Gesellschaft

Wie erkläre ich meinen Kindern, was ein Krieg ist?

Welche Fragen stellen sich Kinder zum Krieg und wie reagieren wir als Eltern auf sie? Fünf Redakteure erzählen.

Eine Mutter mit ihren Kindern in einem improvisierten Bunker in Mariupol.
Eine Mutter mit ihren Kindern in einem improvisierten Bunker in Mariupol.AP/Evgeniy Maloletka

Die Direktheit, mit der Kinder am Kriegsgeschehen der vergangenen Tage teilnehmen können, ist neu. Fast in Echtzeit verfolgen sie die Ereignisse, wenn sie durch die neuesten Nachrichten und Videos scrollen oder ihren Eltern dabei über die Schulter schauen. Sie sehen zum Beispiel das Gesicht von Putin, während er den Krieg erklärt – und das Gesicht von Selenskyj, während er sagt, dass er und seine Familie in der Ukraine bleiben, auch wenn sie in akuter Lebensgefahr schweben. Die Bilder von Raketen, toten Soldaten und Flüchtlingstrecks fließen ungefiltert in unsere Wohnzimmer. Welche Fragen stellen Kinder und Jugendliche in diesen Tagen und wie reagieren die Schulen auf sie? Was überlegen Familien jetzt am Esstisch? Fünf Redakteure der Berliner Zeitung haben ihre Erfahrungen notiert.

Die Heini-Frage

Bilder von rollenden Panzern, eine Explosion über dem Nachthimmel von Kiew – und dann plötzlich: ein geschminkter Mund, der in ein Stück Pizza beißt. In eine knusprige Pizza, wie eine sonore Stimme verkündet. Man sieht die Zutaten: Tomaten, Käse, Salami – und zählt die Sekunden, bis es weiter geht. „In einem solchen Video muss man die Werbung verbieten,“ sagt unsere Tochter, zehn Jahre alt. Sie spürt genau, wie unanständig es sich anfühlt, wenn sich Menschen in diesen heiteren und harmlosen Produktwelten bewegen, während vorher und nachher über den Krieg berichtet wird. Seit Tagen habe ich morgens und abends viele Stunden mit Kriegsberichterstattung verbracht – und unsere Tochter vielleicht nicht genug abgeschirmt von dem, was geschah. Sie hat viel mitgekriegt.

Am meisten denken sie und ihr vierzehnjähriger Bruder darüber nach, warum ein einzelner Mensch die Macht haben kann, ein, zwei oder mehrere Länder in den Abgrund zu reißen. „Da ist ein Heini, der es zufällig geschafft hat, an die Macht zu kommen, und der kann einfach sagen: Ich schicke meine Panzer?“, fragt die Tochter. Und mein Sohn sagt: „Ja, ein einziger Typ kann das entscheiden, weil er an den Schalthebeln sitzt. Und niemand kann ihn stoppen, wenn er größenwahnsinnig wird, weil alle Angst haben, dass sie selbst umgebracht werden.“ Sie haben die jungen Demonstranten gesehen in Moskau, in Sankt Petersburg, wie brutal sie von den Polizisten gepackt, in Busse geladen und weggebracht wurden – und kurze Zeit später dann die Bilder von der Demonstration auf der Straße des 17. Juni. Die Schilder, die gemalt wurden: Putin, brenn in der Hölle! Und ähnliches.

Am nächsten Tag sagt meine Tochter, während sie im Türrahmen klettert: „Deutschland ist schon ein sehr freies Land. Man kann alles sagen, was man denkt, und wird nicht eingesperrt.“ Eva Corino

Jetzt sind wir dran!

Wahrscheinlich bin ich als Mutter in Bezug auf meine Kinder doch stärker auf Sorge programmiert, als ich normalerweise annehme. Als in der Ukraine in der vergangenen Woche der Krieg ausbrach, als ein übermächtiges Russland dieses Nachbarland der europäischen Gemeinschaft überfiel, war mein erster Gedanke, ob meine Kinder wohl Angst haben. Ob sie selbst Kriegsangst verspüren.

