Putins Krieg

Junge Ukrainer im Krieg: „Wir werden kämpfen bis zum Ende“

Alle Medien berichten über den Krieg in der Ukraine. Doch wer fragt eigentlich die Menschen, die dort leben? Wir haben mit jungen Ukrainern gesprochen.

Mariupol, Oktober 2021: Ein Bild aus Friedenszeiten. Panzersperren am Strand.
Mariupol, Oktober 2021: Ein Bild aus Friedenszeiten. Panzersperren am Strand.Anna Zhukovets

Berlin-Seit der russische Präsident Wladimir Putin in den frühen Morgenstunden am Donnerstag die Ukraine angegriffen hat, leben die Menschen im ganzen Land im Ausnahmezustand. Viele fliehen aufs Land oder versuchen über völlig überfüllte Grenzübergänge in die EU zu fliehen. Doch für Männer zwischen 18 und 60 Jahren gibt es kein entrinnen. Sie müssen kämpfen. Viele nehmen selbst die Waffen in die Hand, bereit, ihr Land zu verteidigen.

Die Redaktion der Berliner Zeitung am Wochenende hat überall in der Ukraine mit Ukrainern gesprochen, um zu erfahren, wie sich für sie der Krieg anfühlt. Ein Wort, dass für viele junge Menschen in Deutschland bis jetzt nur ein abstrakter Begriff war. Einige von den Menschen die hier zu Wort kommen sind unsere Freunde. Noch vor wenigen Monaten haben wir zusammen mit ihnen gearbeitet, gefeiert oder in der Küche gesessen mit einem Glas Wein in der Hand und kitschige ukrainische Popmusik aus den 80er Jahren gehört. Jetzt sind sie zu Zeugen eines Krieges geworden. Sie erzählen uns, wie ihr Alltag jetzt aussieht - und welche Unterstützung sie sich von Europa wünschen.

Die Menschen mit denen wir sprachen bestanden auf die ukrainische Schreibweise der Orte ihres Landes.

*Name der Redaktion bekannt.

Lisa* (28), Kellnerin aus Kyiv

„Wir haben nicht vor zu kapitulieren. Unsere ukrainische Armee geht in die Offensive, damit die russische Armee nicht weiter in die Ukraine eindringt. Wir werden keinen Millimeter zurückgehen. Gerade hört man in ganz Kyiv Sirenen, und wir werden darum gebeten, uns in den Luftschutzbunker zu begeben. Wir erwarten in den nächsten Stunden sehr starke militärische Kämpfe um Kyiv. Wir sind jetzt in unserem Keller. Wir gehen nirgendwo mehr raus. Und moralisch bereiten wir uns auf alles vor, was noch kommen wird. Wir versuchen, die Fassung zu bewahren, aber gerade beschießen sie ganz in der Nähe die ukrainische Armee. Sie treffen zivile Wohnhäuser. Die Kämpfe finden jetzt in der Hauptstadt statt.“

Refael Yucha (34), geboren in Tel Aviv, Unternehmer aus Kyiv

„Ich wohne im Zentrum von Kyiv, zwischen Maidan und dem Regierungsviertel. Vielleicht muss ich bald an einem anderen Ort wohnen. Die Leute hier haben wirklich große Angst. Ich habe sechs Jahre meines Lebens in dieses Land investiert, mein Herz bricht, ich möchte nur noch weinen.

Jetzt gibt es nicht mal mehr ein Minimum an Sicherheit. Die Dinge werden nicht mehr so sein, wie sie waren. Ich bin auch überzeugt, dass die Leute hier schon bald anfangen werden zu schießen, deshalb bin ich vorerst von meiner Wohnung in ein Hotel gezogen. Viele Leute verlassen jetzt die Stadt. Viele aus Kyiv sind in die Westukraine geflüchtet, viele nach Polen. Selbst mein Geschäftspartner ist nach Moldawien geflohen.

