Kolumne

Amir will nach Deutschland, um zu überleben, nicht um sich die Zähne machen zu lassen, Herr Merz!

Friedrich Merz verhöhnt die Angst aller Menschen auf der Flucht, er verhöhnt auch unseren Kolumnisten und jeden Menschen, der die Wirklichkeit kennt.

Geflüchtete sind in einem Erste-Hilfe-Camp in Italien zu sehen. Patrouillenboote der italienischen Küstenwache hatten sie zuvor aufgegriffen.
Geflüchtete sind in einem Erste-Hilfe-Camp in Italien zu sehen. Patrouillenboote der italienischen Küstenwache hatten sie zuvor aufgegriffen.Valeria Ferraro/imago

Noch ganz benommen bin ich, von gestern Abend. Da standen wir auf der Bühne, beim „Deutschen Fernsehpreis“, und haben einen Preis für unsere Dokumentation über Afghanistan und das Versagen Deutschlands in diesem Krieg erhalten.

Wir saßen fast fünf Stunden, bevor unsere Kategorie angekündigt wurde, ich hatte also genug Zeit, darüber nachzudenken, was wir im Mai 2022, also letztes Jahr, erlebt haben. Ich saß dort, dachte an Amir, den afghanischen Tonmann, der seit einem Jahr fragt, ob ich ihm helfen kann, nach Deutschland zu kommen. Amir, der fließend Englisch spricht, der ein weltgewandter Mann ist, mit einem schönen Bart, Wimpern so lang wie die Flügel eines Schmetterlings. Wenn Amir mit mir sprach, in Afghanistan, über sein Land, über die Lieder und die Weintrauben, über die Hoffnungen und Sehnsüchte, dann wurde ich traurig. Und habe ihn in den Arm genommen, sein Bart kitzelte in meinem Nacken.

Ich denke an ihn, während vor mir die Kollegen vom ZDF sitzen, sie sind für einen Film über die WM in Katar nominiert, nervös sehen wir uns an. Wir gönnen uns gegenseitig den Preis, aber eigentlich will jeder ihn doch für sich gewinnen. Die Hitze in diesen Kölner Studios ist immer am Rande der Unerträglichkeit, meine Hände kleben, vom vielen Reiben, ich habe langsam Hunger. Ob ich kurz aufstehen kann, Getränke besorgen, für mich und meine Kollegen, die heute mit mir hier sind. Für Theresa, von Kabul Luftbrücke, für den Kameramann Michael, in den sich die Talibankämpfer an den Straßenposten immer verliebten, die ihm Küsschen zuwarfen, und Michael fing sie im Kabuler Frühling auf und warf sie zurück.

Ich denke also in diesem Publikum aus TV-Menschen an den Kabuler Frühling und damit auch an die afghanischen Frühlinge, die 20 Jahre lang sehr gefährlich waren. Wenn der Schnee der Berge schmolz, kamen die Taliban in die Stadt und sie zündeten ein Feuerwerk, ganz ohne Licht, nur aus Leid. Die Explosionen rissen Menschen und Schicksale entzwei. Fünfzig Jahre alte AK47 schossen feucht, so klingt dieses Maschinengewehr, feucht und direkt, in den Nachthimmel.

Auch ich habe das gehört, denke ich, während der Preisverleihung. Bin 2017, als ich das erste Mal in Kabul war, nur knapp einem Attentat entkommen. Ein Bombenanschlag, unweit von unserem Geheimhotel, in dem wir schlafen mussten, damit die Taliban uns nicht entführten. Ein zweiter Anschlag, wenige Stunden später, an derselben Stelle. 17 Journalisten starben an diesem Tag. 

Sollten wir gewinnen, werde ich Amir erwähnen

Ich sitze dort also in diesem Publikum und habe diese Gedanken, denke an dieses Land, das nicht zur Ruhe kommt. Denke auch, dass Afghanistan vergessen ist. Denke, der Iran ist vergessen, Armenien wird vergessen sein, auch die Ukraine wird in den Hintergrund treten. Preise für Filme, für Artikel, für Fotos werden vergeben, werden in Regale gestellt, Honorare werden höher, die Anerkennung steigt. Und diese Kriege, die Konflikte laufen weiter. Unser Film, der Text, den ich damals für den Focus geschrieben habe, eine Millisekunde in der Wirklichkeit meiner afghanischen Freunde.

Ich denke wieder an Amir, tipple nervös mit den Füssen auf dem Boden, die Veranstaltung will nicht enden. Ich habe auf seine letzte WhatsApp nicht reagiert. Er hat vor zwei Wochen wieder geschrieben, ob ich ihm helfen kann, er muss nach Deutschland. Er wird hier krank in diesem Land, das nicht mehr seine Heimat ist. Amir ist Anfang zwanzig, er ist in einem Afghanistan aufgewachsen, was zwar gefährlich war, aber für Menschen wie ihn frei. Er konnte sein, jetzt muss er sich verstecken.

Ich überlege, wenn wir gewinnen sollten, werde ich Amir erwähnen, bereite eine Rede in meinem Kopf vor. Will vor der stärksten Waffe des Krieges warnen, dem Vergessen und Ignorieren. Möchte nicht gewichtig klingen, sondern zart, will mahnen, aber nicht angeben, will kein Aktivist sein, sondern Mensch.

Ich denke an Friedrich Merz und werde wütend

Plötzlich sitzen wir auf der Nominiertencouch, ganz nah an der Bühne, gleich wird der Gewinner bekanntgegeben, ich denke an Friedrich Merz und werde wütend. Friedrich Merz meint mit seinem ungehobelten Hass Amir, meint meinen Freund. Der nach Deutschland kommt, um zu überleben, nicht um sich die Zähne schönmachen zu lassen.

Friedrich Merz verhöhnt mit diesem Satz die Angst aller Menschen auf der Flucht, er verhöhnt mich, jeden Menschen, der die Wirklichkeit kennt. Friedrich Merz kennt sie nicht. Friedrich Merz kennt nur sich.

Dann werden wir angekündigt, wir haben gewonnen. Stolpern auf die Bühne, ganz besoffen vor Stolz, 2000 Augen, die uns ansehen, heiß, mein Gesicht glänzt, Sky du Mont überreicht die Preise, da ist der Mikrofonständer, der Anzug kneift am Po vom vielen Sitzen. Ich stelle mich vor das Mikro, das Herz schlägt wie wild gegen die Innenseite meines Hemdes.

Ich sage nichts von dem, was ich mir vorgenommen habe.

Ich denke nicht mehr an Amir, als ich mit dem Preis, betrunken, an der Bar stehe, gelobt werde, für unsere Arbeit.

Aber ich hoffe, er lebt noch.