Psychologie und Gesundheit

Walk and Talk: Funktioniert eine Psychotherapie an frischer Luft?

Open-Air-Therapie: Ein Psychotherapeut bietet sogenanntes Walk & Talk an, das Besprechen von Problemen beim Spaziergang. Welche Vorteile hat das?

Spaziergehen gilt allgemein als gesund und kann auch bei psychischen Problemen unterstützen.
Spaziergehen gilt allgemein als gesund und kann auch bei psychischen Problemen unterstützen.Markus Wächter

In New York gehört es längst zum Repertoire bei Psychotherapien dazu: Die Behandelnden bieten „Walk & Talk“ an, gehen mit ihren Klientinnen und Klienten durch den Central Park, analysieren Probleme, bieten Hilfestellungen. Bei uns hingegen findet Therapie klassischerweise in Räumen statt, wo man sich gegenübersitzt und alles bespricht, wo Tränen ungesehen laufen können und man auch schambehaftete Themen ohne fremde Zuhörer thematisieren kann. Der Arzt und Psychotherapeut Dr. Alexander Brümmerhoff aus Zehlendorf macht es jedoch wie die New Yorker und behandelt beim Spaziergang. In der Berliner Zeitung erzählt er, was das für Vorteile hat.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, „Walk & Talk“ anzubieten?

Es begann alles, als ich vor vielen Jahren als Klinikarzt aus einer Laune heraus das Gespräch mit einem jungen Erwachsenen nach draußen in den Park verlegte. Der Klient erschien mir in seiner gesamten Art entspannter und freier und erzählte mir von Gedanken, von denen er mir in den Wochen zuvor nur ansatzweise berichtet hatte. Hinterher wirkte er energievoller und besser gestimmt.

Ich verlegte immer häufiger die Gespräche ins Freie und beobachtete, dass sich die Stimmung der Klienten nicht nur kurzzeitig aufhellte, sondern dieser Energiegewinn auch häufig anhielt, sie sich selbstwirksamer und zufriedener erlebten. Als ich vor ein paar Jahren dann entdeckte, dass ein Psychologe im Central Park in New York dieses „Walk &Talk“-Setting äußerst erfolgreich für seine Klienten nutzt, entschied ich mich, mein Büro ebenfalls dauerhaft und ausschließlich nach draußen zu verlegen. Die „Walk & Talk“-Therapie ist dabei allerdings ausschließlich eine Selbstzahlerleistung. Dies hat den Vorteil,  dass ich auch kurzfristig Termine anbieten kann.

Welchen Nutzen hat man als Patient von dieser Therapieform?

Grundsätzlich befreit uns das Gehen von dem Gefühl, im Leben so festgefahren zu sein. Wir haben das Gefühl, wieder selber die zu sein, die handeln können. In nur einem relativ kurzen Spaziergang entdecke ich – und auch fast jeder meiner KlientInnen – eine Erfahrungsqualität, die sich grundlegend von der üblichen bürogebundenen Begegnung unterscheidet. Je entspannter wir uns da draußen auf schönen Wegen bewegen, desto geerdeter fühlen wir uns in unserem Körper.

In der Bewegung an der frischen Luft kommen einfach Gedanken und Ideen leichter in Bewegung. Sich von Grübeleien zu lösen, den Kopf klar zu bekommen, Dinge aus einer anderen, freieren Perspektive zu betrachten und auf neue Lösungen zu kommen, genau dafür erlebe ich mit jetzt 20-jähriger Berufserfahrung als Arzt und Psychotherapeut dieses „Walk & Talk“-Setting hocheffizient und nachhaltig. Gemeinsam Schritt für Schritt bei jedem Wetter auf schönen wechselnden Wegen unterwegs zu sein, mal ins Gespräch vertieft, mal aktiv auf das fokussiert, was einem mit offenen Sinnen begegnet.

Was letztendlich wirkungsvoller ist – das Sitzen in der Praxis oder das Gehen in der freien Natur –, um an seinen Lebensthemen mit professioneller Unterstützung zu arbeiten, das muss jeder Mensch für sich herausbekommen. Ich kann nur von meinen Erfahrungen berichten: Ein männlicher Klient mit Burn-out-Symptomen berichtete mir, dass all die frische Luft und das natürliche Licht, die Bäume und der waldige Untergrund dazu beitragen, ihn für eine umfassendere, innere Erkundung zu öffnen – wie es eine Wanderung im Wald reflexartig tut. Später, in der S-Bahn zurück nach Hause, habe er die Möglichkeit gehabt, in seinen Gefühlen zu „sitzen“. Und als er aus dem Fenster auf die verschwimmenden Bäume schaute, habe er das Gefühl der Leichtigkeit wieder gespürt, sich neben seinem Therapeuten zu bewegen und frei zu sprechen.