Ich bin Israeli, ich könnte jederzeit nach Israel gehen, aber wieso? Ich habe jahrelang alles genossen, was dieses Land mir geboten hat. Jetzt abzuhauen, sobald es einen Krieg gibt oder eine Krise? In Israel würde man Leuten sowas nicht verzeihen. Ich habe um die 100 Mitarbeiter hier. Viele israelische Unternehmen haben ihre Mitarbeiter aus der Ukraine abgezogen, aber ich sehe das als Verrat. Es würde Putin Selbstvertrauen geben, dass er einfach einmarschieren und weitermachen kann wie bisher und dass niemand was dagegen unternimmt.

Als Israeli habe ich so meine Erfahrungen mit Krieg. Krieg ist schlimm, ich kann es bis heute nicht verstehen. Dennoch: Die meisten meiner Freunde sagen, sie sind stolz, in der Ukraine zu sein. Sie alle wollen bleiben. Ich gehe hier jetzt in der Stadt spazieren. Es gab gerade vier Bombeneinschläge, politische und militärische Einrichtungen werden bombardiert. Ich bin gerade auf dem Weg zum Coworking Space, um zu sehen, ob überhaupt noch Sicherheitsleute vor Ort sind oder ob schon Sachen geraubt wurden. Die Straßen sind komplett leer, das Ganze fühlt sich ein bisschen an wie Yom Kippur in Israel.“

Dieses Foto hat Refael Yucha aus dem Fenster seiner Wohnung in Kyiv gemacht.
Dieses Foto hat Refael Yucha aus dem Fenster seiner Wohnung in Kyiv gemacht.Refael Yucha

Anton* (26), Supermarktangestellter aus Kyiv

„Der Beginn des Krieges fühlte sich für mich wie ein schlechter Traum an. Eine Explosion. Eine zweite Explosion. Ich wache auf. Kyiv scheint zu brennen. Ich bleibe ruhig. Ich versuche, mich zusammenreißen. Ich glaube, das ist die finale Eskalationsstufe zwischen Russland und der Ukraine. Alles was passiert, ist die Idee des Putin-Regimes. Nicht nur Russland, die gesamte Welt sollte sich bei uns entschuldigen.

Ich studiere in Kyiv an einer staatlichen Uni. Mein Vater, meine Mutter, meine Großmutter, mein Bruder und unsere kleine Familie lebt im Donbass. Gestern habe ich mich den ganzen Tag gefragt, ob ich die Stadt verlassen, oder mich wie viele Menschen hier in einen Bunker begeben soll. Wir haben es mit meiner Freundin geschafft, ein Zugticket zu organisieren. Am Donnerstagabend fuhr dann der Zug ab. Uns wurde gesagt, dass der Zug nicht nach Fahrplan fahren würde, sondern je nachdem, wie die Lage ist.

Um 23 Uhr änderten sich unsere Pläne komplett: Wir wollten ursprünglich nach Polen fliehen, aber jetzt dürfen Männer zwischen 18 und 60 Jahren das Land nicht mehr verlassen. Die Zugfahrt war danach beängstigend. Ich halte Kontakt zu Angehörigen, und sie versuchen, mir Tipps zu geben, wie ich mich am besten verhalte.

Am Freitagmorgen kamen meine Freundin und ich sicher in einem kleinen Dorf an, wo wir uns heute nun den ganzen Tag bei der Familie meiner Freundin verstecken. Die Familie holte uns vom Hauptbahnhof ab. Nun heißt es: Füße still halten und hoffen, nicht eingezogen zu werden. An die Grenze komme ich nicht mehr so schnell. In den Nachrichten heißt es, dass Männer mittlerweile aus den Zügen rausgeholt oder an der Grenze aufgegriffen werden. Ich hatte großes Glück mit meiner Zugreise, und ich hoffe, dass ich hier in meinem Versteck sicher bin.“