Ist aber nicht so – jedenfalls nicht in erster Linie. Ihre Gedanken kreisten von Anfang an und kreisen immer noch um die Wehrpflicht. Ich war überrascht. Mittlerweile hat sich das gelegt. Ich finde die Reaktion mittlerweile sogar logisch, denn die Fragen, ob als Konsequenz auf den Ukraine-Krieg in Deutschland die Wehrpflicht in der Bundeswehr wieder eingeführt wird und ob es dann eine Dienstpflicht für beide Geschlechter wäre, hat mit ihrem Leben mehr zu tun als die Frage nach Krieg und Frieden.

Mein Sohn ist 16 Jahre alt, meine Tochter 19. „Jetzt sind wir dran“, formulierte mein Sohn seine Befürchtung, dann irgendwann zu einem Dienst gezwungen zu werden, möglicherweise zu Kriegseinsätzen verpflichtet und in gewaltsame Auseinandersetzungen verwickelt zu werden. Wo er doch Gewalt so sehr hasst.

Ihn brachte vor allen Dingen die Vorstellung auf, dass sehr viel ältere Personen über diese Frage entscheiden würden, Menschen, die selbst keinen Dienst an der Waffe oder sonst wo mehr zu absolvieren bräuchten. Das ist auch beim Klimawandel einer seiner Punkte: dass diejenigen, die Macht haben und entscheiden, nicht diejenigen sind, die es ausbaden müssen. Der Hinweis, dass es jungen Menschen immer so geht, nicht nur in diesen beiden Fragen, hilft da nicht weiter.

Meine Tochter beschäftigt vor allem die Geschlechtergerechtigkeit. Wenn schon ein Dienst, dann für alle. Diese Sorge kann ich ihr wohl nehmen. Etwas anderes wäre ja wohl vollkommen aus der Zeit gefallen. Julia Haak

Kommen die Bomben auch nach Deutschland?

„Ein Junge aus unserer Klasse hat in den Raum gerufen, dass die Russen die Ukraine angegriffen haben“, erzählt Leo von dem Moment, in dem sie in der sechsten Klasse der Europaschule in Schildow anfingen, über den Krieg in Europa zu sprechen. Im Geschichtsunterricht zeigte die Lehrerin die Kindernachrichten „logo!“ des ZDF. In dem Film wurde von Putins Angriff berichtet, Sirenenalarm in Kiew war zu hören, brennende Gebäude waren zu sehen. Ein ukrainisches Mädchen sagt: „Es war der schlimmste Sonnenaufgang meines Lebens.“ Auf einer Landkarte sahen die Sechstklässler die Grenzen der Ukraine, danach die Stellungnahmen von Annalena Baerbock, Olaf Scholz, der EU. Sanktionen wurden anhand von animierten Infografiken erklärt.

Die Fragen der Kinder, die in der „logo!“-Sendung wissen wollten, ob der Krieg und seine Bomben auch nach Deutschland kommen könnten und was Deutschland dagegen unternehme, seien auch die Fragen seiner Mitschüler gewesen, sagt Leo, 11. Der Bundestagsabgeordnete Michael Roth, in der SPD für Außenpolitik verantwortlich, versuchte im TV, Kindern Ängste zu nehmen: „Wir sind in einem Team, das nennt sich Nato. Wir schützen uns gegenseitig. Wir können uns ziemlich sicher sein, dass uns Präsident Putin nicht angreifen wird.“ Deutschland wolle alles tun, um die Ukraine zu schützen und den Menschen eine Zuflucht zu bieten. Leo sagt, er habe gemerkt, dass alle in der Klasse betroffen waren, denn es sei sehr ruhig gewesen während des Films – und danach. Er hat Bedenken, dass Putin auch Litauen angreifen könnte „und dass dann die Nato aktiv wird. Putin traue ich alles zu“. Karin Bühler

Auf dem Schulhof „Seuche“ spielen

„Donald Trump könnte mit Putin verheiratet sein.“ Wie bitte? Wo hat er das denn her? Mein achtjähriger Sohn leitartikelt munter vor sich hin. Donald Trump kennt er gut, nicht etwa nur, weil die Eltern immer wieder mal ein Wort über den ehemaligen US-Präsidenten verloren haben, sondern vor allem, weil in den Kindernachrichten „logo!“ seit geraumer Zeit über ihn berichtet wird und die vom ZDF produzierte, im Kinderkanal KiKa ausgestrahlte Sendung auch in der Schule angeschaut wird – mit dem Beginn der 3. Klasse. Dort werden die Nachrichten außerdem besprochen, offenbar geht es um Medien- und Politikkompetenz.

