Der Krieg in der Ukraine ist für uns alle schwer fassbar, selbst als Erwachsene. Für Kinder sind die Geschehnisse umso schwerer zu begreifen, weil sie keine Vorstellung davon haben, was Krieg bedeutet. Viele Kinder haben Fragen, auf die wir kaum Antworten finden, weil das Verstehen so schwer ist. Dennoch sollten wir nicht verstummen und die Kleinen allein lassen. Wie man das Thema Krieg richtig und dem Alter angemessen bespricht, weiß Kinder- und Jugendtherapeut Dr. Christian Lüdke, der seit Jahren traumatisierte Kinder behandelt.
Der zweifache Vater betreut Kinder nach Amokläufen, Naturkatastrophen und Unfällen, wenn sie geliebte Menschen verloren haben oder selbst verletzt wurden. „Das Wichtigste ist: Bleiben Sie als Erwachsene selbst stark“, rät der Experte. „Zeigen Sie Ihre eigenen Emotionen – Wut, Verunsicherung, Trauer, Angst – nicht zu deutlich, denn Ihr Kind schaut zu Ihnen auf. Sie sind der Fixpunkt, an Ihnen orientiert sich Ihr Kind, egal, wie alt es ist.“
Wie erkläre ich einem Kindergarten Kind, was Krieg ist?
Kleinkindern unter drei Jahren sollten sie möglichst nichts vom Krieg erzählen, weil sie es nicht verstehen. In ihrer Gegenwart sollte man als Erwachsener auch immer die Fassung bewahren, weil die Kinder die gezeigten Gefühle auf sich beziehen könnten: „Kleine Kinder denken immer, dass die Wut oder Traurigkeit der Eltern etwas mit ihnen selbst zu tun hat“, weiß Dr. Christian Lüdke. „Das verunsichert sie extrem. Deshalb ist es wichtig, selbst gefasst zu bleiben. Sollte Ihnen das nicht gelingen, müssen Sie das Ihrem Kind erklären: ‚Ich bin gerade traurig, weil ich mir Sorgen mache. Aber das hat nichts mit dir zu tun, du musst keine Angst haben.‘“
Besonders Kindergartenkinder lassen sich dann leicht wieder ablenken. Beginnen Sie ein Spiel und machen etwas Schönes. Achten Sie darauf, im Fernsehen oder Radio keine Nachrichten laufen zu lassen, um Ihrem Kind keinen Anlass zur Sorge zu geben. Vor allem Kinder, die älter als drei Jahre sind, schnappen schnell etwas auf und fragen viel. Versuchen Sie, die Kriegsthematik von Ihrem Kindergartenkind fern zu halten.
Ältere Kitakinder, also fünf- bis sechsjährige, kann man aber durchaus ein bisschen aufklären. „Die wissen, wie es ist, sich zu streiten“, sagt der Therapeut. „Und in dieser Lebenswelt muss man sie abholen. Sie könne sagen: ‚Stell dir vor, da kommt jemand in dein Zimmer und sagt, das gehöre jetzt alles ihm. Und dann bringt er auch noch Kumpels mit, die alles in Beschlag nehmen.‘ Diese bildliche und kindgerechte Beschreibung verstehen Kinder. Sie werden dann schnell sagen, dass das ungerecht sei und Lösungsvorschläge entwickeln. Das ist gut, sprechen Sie darüber, was man tun könnte.“
Allerdings sollten Sie niemals von sich aus anfangen, sondern stets darauf warten, ob Ihr Kind von sich aus Fragen hat. Und Sie sollten Ihrem Kind die Details ersparen. Sprechen Sie nicht über zerstöret Häuser, elternlose Kinder, Familien auf der Flucht. Das macht Angst! „Bleiben Sie bei den Erfahrungen, die Ihr Kind bereits gemacht hat. Vielleicht wurde es geschubst oder gekratzt. Fragen Sie, wie es sich gefühlt hat und wie es aus der Situation herausgekommen ist. Sagen Sie, dass es okay ist, sich zu wehren und dass das die Menschen in der Ukraine auch gerade tun“, so Dr. Christian Lüdke.