Helen (21), DJ und Tätowiererin aus Kyiv

„Bei mir in der Hauptstadt ist alles ruhig. Mein Viertel ist nicht von den Kampfhandlungen betroffen. Die Supermärkte sind zwar geschlossen, ich habe mich aber mit Essen eingedeckt. Also an Hunger werde ich nicht sterben.“

Alexej (24), Mechaniker aus Odessa

„Ich verstehe das alles nicht. Warum greifen sie uns an? Das sind ukrainische Länder. Ich lese überall: Die Ukraine wäre immer bereit. Es scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Ich weiß nicht, wie lange wir das durchhalten können.“

Sascha* (32), Informatiker aus Lwiw

„In Russland herrscht die totale Desinformation und das ist das Schlimmste. Ich habe meine Verwandten in Russland angerufen. Und sie sagen: Welche Angriffe? Ihr greift euch doch selbst an. Wir Russen machen nichts. Das ist doch wahnsinnig, wie gebrainwashed die meisten Russen sind.“

In der Nacht zu Freitag bereiten sich Julian Galan (l.) und seine Freunde auf ihre Flucht aus der Hauptstadt vor – und versuchten dabei ruhig zu bleiben.
In der Nacht zu Freitag bereiten sich Julian Galan (l.) und seine Freunde auf ihre Flucht aus der Hauptstadt vor – und versuchten dabei ruhig zu bleiben.JULIAN GALAN

Dmytro (27), Student aus Kyiv

„Bereits vor dem Angriff Donnerstagnacht hatten meine Freundin und ich Notfallrucksäcke gepackt. 2014 habe ich schon mal meine Heimat im Donbass verloren und musste nach Kyiv fliehen, ich bin also vorbereitet. Trotzdem wühlt mich der Krieg jetzt psychologisch auf, ich fühle Hass auf unsere Feinde, die uns jetzt angreifen.

Meine Freundin und ich wohnen im Kyiver Regierungsviertel, nur fünf Minuten davon liegt die Werchowna Rada, das Parlament der Ukraine. Am Donnerstagmorgen, ungefähr um 5 Uhr, hörten wir Explosionen: Wir wussten nicht genau, woher sie kamen. Später hörten wir auch Warnsirenen, aber wussten nicht, wie wir darauf reagieren sollen. Mit unseren Nachbarn standen wir im Treppenhaus und haben gewartet. Bald konnte ich das nicht mehr aushalten – ich konnte nicht einfach warten, bis etwas passiert. Mir wurde klar, ich habe jetzt zwei Optionen: Entweder das Land verlassen und meinem Land aus dem Ausland helfen oder selbst zur Waffe greifen und mein Land verteidigen. Je länger ich dort im Treppenhaus stand, desto mehr habe ich mich für meine Untätigkeit gehasst.

Die Nacht auf Freitag verbrachten meine Freundin und ich in der Metro-Station Arsenalna, die wenige Minuten von unserer Wohnung liegt. Unseren Hund haben wir  mitgenommen. Arsenalna ist die tiefste U-Bahn-Station der Welt – sie liegt 105 Meter unter der Erde – und wurde ja so gebaut, um einen Atomanschlag zu überstehen. Also hatte ich dort keine Angst. Die ganze Nacht gab es eine lange Schlange vor den Toiletten, so viele Leute waren da unten. Kaum einer hat ein Auge zugetan.

Ich mache mir große Sorgen um meine Familie und Freunde, die immer noch im Donbass leben. Aber paradoxerweise haben sie sich dort inzwischen an den Krieg gewöhnt. Wenn man jeden Tag Explosionen hört, dann sind einem noch ein paar mehr Bomben ziemlich egal. Viele Männer in meiner Familie haben jetzt Angst, festgenommen und dazu gezwungen zu werden, in die russische Armee einzutreten und gegen ihr eigenes Volk zu kämpfen. Sie verstecken sich zu Hause. Ihre Stadt, die Stadt meiner Geburt, liegt innerhalb der sogenannten Donezker Volksrepublik, sie fürchten daher keine russischen Angriffe. Eigentlich ist die Stimmung dort jetzt ruhiger als hier in Kyiv.