Okay, und „Donald Trump sagt jetzt, dass Putin alles richtig macht“, erfahre ich auf Nachfrage. Aber „der Trump ist ein Idiot, weil er nicht zugeben will, dass er (die Wahl) verloren hat“, und Putin „ist böse, weil er gegen die Ukraine Krieg führt“. Wow, und das alles trägt der Sohn mit einigem Ernst in der Stimme vor, das schon, schließlich ist das ja Politik und damit so eine Erwachsenen-Sache. Aber zugleich spricht er mit einer gewissen Unbekümmertheit – so als würde er irgendeine Geschichte, die er gerade aufgeschnappt hat, auf spielerische Weise wiedergeben.

Von Angst keine Spur. Das ist immerhin eine große Erleichterung. Seine Eltern wollen ihm auch nicht Bange machen: Wir können ihn zwar nicht von der Weltlage abschirmen, aber vermitteln ihm, dass er in Sicherheit ist. Mit viel Glück sind wir so durch die Corona-Pandemie gekommen. Auf dem Schulhof spielen sie „Seuche“, so wie wir früher Fangen gespielt haben – das Virus fängt die anderen, steckt sie an. Maskenpflicht, Schnelltests … Unser Sohn geht auch damit selbstverständlich und angstfrei um. Ob „logo!“ dabei geholfen hat? Wir hoffen es. Christian Schlüter

Die Fußball-Theorie

Warum Kinder etwas mögen, können sie oft gar nicht so genau erklären. Es ist einfach so. Unser Sohn, ein Drittklässler, mag zum Beispiel Fußball. Das ist nicht ungewöhnlich, da fast alle Jungs in diesem Alter irgendwie Fußball mögen. Aber seine Vorlieben für bestimmte Mannschaften sind für einen Berliner eher ungewöhnlich. Er ist kein Union-Fan, er mag Dynamo Dresden. Wahrscheinlich, weil ihm das Logo so gut gefallen hat, als er ein Graffito davon am Straßenrand in Sachsen sah. Von dort war es dann fanmäßig nicht weit zu Dynamo Kiew und zur ukrainischen Nationalmannschaft. Die Ukraine hätte – wäre es nach ihm gegangen – im Sommer gern die EM gewinnen können. Er hat auch mal gesagt, dass er Fußballprofi werden will; und wenn das nicht klappt, vielleicht Trainer der ukrainischen Nationalmannschaft.

Es ist wunderbar und staunenswert, was Kinder sich so alles merken, wenn sie begeistert sind. Wenn wir Flurfußball spielen, ist er manchmal Finnland, manchmal Russland, meist aber die Ukraine. Er kennt alle Spieler. Roman Yaremchuk, Oleksandr Zinchenko, Andriy Yarmolenko. Vor allem mag er Torhüter.

Da unser Sohn also Fußball, die Ukraine und auch Russland mag, hat seine Erklärung für Putins Krieg auch etwas mit Fußball zu tun: Russland hatte, als es noch das Herz der Sowjetunion war, einen legendären Torwart namens Lew Laschin. Der war ganz entscheidend dafür, dass die UdSSR 1960 Europameister wurde. Ein Mann, der vor ein paar Jahren mit weitem Abstand zum Welttorhüter des Jahrhunderts gewählt wurde. Nun sagt unser Sohn, dass Putin den Krieg vielleicht auch deshalb angefangen haben könnte, weil er sich damit Andriy Pyatov oder Georgiy Bushchan holen will, die beiden Torhüter der Ukraine, weil die richtig gut sind.

Irgendwie hat er recht: Putin will etwas haben, was ihm nicht gehört. Jens Blankennagel