Grundschulkinder: Seien Sie (nicht zu) ehrlich
Bis zum Alter von etwa neun Jahren besteht die Welt für Kinder hauptsächlich aus den Eltern und den Spielsachen. All ihre Gefühle projizieren sie auf uns und auf ihr Spielzeug, das für sie genau so lebendig ist wie wir. Wenn es denen gut geht und Mama und Papa auch, dann ist die Welt weitgehend in Ordnung. Deshalb gilt auch hier: Seien Sie stark und lassen sich Ihre Verunsicherung nicht anmerken. „Kinder haben eine unglaubliche Fantasie und übertragen vieles, was sie hören, auf ihr eigenes Leben. Das kann schlimm für sie sein“, erklärt Dr. Christian Lüdke. Deshalb dürfen Sie bis zum Alter von etwa neun Jahren zu Notlügen greifen, wenn Ihr Kind sie fragt, ob der Krieg auch zu uns kommen kann. Dann können Sie sagen: ‚Nein, so etwas wird hier nicht passieren. Du bist sicher, wir passen gut auf dich auf.‘
Ab zehn Jahren können Sie mit einem Kind im Prinzip so sprechen wie mit einem Erwachsenen. Fangen Sie aber nicht von selbst an nach dem Motto ‚So, jetzt müssen wir mal über den Krieg reden‘ und seien Sie ebenso sparsam mit den Details. „Schmücken Sie nichts aus, geben Sie nur die wichtigsten sachlichen Informationen“, empfiehlt der Experte. „Gehen Sie dann in einen Dialog mit Ihrem Kind. Fragen Sie, was es glaubt, was man tun könnte oder wie Kriege entstehen, ob man irgendwie helfen kann. Probieren Sie also, weniger über den Krieg als solchen zu sprechen, sondern Ihr Kind dazu zu bewegen, von sich aus zu fragen. Das hat den Vorteil, dass das Kind das Tempo vorgibt und man auf seinem Wissensstand weiter sprechen kann.“
Beobachten Sie das Verhalten Ihres Kindes: Malt es anders als sonst? Verändert sich sein Spiel? „Wenn Kinder nach einem gravierenden Vorfall plötzlich mit Pistolen spielen oder schreckliche Szenen zeichnen, nennt man das traumatisches Spiel. Sie verarbeiten das Geschehen auf ihre Weise“, sagt Dr. Christian Lüdke. „Nach den Terroranschlägen vom 9. September 2011 hat ein Junge ein Gesicht gemalt, dem zwei Zähne fehlten. Er sagte, er fände, das New York eben zwei Zähne verloren hätte. Und es stimmte ja auch: Das Gesicht der Stadt hatte sich verändert.“
Sollte Ihr Kind also in Reaktion auf den Krieg beziehungsweise die Nachrichten anfangen, das im Spiel zu thematisieren, bleiben Sie wachsam – aber greifen Sie nicht ein, verbieten Sie das nicht. „Sie können das zum Anlass nehmen, um nachzufragen: ‚Was machst du denn da? Aha, und was bedeutet das?‘ Und dann reden Sie miteinander. Bald schon werden Sie aber feststellen, dass sich das Malen, Basteln oder Spielen Ihres Kindes weiter entwickelt, dass es währenddessen Lösungsfantasien ersinnt, die Bilder und das Spiel sich verändern. Das ist gut, denn es zeigt, dass Ihr Kind sich konstruktiv mit all dem auseinander setzt.“ Indem Ihr Kind malt, bastelt oder baut, bekommt die Fantasie eine Gestalt – und die kann man in eine Schublade legen, umbauen, weg radieren, übermalen. Dieser Verarbeitungsprozess ist gesund.
Sofern Sie auf die Fragen Ihres Kindes keine Antworten finden, beispielsweise wie der Krieg aussieht, können Sie anbieten, gemeinsam Kinder-Nachrichten zu gucken. Lassen Sie Ihr Kind aber nicht allein fernsehen, weil es währenddessen Fragen haben wird und möglicherweise auch mal in den Arm genommen werden muss. „Allerdings würde ich davon abraten, das Fernsehen grundlos von sich aus anzubieten, also ohne dass es eine konkrete Nachfrage dazu gibt. Es ist sinnvoller, im Gespräch den Krieg zu thematisieren, als die Aufklärung darüber dem Fernsehen zu überlassen. Sie wissen am besten, wie Ihr Kind tickt und welche Informationen es verkraftet“, sagt der Therapeut.
Und schließlich: Sorgen Sie für Entspannung und Abwechslung. Der Krieg sollte nach Möglichkeit nicht jedes Gespräch dominieren, bei allen Mahlzeiten thematisiert werden. Das ist zu viel für Grundschulkinder. Das Gehörte arbeitet in den Kindern ohnehin weiter, weshalb man die Redezeit über den Krieg begrenzen sollte. „Indem Sie trotz allem schöne Erlebnisse schaffen, vermitteln Sie Ihrem Kind Stabilität, und die braucht es jetzt, um keine irrationalen Ängste zu entwickeln“, rät Dr. Christian Lüdke.
Wie spricht man mit Jugendlichen über den Krieg?
Auch Teenager brauchen ihre Eltern als starke Personen, die Halt geben, Zuversicht vermitteln. „Sie können mit Jugendlichen natürlich reden wie mit Erwachsenen, sollten aber immer auch betonen, dass ganz bestimmt alles wieder gut wird“, so der Therapeut. „Ansonsten besteht die Gefahr, dass die oder der Jugendliche stark mitleidet und Horrorfantasien entwickelt. Das ist zwar bei Kindern aus labilen Verhältnissen sehr viel wahrscheinlicher, aber im Hinterkopf sollte man das immer haben, denn Kinder jedweden Alters wollen von ihren Eltern hören, dass es ein Happy End gibt. Das Aufzeigen einer positiven Perspektive gibt ihnen Kraft und Hoffnung.“
Lügen sollten Sie jedoch nicht. Je nach Fragestellung ist es auch okay, wenn Sie zugeben, etwas nicht zu wissen. Diese Ehrlichkeit können Jugendliche als authentisch verstehen – mehr, als wenn man ihnen etwas vorspielt. Es ist okay, als Eltern nicht perfekt zu sein, weil das die Kinder von dem Druck befreit, selbst immer alles richtig machen zu müssen. Insofern: Schlagen Sie vor, die Antworten anderswo zu suchen, wenn Sie nicht weiterwissen. „Sie können Ihren Teenager fragen, ob er oder sie eine Idee hat, wen man noch fragen könnte. Die Oma, den Patenonkel, jemanden aus der Schule? Und dann schlagen Sie vor, die drei oder vier wichtigsten Fragen auszuformulieren, um sie nicht zu vergessen“, rät der Experte.
Wichtig ist, dass Ihr Kind sich von Ihnen ernstgenommen fühlt, dass Sie nicht zwischen Tür und Angel eine Antwort zu finden versuchen. Im Zweifel können Sie sich auch gemeinsam vor den Rechner setzen und nach vertrauenswürdigen Informationen im Internet suchen. Achten Sie darauf, Ihrem Kind zu vermitteln, welche Quellen aus welchen Gründen valide Informationen bereitstellen. Besprechen Sie, was Sie sehen und lesen. Und eventuell entwickeln sie daraus neue Fragen, die Ihr Teenager dann mit in den Unterricht nehmen kann.