Oder ein anderes Beispiel: Ich erinnere mich an einen Spätsommerspaziergang mit einem 55-jährigen IT-Manager. Es war schwül, Regen lag in der Luft, aber es gelang den Wolken einfach nicht, sich zu öffnen. Meinen Klienten erinnerte dies ungemein an seine ungelöste berufliche Situation, an seine Überforderung, Erschöpfung und die große Sehnsucht, sich von eigenen und fremden Erwartungshaltungen lösen zu können. Der folgende kräftige Regenguss hatte etwas ungemein Reinigendes und Befreiendes. Das Angebot, meine mitgebrachten Schirme zu nutzen, lehnte er dankend ab. Er ließ uns zwar triefend nass ankommen, aber mitten im warmen Sommerregen hatte mein Klient eine mutige Entscheidung getroffen, die ihm in weiteren Monaten viel mehr Lebenszufriedenheit gab als zuvor.

Behandeln Sie gar nicht mehr in einer Praxis?

Als selbstständiger Psychotherapeut und Coach bin ich fast immer mit meinen Klientinnen und Klienten draußen unterwegs. Nur gelegentlich nutze ich einen Praxisraum für hypnotherapeutische oder traumatherapeutische Sitzungen. Dann aber immer in Kombination mit „Walks & Talks“. Gehen hat vielfältigen Nutzen für unseren Körper, Geist und unsere Lebensqualität. Es kommt einfach jedem Aspekt unseres Seins zugute. Unserem körperlichen Wohlbefinden, unserer geistigen Gesundheit und unserer Verbundenheit mit anderen.

„Sitzen ist das neue Rauchen!“ In diesem Satz, den ich neulich als Graffiti am S-Bahnhof Tiergarten las, steckt eine Menge Wahrheit. Das zu viele Sitzen, das Verharren in körperlicher Unbeweglichkeit über einen langen Zeitraum des Tages, ist eine der meisten gesundheitsschädigenden Nebenwirkungen unserer Zivilgesellschaft.

Wenn wir zu lange sitzen, verlieren wir durch unsere Unbeweglichkeit nicht nur Muskelmasse. In unseren Beinmuskeln bilden sich Fettablagerungen, das Tempo der Energieverbrennung wird langsamer und der Blutdruck wandelt sich. Natürlich ist das Gehen gut für das Herz. Aber auch der Rest der Organe profitiert ungemein. So verbessert sich zum Beispiel die Verdauung im Darm, schädliche Stoffe werden effektiver ausgeschieden, nützliche besser in ihre Einzelteile zerlegt und verwertet.

Was viele nicht wissen, ist, dass der Verlust von Muskelmasse durch das zu viele Sitzen mit einem Rückgang der Produktion von neuen Gehirnzellen einhergeht. Und zwar in den Regionen des Gehirns, in dem das ganze Leben lang neue Gehirnzellen produziert werden. Wenn Ihre Muskelmasse abbaut, baut auch Ihr Gehirn ab. Mangelnde Bewegung als Zivilisationsproblem führt also zu weiteren nachteiligen Veränderungen. Veränderungen der kognitiven Vitalität, der Stimmung und der Hirnstruktur selbst.

Die gute Nachricht ist, es gibt ein wundervolles natürliches Gegenmittel: das Gehen. Wenn wir uns in Bewegung setzen, werden wir „kognitiv mobil“. Unser Kopf wendet sich hin und her, unser Gleichgewichtssinn ist gefordert, der Blut- und Lungenkreislauf sorgt für eine bessere Sauerstoffversorgung nicht nur unserer Muskeln, sondern insbesondere auch unseres Gehirns. Aber nicht nur das. Unsere Hirnaktivität wechselt vom Sitzen zu Gehen. Hirnfrequenzen, die im Sitzen noch unauffällig sind, werden aktiver. Wir fühlen uns dadurch wacher, unsere Atmung beschleunigt sich und unser ganzes System stellt sich effektiver auf die Fähigkeit ein zu handeln. Man muss es sich wie einen Weckruf für das Gehirn vorstellen zu körperlicher und geistiger Aktivität.

Wo sind Sie unterwegs?