Gerade bin ich in den Kyiver Bezirk Lukyniwska im Westen gefahren und mache dort eine Waffenschulung. Danach werde ich das Krankenhaus dort verteidigen. Europa und die USA haben uns im Stich gelassen. Die russische Wirtschaft hat auf die Sanktionen bisher kaum reagiert. Ich fände, die richtige Reaktion wäre, keine Geschäfte mehr zuzulassen und russische Vermögenswerte einzufrieren. Kyiv hat sich insgesamt gut vorbereitet auf diesen Krieg. Die Stadtverwaltung hat mehr Geld ins Verteidigungsbudget fließen lassen. Viele Menschen haben spontan eine Ausbildung als Soldat oder Sanitäter gemacht. An einem Tag haben Menschen aus der ganzen Ukraine 22 Millionen Hrywnja (ungefähr 650.000 Euro) gespendet an einen Fond für die ukrainische Armee. Das ist mehr, als im ganzen Jahr 2021 gesammelt wurde.

Ich kann nicht vergessen, als 2014 der Krieg im Donbass anfing, wie die Propaganda meine Schulfreunde verändert hat. Plötzlich hatten sie keine Angst mehr davor, Menschen zu töten. Jetzt verliere ich auch meine Heimat in Kyiv – aber ich habe keine Angst. Wir werden bis zum Ende kämpfen. Denn wenn wir Putin und seine Schergen nicht stoppen, dann wird die Ukraine nicht ihr letztes Ziel gewesen sein.“

Anastasia (18), Studentin aus Mariupol

„Krieg hin oder her: Ich habe gerade eben meine Online-Vorlesung in Physiologie hinter mir. Ich studiere weiter und bin mit meiner Familie bei uns zuhause in Mariupol. In unserer Gegend ist es heute ruhig. Wir sind im westlichen Teil der Stadt, ein paar Kilometer von der Grenze entfernt zu Russland, aber ich höre manchmal Schüsse in anderen Teilen der Stadt und habe gehört, dass militärisches Gerät der Ukrainer in Richtung Donezk transportiert wird. Meine Klassenlehrerin hat erzählt, dass das Militär unsere Schule besetzt hat. Ich habe es nicht selbst gesehen, ich weiß nicht, ob es stimmt. Wir hoffen, dass das alles bald vorbei sein wird.“

Roman (31), Beamte aus Wolodymyrez

„Ich sitze gerade fest mit meiner Familie – meiner Frau und unserer zwei Jahre alten Tochter – in unserem Keller. In der Nacht zu Freitag gab es einen Raketenangriff am Flughafen von Riwne, einer Stadt, die zwei Stunden von uns entfernt liegt. Seitdem haben wir mehrere Warnungen bekommen über mögliche neuen Luftangriffe. Alle habe Angst, wir machen uns Sorgen über unsere Verwandten und Bekannten anderswo.

Viele Leute haben die Stadt bereits verlassen. An den Grenzübergangen zu Polen gibt es lange Schlangen. Es sind hauptsächlich Frauen und Kinder, in vielen Familien sind die Väter und Brüder zu Hause geblieben. Sie gehen stattdessen zum Militär – die Schlangen vor den Musterungsbüros sind endlos. Sie sind bereit, ihre Städte und schließlich auch ihr Land zu verteidigen. Bei uns im Stadtrat finden regelmäßige Konsultationen zur Situation mit der Regierung in Kyiv und der Regionalverwaltung in Riwne statt. Die Verwaltung in Wolodymyrez läuft weiter organisiert und ruhig.

