Migrationsdebatte

Migration: Wir sind an der Obergrenze, egal ob wir sie kennen oder nicht

Jedes System hat eine Belastungsgrenze. Ob wir sie benennen können oder nicht. Deutschland ist seinem Limit bei der Einwanderung ganz nah. Ein Kommentar.

Friedrich Merz, Parteivorsitzender der CDU, schaut durch ein Fernglas.
Friedrich Merz, Parteivorsitzender der CDU, schaut durch ein Fernglas.Marcus Brandt/dpa

Die Debatte um eine Obergrenze für Migranten ist unsinnig. Denn immer wird nur darüber gesprochen, bei welcher Zahl genau sie liegen sollte oder dürfte. Das aber ist unmöglich zu sagen – und auch völlig egal. Nur weil sich nicht auf den Asylbewerber genau bestimmen lässt, wann die Belastbarkeit überschritten ist, heißt das nicht, dass die Grenze nicht existiert.

Jedes System hat ein Limit. So gibt es auch im Falle der Migration eine Grenze der Belastbarkeit der räumlichen und medizinischen Infrastruktur, der Infrastruktur von Kitas, Schulen, Ämtern und Polizei dieses Landes. Das System zerbricht, auch wenn es auf dem Papier ewig gelten soll.

Jeder Mensch, auch Politiker von SPD, CDU, Grünen und der Linken wissen, dass es eine Obergrenze für Einwanderung gibt. Auch sie würden nicht behaupten, dass alle Menschen, die weltweit unter der Armutsgrenze von 2,15 Dollar am Tag leben müssen, nach Deutschland kommen könnten. Das wären 700 Millionen Personen. Auch 360 Millionen Christen, die weltweit politisch verfolgt werden, würden, trotz des Anspruchs nach Artikel 16a des Grundgesetzes, nicht ins Land passen. Niemand würde behaupten, dass sich die Einwohnerzahl Deutschlands verdoppeln könnte. Die Obergrenze für Einwanderung liegt also zumindest unter 84 Millionen Menschen. Liegt sie bei der Hälfte? Auch das wäre nicht verkraftbar. Eine Einwanderung in die Sozialsysteme von zehn, ja sogar fünf Millionen Menschen pro Jahr würden nur wenige Politiker für verkraftbar halten.

Migranten stehen in einer Schlange der Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) des Landes Brandenburg in Eisenhüttenstadt.
Migranten stehen in einer Schlange der Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) des Landes Brandenburg in Eisenhüttenstadt.Hannes P. Albert/dpa

Doch wir müssen die Grenze nicht festlegen, wir müssen sie noch nicht einmal kennen, um zu wissen, dass wir ihr immer näher kommen. Das spürt man überall. Sie erscheint in den unablässigen Klagen aus den Kommunen von Lokalpolitikern aller Parteien: kein Wohnraum, keine Kitaplätze, Sicherheitsprobleme. Sie erklingt in den Äußerungen der Grünen-Chefin Ricarda Lang, die jüngst mehr Rückführungsabkommen bei der FDP und eine europäische Lösung bei der SPD anmahnte. Noch nie hat eine Spitzen-Grüne derart offen Abschiebungen verlangt – auch wenn das ein Täuschungsmanöver war, weil die Grünen im Hintergrund eine EU-Lösung heimlich zu verhindern suchten, bis der Kanzler sie zum Einlenken zwang. Früher hätte es keines Täuschungsmanövers bedurft. Die Obergrenze spricht.

Obergrenze für Flüchtlinge: Jedes System hat ein Limit

Vor allem lässt sich das an den Umfragewerten der AfD ablesen, die überall in die Höhe wachsen. Selbst in Baden-Württemberg, tief im Westen, liegt die Partei mittlerweile bei 20 Prozent und könnte bei der Wahl in Hessen am 8. Oktober die SPD um ihre Spitzenkandidatin Nancy Faeser auf den vierten Platz verweisen. Und wir hören sie in den zugespitzten Äußerungen des CDU-Chefs zu Arztterminen. „Auch die Bevölkerung, die werden doch wahnsinnig, die Leute. Wenn die sehen, dass 300.000 Asylbewerber abgelehnt sind, nicht ausreisen, die vollen Leistungen bekommen, die volle Heilfürsorge bekommen. Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine“, hatte Friedrich Merz im Fernsehsender von Welt gesagt.

Ob das in dieser Drastik stimmt, sei dahingestellt. Klar ist aber, dass auch abgelehnte Asylbewerber nach spätestens 18 Monaten Sozialhilfeempfängern gleichgestellt werden, wobei sie bei Zahnbehandlungen keine Zusatzleistungen entrichten müssen. Und klar ist auch, dass nicht einmal die Hälfte derer, die ab 2015 nach Deutschland kamen, sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Egal wo die Grenze liegt, auf Dauer hält kein Gesundheitssystem das aus.

Der Spiegel schreibt im Leitartikel seiner neuen Ausgabe über Merz: „Er kann’s nicht“. Dem ließe sich entgegnen: Scholz kann es ja auch nicht, ist aber trotzdem Kanzler. Ob jemand etwas kann, ist in der deutschen Politik, siehe Lambrecht, Faeser, Spiegel, Baerbock, schon lange kein Kriterium für Ämter mehr. Und ob Merz es wirklich nicht kann, ist offen. Immerhin liegt seine Partei seit Monaten mehr als zehn Prozentpunkte vor der Kanzlerpartei SPD. Klar ist, dass Merz in seinen Äußerungen einem wachsenden Unbehagen in allen Teilen der Gesellschaft Ausdruck verleiht, auch wenn manche öffentlich „igitt“ sagen. Laut ARD-Deutschlandtrend sehen fast zwei Drittel (64 Prozent), dass Deutschland durch Zuwanderung eher Nachteile hat, genauso viele Menschen sagen, wir sollten weniger Flüchtlinge aufnehmen.

Die Frage ist nicht: Gibt es eine Obergrenze und wie hoch ist sie genau? Die Frage lautet: Werden wir sie überschreiten – oder haben wir das schon?