In Berlin. Ich nutze beim Arbeiten mit Klienten in erster Linie wenig begangene Wege in größeren Parkanlagen wie dem Tiergarten oder in der Nähe von Seen wie dem Schlachtensee. In Potsdam arbeite ich meist im Park Babelsberg.

Wenn es Klienten wünschen, komme ich auch in den bevorzugten Park in ihrer Nähe. Die meisten genießen es jedoch, einmal raus aus ihrer gewohnten Umgebung zu kommen, auch weil sie sich da vermutlich freier fühlen. Ich hatte auch schon Klienten, die mit mir in der Mittagspause an der Spree im Regierungsviertel unterwegs waren.

Sollte es meinen KlientInnen einmal aus beruflichen oder privaten Gründen nicht möglich sein, mit mir am gleichen Ort zu laufen: „Walk & Talk“ funktioniert ebenso mit der Stimme des anderen im Ohr an voneinander weit entfernten Orten. Wir können also auch telefonieren, und jeder geht für sich spazieren.

Für welche Problematiken eignet sich „Walk & Talk“?

Ich behandele berufliche und private Sinn- und Entscheidungskrisen, Stresserleben, Erschöpfung, Überforderungserleben, innere Unruhe, Leeregefühle, Burn-out, Suchtprobleme, Ängste, Zwänge und Essstörungen, Umgang mit chronischen Schmerzen und körperlichen Erkrankungen, Partnerschaftsprobleme und Beziehungskrisen, Trennung und Trauer, Selbstunsicherheit, vermindertes Selbstwerterleben, depressive Symptome, Bearbeitung von Traumata und biete darüber hinaus auch fundierte Elternberatung zur Einschätzung und zum Umgang mit psychischen Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen.

Es gibt viele Faktoren, die nachweislich die Stimmung eines Menschen beim Spazierengehen im Freien verbessern. Einer davon ist sicherlich die durch das regelmäßige Gehen nachgewiesene erniedrigte Ausschüttung des Stresshormons Cortisol. Dieses wird in Reaktion auf Stressfaktoren ausgeschüttet. Kurzfristig mobilisiert es Reserven, doch die häufig chronische Ausschüttung von Cortisol durch übermäßig erlebten negativen Stress sorgt für vielfältige gesundheitliche Probleme von Arterienverkalkung bis hin zu negativen Einflüssen auf Stimmung und Gedächtnis.

Die Cortisolkonzentration in unserem Speichel schwankt im Laufe des Tages, und nimmt normalerweise gegen Abend ab. Bei Menschen mit hohem Stresserleben findet diese Abnahme nicht statt. Eine Studie konnte zeigen, dass Menschen, denen Grünflächen zum Spazierengehen in Ihrer Wohnumgebung fehlten, diese zyklische Cortisolabnahme fast fehlte.

Im Übrigen hat eine umfangreiche Untersuchung an der University of New South Wales herausgefunden, dass schon etwa einmal Spazierengehen pro Woche ein Schutzfaktor gegen Depression sein kann. Ungefähr zwölf Prozent künftiger Depressionsfälle, so folgerten die Forscher, könnte somit verhindert werden.

Inwiefern behandeln Sie beim „Walk & Talk“ anders?

Wenn ich neben meinen Klienten gehe, merke ich häufig nach nicht allzu langer Zeit,  wie sich ihr Gang, ihr Sprechtempo, ihr Atemrhythmus, ja auch ihre Gesichtszüge verändern. Sie entschleunigen förmlich. Ich benutze zum Beispiel häufig im Freien Achtsamkeitsübungen. Das angeleitete Fokussieren auf das einfache sinnliche Wahrnehmen des Moments hat dabei in der Natur etwas sehr Kraftvolles.

Einfach gemeinsam loszulaufen, über etwas in Kontakt zu kommen, was man draußen sieht, hört, riecht, hat sehr viel von sich natürlich entwickelnder Kommunikation. Dazu muss man sich Zeit nehmen. Aus diesem Grund bin ich mit meinen Klienten immer mindestens 60 Minuten unterwegs, nicht die übliche verkürzte Therapiestunde.

Das Gefühl, Zeit füreinander zu haben, in so einer Alltagspause am See oder im Park, hat etwas menschlich sehr Verbindendes. Und es ist nach meinem Empfinden und den Rückmeldungen meiner Klienten gerade diese zwischenmenschliche Verbindung auf professioneller Klient-Therapeut-Ebene, die einen elementaren therapeutischen Wirkfaktor darstellt.