Wir sind von Deutschland und dem Westen zutiefst enttäuscht, denn wir hatten von ihnen die maximal härtesten Sanktionen gegen Russland gefordert. Es herrscht das Gefühl, dass man uns im Stich gelassen hat. Wir fühlen uns so, als ob wir nur eine Last für die EU sind, die nur Gas aus Russland will – und dafür bereit ist, unser Land und das Völkerrecht zu opfern. Aber vielleicht sollten wir uns gar nicht wundern, wir haben genau das Gleiche 2008 und 2014 schon mal erlebt. Nur wenige haben ernsthaft geglaubt, dass wir militärische Unterstützung von der Nato bekommen würden, aber wir haben daran geglaubt, dass die Sanktionen härter sind – wir haben zum Beispiel erwartet, dass Russland aus Swift ausgeschlossen wird, oder Einschränkungen im Gas- und Ölsektor. Aber es ist schon klar, dass das die Europäer auch Geld kostet, das nehmen wir zur Kenntnis. Eine Waffenlieferung wäre eine große Hilfe, aber Deutschland ist leider dagegen.

In den nächsten Tagen gehe ich auch zur Armee. Meine Familie ist natürlich besorgt, das ist verstehe ich. Meine Frau hat große Angst vor dem Krieg – aber sie versteht, warum ich gehen will.“

In der Kyiver Metro-Station Arsenalna stehen Menschen Schlange vor der einzigen Toilette der U-Bahn-Station.
In der Kyiver Metro-Station Arsenalna stehen Menschen Schlange vor der einzigen Toilette der U-Bahn-Station.Dmytro Hlasunow

Julia* (29), Hausfrau aus Dnipro

„Es ist alles furchtbar. Gestern um 5 Uhr wurden wir von Explosionen geweckt. Sie waren weit weg, aber stark genug, dass unser ganzes Haus gewackelt hat. Seitdem ist es ruhiger geworden, Gott sei Dank. Ich habe einen Sohn, der ist sechs Monate alt. Und ich habe so viel Angst um ihn. Jede Unterstützung, die wir bekommen, ist uns unglaublich wichtig. Und ich bitte die ganze Welt, für uns zu beten. Unser Präsident hat gesagt: Niemand kommt, um uns zu helfen. Wir sind komplett allein gelassen. Jetzt kann nur Gott uns helfen.“

Julian (29), Designer aus Kyiv

„Wir in der Ukraine warten jetzt seit langer Zeit auf einen Angriff, als es los ging, war ich in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, auf eine Dienstreise. Ich bin um 5 Uhr morgens von einem schrecklichen Zittern im Hotel aufgewacht. Nach 10 Minuten rief mein Kollege an und sagte, dass der Flughafen in Tschuhujiw, in der Nähe von Charkiw, in die Luft gesprengt wurde. Der Stau in Richtung Kyiv war schon unglaublich lang – wir brauchten fünf Stunden für nur 60 Kilometer. Viele Menschen sind einfach zu Fuß von Charkiw nach Kyiv gelaufen.

Die ganze Strecke von Charkiw nach Kyiv hat 11 Stunden gedauert, normalerweise wäre es nur sechs. Die Wege waren verstopft, einige fuhren sogar auf der Gegenfahrbahn. Später im Fernsehen habe ich schlimme Bilder aus Charkiw gesehen, von Menschen, die blutig verletzt oder getötet wurden. Das haben wir glücklicherweise verpasst – wir haben unser Hotel 20 bis 30 Minuten verlassen, bevor die Granaten gekommen sind. Im Stau hörten wir aber die Explosionen hinter uns.

Nach unserer Ankunft in Kyiv war es ruhiger. Der öffentliche Verkehr läuft, viele Leute versuchen, die Stadt zu verlassen, um auf ihre Datschas zu gelangen. Die ganze Stadt versteckt sich in Luftschutzkellern oder der U-Bahn. Wir haben uns keine Gedanken darüber gemacht, das Land zu verlassen. Die Stimmung in der Stadt ist gespannt, jeder, der eine Waffe hat, ist bereit, sie zu benutzen, um die Stadt vor den Invasoren zu schützen.

