Kriegsangst

Plötzlich ist Krieg: Wie in Blitzesschnelle Gewissheiten zerbröseln

Ist es lächerlich, wenn einer einen Notfallkoffer für den Ernstfall packt? Vielleicht nicht, wenn gar nichts mehr sicher scheint.

„Die weißen Tauben sind müde“ – auch ein Song aus den 1980er-Jahren, der einem gerade einfällt.
„Die weißen Tauben sind müde“ – auch ein Song aus den 1980er-Jahren, der einem gerade einfällt.dpa/Rolf Vennenbernd

Am Montagmorgen am Frühstückstisch sagte mein Ehemann, er gehe jetzt in den Keller und packe einen Notfallkoffer. Falls der Krieg kommt. Demnächst – morgen – übermorgen – ganz egal. Im ersten Moment wusste ich nicht, was ich dazu sagen sollte. Dass er übertreibt? Völlig absurd? Dass er ruhig machen soll, wenn es ihn beruhigt?

Soweit sind wir also. Menschen packen für den Ernstfall. Nicht irgendwo in einem entlegenen Kriegsgebiet, sondern mitten unter uns, in Europa, in Deutschland, in der deutschen Bundeshauptstadt.

Da reicht doch der Personalausweis?

Je länger ich darüber nachdenke, umso sinnvoller finde ich seine Reaktion auf das Säbelrasseln des russischen Präsidenten. Nicht weil es irgendetwas nützen würde. Wo würden wir denn hingehen mit dem gepackten Koffer, wenn Berlin angegriffen würde? Und was sollen wir da reinpacken? Konserven? Kleider? Dokumente? Oder vielleicht das Goldarmband von der Oma? Wir haben ja nicht mal gültige Reisepässe für alle Familienmitglieder. So unsinnig erschien uns die Vorstellung, allzeit bereit sein zu müssen. In einem vereinten Europa reicht doch der Personalausweis.

Reichte bisher. Für die Zukunft würde ich keine Garantien mehr abgeben. Alles scheint nun plötzlich in Frage zu stehen. Der Bundeskanzler hat das in seiner Regierungserklärung im Deutschen Bundestag am Sonntag Zeitenwende genannt. Sie scheint umfassend zu werden. Seit Donnerstag, seit der russische Staatspräsident Wladimir Putin die Ukraine überfallen hat, gibt es keine Gewissheiten mehr.

Dafür ist gerade einfach zu viel kaputt gegangen. Es wird nie wieder Krieg in Europa geben, habe ich meinen Kindern erzählt, dafür seien die Verbindungen viel zu freundschaftlich, die wirtschaftlichen Verflechtungen zu dicht, der Friedenswunsch nach den Erschütterungen des Zweiten Weltkriegs zu groß. Sie sind mit der Selbstverständlichkeit absoluter Reisefreiheit aufgewachsen, der Weltoffenheit und liberaler Völkerverbindung, der Vorstellung einer vollkommen überflüssigen Bundeswehr und dass man Waffen nicht in Kriegsgebiete liefert.

Jetzt ist der europäische Luftraum teilweise gesperrt. Die Idee der Friedenssicherung durch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit hat Dellen bekommen. Uns wird vielleicht bald der Gashahn abgedreht und erste Politiker denken laut über eine neue Wehrpflicht nach. Glaubenssätze wie Wandel durch Annäherung geraten ins Wanken. Wir sehen, dass wirtschaftliche Abhängigkeiten im Ernstfall gar nichts bedeuten. Die Länder setzen wieder auf Selbstversorgung.

Und das alles nach fünf Tagen. Innerhalb kürzester Zeit sind so viele Gewissheiten flöten gegangen, dass jetzt überhaupt nichts mehr zu halten scheint.

Als Putin am Wochenende mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht hat, hat es mich dann auch noch in die 1980er-Jahre zurück katapultiert. Ich hätte nicht gedacht, dass die damaligen Erschütterungen so tief sitzen.

Die 80er-Jahre sind meine Teenager-Zeit. Ich erinnere mich noch sehr gut an 1983, das angeblich gefährlichste Jahr der Weltgeschichte, wie der Deutschlandfunk einmal titelte. Damals hatten die USA beschlossen, Mittelstreckenraketen in Deutschland zu stationieren. Ich erinnere mich an das Hin und Her gegenseitiger Drohgebärden. Irgendwann hat der amerikanische Präsident Ronald Reagan einmal gewitzelt, ohne dass er wusste, dass das Mikrofon offen war, gleich werde bombardiert. Was da los war. Ich erinnere mich an das martialische Auftreten der Kremlführer, an Militärparaden mit Raketen in Ostblock-Staaten.

36 mal die Erde sprengen

Wir wussten damals alles über Pershings und SS-20-Raketen. Wir haben auf dem Schulhof Strichlisten mit Kreide auf den Asphalt gemalt, wer wie viele Atomsprengköpfe hatte und berechnet, dass die beiden Supermächte die Erde 36 mal in die Luft sprengen könnten. Wir haben aber auch zu Udo Lindenbergs „In 15 Minuten sind die Russen auf dem Kurfürstendamm“ getanzt und auf Friedendemos gesungen. Warum also nicht einen Notfallkoffer packen? Wenn es hilft, Ängste zu kanalisieren.

Am Sonntag waren in Deutschland Hunderttausende auf Friedensdemos. Klar, es ging erstmal darum, Solidarität mit der Ukraine zu demonstrieren. Aber es geht auch darum, die eigene Kriegsangst zu bändigen. Nicht tatenlos bleiben zu müssen. Etwas tun, egal was. Regierungssprecher Steffen Hebestreit wurde am Montag in der Regierungspressekonferenz gefragt, wie viele Atomsprengköpfe die Russen hätten und ob das Patriot-Abwehrsystem dem gewachsen sei. Allein die Frage verrät schon viel über Angst. Hebestreit sagte, als Kind der 80er habe er das alles mal gelernt, dann aber vergessen. Das Wissen brauchte er ja nicht mehr. Willkommen zurück in einer finsteren Zeit.