Menschen kommen häufig mit Schamgefühlen und Nervosität in eine Therapiestunde. Ich bekam immer wieder Rückmeldungen, dass das Nebeneinander-Gehen im Freien diese für den therapeutischen Prozess blockierenden Gefühle viel rascher als im beengten Praxisraum mildert beziehungsweise verschwinden lässt. Die Klienten beschreiben sehr häufig, dass sie sich im „Walk & Talk“-Setting nicht wie mit Diagnosen behaftete Patienten im Arztzimmer fühlen, sondern dass sie auf Augenhöhe neben einem erfahrenen Therapeuten laufen, sich wie „du und ich“ fühlen.

Hinzu kommt: Der Augenkontakt findet beim Spazierengehen miteinander auf sehr natürliche Weise statt. Nach meinem Geschmack viel natürlicher, als der fast erzwungene Augenkontakt beim Gegenübersitzen in einer Praxis. Viele Klienten erleben den natürlichen Wechsel im Blickkontakt beim Nebeneinander-Gehen ungemein befreiend. Und wenn man dann einmal, vielleicht bewegt von einem Satz, einem Gedanken, einem emotionalen Zustand des anderen, stehenbleibt und sich in die Augen schaut, ist das häufig ein sehr intensiver Moment.

Wenn ich wahrnehme, wie ein Klient beim Gehen neben mir durch seine Körperhaltung Erschöpfung, Verkrampfung, Unsicherheit oder auch Freude, neuen Mut oder Ähnliches ausdrückt, dann habe ich als „Walk & Talk“-Therapeut viele Möglichkeiten, damit zu arbeiten. Ich bemerke zum Beispiel häufig: „Ihr Gang, Ihre Haltung, die Stellung Ihrer Schultern, oder etwas anderes in Ihrem Gangbild, drückt genau das aus, was ich gerade mit Ihnen im Gespräch, wenn Sie mir von sich erzählen, erlebe. Bemerken Sie das auch?“. Dieses freundlich-wertschätzende Spiegeln kann zum einen helfen, eigene Signale des Körpers wahrzunehmen, und zum anderen ist es auch eine Möglichkeit, bewusst experimentell mit der Eigenwirkung von Gang und Haltungsveränderungen zu arbeiten. Also: „Was halten Sie davon, wenn Sie jetzt einmal die nächsten 100 Meter so gehen, als ob Sie sich in einer Rolle Ihres Alltags befinden, in der Sie mehr Selbstsicherheit erleben?“

Kann man sich auch selbst bei einem Spaziergang therapieren?

Wenn man wirklich in einem Problem feststeckt, ist es natürlich entscheidend, dass man professionell und erfahren unterstützt wird. Aber manchmal ergeben sich aus „Walks & Talks“ mit mir Übungen, die die Klienten nach erstem gemeinsamen angeleiteten Durchführen alleine wiederholen können.

So eine Übung lautet zum Beispiel: Machen Sie einen Spaziergang im Wald, bis Sie an eine Weggabelung kommen. Bleiben Sie dort stehen. Jetzt imaginieren Sie, dass die beiden unterschiedlichen Wege jeweils die beiden unterschiedlichen Weg-Entscheidungen darstellen, die Ihnen Kopfzerbrechen bereiten. Machen Sie bewusst mindestens 30 Schritte in den einen Weg. Nehmen Sie dabei alles wahr, was Ihnen an Gedanken auf diesem Weg begegnet. Nehmen Sie auch die Körperhaltung wahr, die Sie auf diesem Weg einnehmen, genau wie Ihre Gesichtsmuskeln, entsteht eher eine Verkrampfung oder ein kleines Lächeln? Bleiben Sie immer mal wieder stehen und stellen sich dort vor, Sie hätten tatsächlich diesen Lebensweg eingeschlagen. Stellen Sie wieder alle Emotionen und Körpergefühle fest, die jetzt entstehen. Schließen Sie die Augen und machen sich ein Bild von diesem Zustand. Machen Sie ein innerliches Foto von diesem dort entstandenem Eindruck.

Dann gehen Sie zurück und machen genau das Gleiche mit dem anderen Weg der Weggabelung. Wenn Sie auch von dort zurück sind, gehen Sie weiter Ihres Weges. Wieder ganz im Hier und Jetzt und lassen das Erlebte, die Gefühle, und die möglicherweise entstandenen Reisefotos auf sich wirken.