In der Nacht zu Freitag begann die Ausgangssperre um 22 Uhr, und wir haben die Nachricht bekommen, dass die Russen Kyiv bombardieren würden. Das machte uns natürlich nervös – aber wir mussten auf meine Freundin warten, bevor wir auch auf dem Land zu meiner Datscha fahren konnten. Am Freitag haben wir von Straßenkämpfen in Kyiv erfahren. Im Bezirk Obolon, wo ich am Donnerstag übernachtete, sind am Tag die russischen Panzer gekommen. Wir haben ein Video im Internet gesehen, wie ein Panzer ein Auto – mit dem Fahrer drin – überfahren hat.

Aber wir haben bereits um sieben Uhr die Stadt verlassen. Es war eine schwierige Fahrt – fast alle großen Straßen aus Kyiv wurden bombardiert, es bleibt nur eine, die man noch benutzen kann. Wir fuhren auf der Gegenfahrbahn. Hinter uns wurde der internationale Flughafen bombardiert, wir sahen die Kampfjets am Himmel. Jetzt sind wir auf der Datscha, wir haben so viel Wasser und Essen mitgebracht, wie wir in Kyiv kaufen könnten. Ich versuche jetzt, meine Familie aus der Ferne zu beruhigen. Gelassen und ruhig zu bleiben ist jetzt die Hauptsache. Man darf nicht in Panik geraten.“

Natalia* (34), Stadtplanerin aus Ivano Frankivsk

„Als ich aufgewacht bin, hörte ich komische Töne. Früher habe ich in Deutschland studiert. Erst 2021 bin ich in die Ukraine zurückgekehrt. Seitdem arbeite ich in Ivano Frankivsk. Es schockiert mich, dass Deutschland uns nicht hilft. Dass Deutschland Russland nicht von SWIFT abkoppelt. Es macht mich fertig, dass die Nato den Himmel nicht schützt.

Die westlichen Partner haben uns Schutz versprochen. Jetzt hat man uns im Stich gelassen. Es fühlt sich an wie ein echter Verrat. Auf die Verhandlungen können wir uns nicht verlassen. Putin verarscht uns. Vielleicht will Selenski uns auch nur Zeit verschaffen.

Immer wieder hört man Explosionen auch in bisher ruhigen Vierteln. Ich glaube, die Russen wollen uns sagen: „Ihr seid nirgend sicher! Ihr glaubt, ihr könnt fliehen? Da habt ihr euch geschnitten. Wir bombardieren Euch überall in der Ukraine.“ Und wirklich, die Helikopter sind überall. Es gibt keine Menschen auf den Straßen. Gestern gab es noch Panik und einen logistischen Kollaps. Medizin und Essen sind jetzt das wichtigste, aber plötzlich sind alle Geschäfte zu. Alle.

Das größte Problem ist: Mein Freund kommt aus dem Ausland. Er lebt in Kyiv. Er kommt nicht mehr raus. Sein Nachbarhaus wurde durch Bomben zerstört. Alle versuchten noch ohne Tickets in den Zug zu kommen. Jetzt sitze ich hier. Habe Angst und warte auf ihn. Ich möchte die Ukraine und meine Familie und Freunde nicht verlassen. In diesem Moment, in dem ich diese Nachricht verfasse, werden wir attackiert. Luftangriffe. Putin muss endlich aufgehalten werden. Wie kann ich mich jemals sicher fühlen? Das Leben in der Ukraine ist jetzt ein anderes. Es wird niemals wieder so sein wie früher. Die Ukraine ist in einer neuen Realität angekommen. Die neue Realität heißt: Die Ukraine nach einer vollständigen Invasion. Ich weiß nicht, wann wir wieder zurück Leben kommen. Ich habe das Gefühl, dass man mir mein Leben gestohlen hat. Was ist übrig geblieben? Nichts. Mehr. Gar nichts.“

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.