Das Wichtigste in so einer Lage sei es, nicht in Panik zu verfallen. So schwer es auch sei. Versuchen, an etwas anderes zu denken, an andere Menschen. Das schreibt mir Ivan. Er ist vor vier Wochen 18 Jahre alt geworden. Er sitzt im Haus seiner Eltern, in einer Kleinstadt, 320 Kilometer südöstlich von Kiew. Heute sei er schon ein paar Mal in den Schutzraum gerannt, aber jetzt schaue er gerade „Zurück in die Zukunft“. Den zweiten Teil.
Ich sitze in Berlin. Ich habe Ivan vor einer Woche kennengelernt. An dem Tag, an dem die russische Armee sein Land überfiel, schrieb ich ihm eine Nachricht. Wir wollten in der Zeitung Menschen aus der Ukraine zu Wort kommen lassen, sofern sie dazu trotz des Schreckens in der Lage waren. Mein Freund, der Fotograf ist, und im September in Kiew war, hatte Ivan und seine Freunde dort an einem Abend getroffen. Ukrainische Teenager, die ihm stundenlang von ihrem Land, ihren Träumen, ihrem Leben erzählt hatten. Mein Freund zeigte mir später ein Foto. Ivan hat lange Haare und einen melancholischen Blick, er trägt einen weiten Trenchcoat, man könnte ihn sofort in einem Film von Aki Kaurismäki, dem finnischen Regisseur, besetzen, dachte ich.
Er sei sicher gewesen, dass es nicht passieren würde
Ivan entschuldigte sich. Er könne heute nicht viel antworten, er müsse erst einmal aus Kiew fliehen. Im August war er erst in die Hauptstadt gezogen, da war er noch 17, um Sprach- und Literaturwissenschaften zu studieren. Das schreibt er mir, als er sich vier Tage später meldet. Er wolle jetzt von den letzten Tagen erzählen.
Bis vor einer Woche habe er in der „normalen Routine eines Teenagers“ gelebt, „Gitarre spielen und so“. Er sei sich sicher gewesen, dass es nicht passieren würde. Es. Der Krieg. Dann weckten ihn Explosionen. Er packte Kleidung, Papiere, seinen Laptop, saß in einem Schutzraum, versuchte ein Zugticket zu kaufen, verbrachte eine unruhige Nacht bei seinem Onkel. In der Nähe wurde gekämpft. Nicht in Panik verfallen. Sein Leitsatz, seit einer Woche. Seine Tante nahm ihn am nächsten Tag mit zurück in die Kleinstadt.
Er schickt mir ein Video, gefilmt aus dem Auto, auf der Fahrt. Brennende Panzer, eine Explosion. Dort, wo er jetzt ist, sei es ruhig, außer, wenn die Sirenen heulen, mehrmals am Tag. Etwa 7600 Einwohner hat sein Heimatort. Die Industriestadt Krementchuk liegt in der Nähe. Sein Schutzraum ist ein Keller unter dem Haus seiner Eltern. Sie schlafen inzwischen dort. Auch seine Freundin ist aus Kiew rausgekommen und bei ihnen.
Sein Vater hat sich zur Territorialverteidigung gemeldet, sein Onkel ist in Kiew zurückgeblieben. Ivan schaut Nachrichten, chattet mit Freunden, sieht die kleinen Videos aus dem Krieg in seinem Land, die auch wir in Deutschland sehen. Sie sind schon hier, in Deutschland, kaum zu ertragen. Ich habe in den sozialen Medien in der vergangenen Woche zwischen diesen Videos viele Tipps gelesen, wie ich mit dem Schrecken umgehen, dass ich auch mal abschalten solle, spazieren gehen, etwas Schönes kochen. Das ist sicher alles richtig. Aber trotzdem regt es mich auf, es zu lesen.


