’s glaubt, wird selig. Man lacht, die Stimmung ist gut. Aber hier blitzt das auf, was Giffey von vielen in und außerhalb ihres Landesverbands unterscheidet: Sie richtet den Blick gern auf Ordnung und Sauberkeit, aufs Fordern und Fördern – in dieser Reihenfolge. Während die Berliner SPD von intersektionellem Queer-Feminismus und einer Abschaffung aller Hartz-IV-Sanktionen träumt, forderte Giffey Anfang Juli, Schwerverbrecher nach Syrien abzuschieben. Die Strategie der Strenge scheint zu funktionieren: Innerhalb von zwei Monaten ist die SPD in Umfragen von 17 auf zuletzt 27 Prozent geklettert.

Im Juni wurde ihr endgültig der Doktortitel entzogen

Zwar steckt sicher auch SPD-Bundestrend in dem Aufwind, aber Giffey nahm schon vorher Fahrt auf. Manchmal kommen Genossen ins Schleudern, wenn die 43 Jahre alte Politikerin schon wieder eine Position der Michael-Müller-SPD von Mietendeckel über Mobilitätsgesetz bis hin zu Bauordnungen räumt. Die Partei werde später noch mitreden, heißt es dann. Viele reiben sich auch einfach noch die Augen, wie schnell sich die Stimmung gedreht hat. Denn vor Kurzem sah es gar nicht gut aus für die Berliner Sozialdemokraten. Und Giffeys Anteil daran war nicht unerheblich.

Nach langen Querelen war ihr im Juni endgültig der Doktortitel entzogen worden. Die Freie Universität stellte eine „Täuschung über die Eigenständigkeit ihrer wissenschaftlichen Leistung“ fest. Schon letztes Jahr, als die Arbeit zum zweiten Mal geprüft wurde, hatte Giffey erklärt, den Titel nicht mehr führen zu wollen und war außerdem als Bundesfamilienministerin zurückgetreten. An der Kandidatur in Berlin hielt sie jedoch unbeirrt fest. Im Raum stand schnell die Frage: Wenn es für den Bund nicht mehr reicht, wieso dann für das Rote Rathaus? Gerade sie, die klare Regeln stets als Gegenmittel zum Neuköllner Chaos gepriesen hatte, war bei einer Regelverletzung erwischt worden.

Beliebteste Spitzenkandidatin

Wenn Giffey über die Arbeit spricht, benutzt sie häufig ein Possessivpronomen. Von „meiner Arbeit“ redet sie dann. Sie hat nie eingeräumt, dass es zumindest Fahrlässigkeit gegeben haben könnte. Unter den bundesweit bekannten Politikern, denen Dissertationen aberkannt wurden, finden sich eine Reihe CDU- und FDP-ler. Giffey ist die einzige Sozialdemokratin.

Doch die Masse der Bürger scheint das kaum zu ärgern. Ausweis der jüngsten Erhebung von Ende August ist die verheiratete Mutter eines Sohnes immer noch die beliebteste Spitzenkandidatin; wobei sie seit Mai acht Punkte eingebüßt hat und nun von 37 Prozent der Bürger positiv bewertet wird. Anscheinend überzeugen einige die politischen Positionen der in Frankfurt (Oder) geborenen und im Spreewald aufgewachsenen Giffey. Und aus denen hat sie nie einen Hehl gemacht hat. Das weiß auch die Berliner SPD, die sie mit knapp 86 Prozent zur Spitzenkandidatin kürte. Man kennt sich.

Giffeys Appeal hat nicht nur mit ihrer politischen Arbeit zu tun

Der ehemalige Neuköllner SPD-Bürgermeister Heinz Buschkowsky entdeckte Giffey Anfang der 2000er Jahre und machte sie 2002 zur Europabeauftragten des Bezirks. Eine dankbare Stelle, bei der man Geld aus Brüssel besorgt und dabei auch noch in der Welt herumkommt. Erst fünf Jahre später trat sie der Partei bei. Es folgte ein rasanter Aufstieg: 2014 wurde sie Kreisvorsitzende in Neukölln, 2015 als Nachfolgerin von Buschkowsky Bürgermeisterin des Bezirks und 2018 Bundesfamilienministerin. Dort arbeitete sie den Koalitionsvertrag, anders als in Berlin, übrigens ab. Heute sprechen Buschkowsky und Giffey eigenen Aussagen nach nicht mehr miteinander, aber sein hartleibiger Geist lebt in ihr fort. Es ist eine SPD, die lange verschwunden war und nun wieder zum Vorschein kommt, die Sarrazin-SPD.

Doch mit harten politischen Ansagen allein, lässt sich Giffeys Appeal trotzdem nicht erklären. Andere SPD-Politiker, Andrea Nahles zum Beispiel, leisteten gute Sacharbeit und wurden nie beliebt. Wieder andere bezogen ähnlich kontrovers Stellung und profitierten nicht. Was die Berliner betrifft, geht es vielleicht noch um etwas Trivialeres.

Sie wollen von jemandem mit gesamtdeutscher Bedeutung regiert werden. Jemandem, der wie Weizsäcker oder Wowereit überall bekannt ist. Nach dieser Lesart hätte die Sache mit der Doktorarbeit Giffey am Ende vielleicht sogar genutzt.

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.