Boarding, ein Flug nach Tel Aviv. Familien mit Kindern und beeinträchtigte Personen werden nach vorne geleitet, um unkompliziert einsteigen zu können. Zwei Orthodoxe folgten der Schar dicht, etwas zu dicht, womöglich, um als Begleiter des im Rollstuhl sitzenden Jungen vor ihnen durchzugehen. Was die Aufmerksamkeit einer Israelin auf sich zieht, die kurz nachfragt und dann in einem wütenden Wortschwall die Orthodoxen aufhält. Ganz offensichtlich empfand sie den Versuch der ungebührlichen Vorteilsnahme als inkorrekt.
Niemals hätte ein Deutscher hier zur Ordnung gerufen. Warum? Weil mögliche Auslegungen von stiller Akzeptanz, einem leisen Grummeln, ob der Überkorrektheit Deutscher bis hin zum Vorwurf von Israel-Hass oder offen ausgetragenem Antisemitismus gereicht hätten. Zudem bestünde die Wahrscheinlichkeit, dass die ein oder andere Initiative die Gelegenheit genutzt hätte, Fördermittel für das nächste anti-antisemitische Projekt einzusammeln, durch schnell und laut kooperierende Medien gehebelt. Mitunter soll so etwas vorkommen.
Daher ist es richtig, dass Konflikte wie diese innerisraelisch, innerjüdisch angesprochen und ausverhandelt werden. Man steht abseits und weiß, die Dinge finden auch ohne ein deutsches Zutun ihre Ordnung.
Die Nützlichkeit der Russophobie für den kleinen Vorteil
In gleicher, innerdeutscher Logik schreibe ich diesen Text als konfessionsloser deutscher Staatsbürger. Deutschlands Eliten stehen fest an der Seite der überfallenen Ukraine, Schattierungen über Ursachen und Optionen blenden sie aus. Linientreu und grundüberzeugt, frei von Zweifeln ob der Folgen ihres Handelns heute und für zukünftige Generationen.
Gleichzeitig ähnlich handelnd wie die Orthodoxen in der Gangway, einen kleinen Vorteil sichernd. Macht suchend wie die Politiker Merz, Pistorius oder Strack-Zimmermann. Bedeutung heischend wie die Experten Masala, Kiesewetter und Röttgen oder Reichtum schöpfend wie der Vorstandsvorsitzende von Rheinmetall Armin Papperger oder der Co-Gründer des Rüstungs-Start-ups Helsing, Gundbert Scherf; sowie deren große als auch deren viele kleine (private) Investoren. Die Nützlichkeit der Russophobie, des moralischen Kompasses und der wertebasierten Perspektive scheint doch unübersehbar.
Wie bewerten die heutigen Juden Osteuropas unsere Politik?
Doch wir übersehen im politischen wie öffentlichen Raum, wie unter Juden Osteuropas das Handeln der deutschen Eliten bewertet wird. Viele sind Nachkommen jener Jüdinnen und Juden aus dem Osten Europas, die von Deutschland entrechtet, enteignet und später systematisch ermordet wurden. Zwar gibt es einen fundamentalen Unterschied: Während die Entrechtung der jüdischen Eigentümer durch die Nazis aus explizit rassistischen Motiven erfolgte, trifft es heute Juden zufällig. Doch man nimmt den Raub jüdischen Eigentums zur Finanzierung eigener, deutscher Pläne in Kauf. Die Beugung des Rechts mit größerem persönlichen Eifer wird auf höchsten wie niedrigen Ebenen der deutschen Gesellschaft betrieben.
„Gerade der selten thematisierte Umstand, dass Jüdinnen und Juden aus Osteuropa den mit Abstand größten Teil der Opfer des Holocaust stellten, würde eigentlich ein erhöhtes Maß an Sensibilität im heutigen politischen Handeln nahelegen“ schreibt mir ein Kollege. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Seine Erläuterung: „Die heutige jüdische Gemeinschaft in Deutschland besteht mehrheitlich aus den Nachkommen jener Jüdinnen und Juden aus Osteuropa, die den Mord an rund sechs Millionen Juden überlebt haben; für nicht wenige von ihnen ist Deutschland weniger jüdische Heimat als historisch besiegter Täterstaat – ein Ort, den ihre Vorfahren teils in den Reihen der Roten Armee überwunden haben und den manche bis heute entsprechend distanziert betrachten, was sich auch in intern gebrauchten, bitter-ironischen Bezeichnungen wie „Wiedergutmachungsjuden“ spiegelt. In den Neunzigern wurde hier die Chance gesehen, durch den Import von Kontingentflüchtlingen moralische Währung anzuhäufen.“
Stigmatisierung der Juden als billiger Vorwand zur Bereicherung
Wir Deutsche verdrängen zu großen Teilen erneut, dass Deutschland in den späten Dreißigern des letzten Jahrhunderts die Stigmatisierung von Juden als billigen Vorwand nutze. 1933 beginnend, 1936 sich mit dem Gesetz zur Devisenbewirtschaftung den potenziellen Zugriff auf das gesamte jüdische Vermögen verschaffend, um sich spätestens nach der Reichskristallnacht 1938 vollständig innerdeutsch, ab 1942 international an jüdischem Vermögen zu bereichern. Nicht aus Gründen der sozialen Umverteilung von unredlich erwirtschaftetem Reichtum, sondern zur Finanzierung eines brutalen Eroberungs- und später auch Vernichtungskrieges.
Das für diesen staatlich organisierten Raubzug gegen jüdisches Vermögen von 1936 bis 1939 gebaute Finanzamt ist heute der Sitz der Berliner Senatsverwaltung für Finanzen in der Klosterstraße in Berlins Mitte. Das Werkzeug des Raubs war die Reichsfluchtsteuer. Eine 1931 von Reichskanzler Brüning eingeführte Regelung, die den Abfluss von Valuta durch Kapitalflucht aus Deutschland einzuschränken versuchte, wirkte als effizientes Instrument der deutschen Verwaltung zur Enteignung jüdischer Emigranten: Sie zwang Juden, große Teile ihres Vermögens vor der Flucht an den deutschen Staat zu übertragen, sie beschränkte den Devisenverkehr und erschwerte die freie Vermögensverwertung. Bis 1938, also fünf Jahre nach der Machtergreifung der Nazis, waren 40 Prozent des jüdischen deutschen Besitzes enteignet.
So sieht aktuelle deutsche Verdrängung aus
Ein zwar 1952 abgeschafftes, aber in den Siebzigerjahren in seiner Mechanik ähnlich wirkendes, somit wiederauferstandenes Gesetz ist das Außensteuergesetz, letztmalig im Dezember 2023 umfangreich durch die Finanzverwaltung des Bundes spezifiziert. Man scheint allzeit bereit und vorbereitet.
Der viele Jahre auf der Website befindliche Hinweis auf die unrühmliche Geschichte dieses Hauses scheint schamhaft getilgt. Stattdessen findet sich auf der Website der Berliner Finanzverwaltung das Siegel als Pride Champion GOLD. Eine Auszeichnung der Arbeit im LSBTIQ+ Diversitymanagement. So sieht aktuelle deutsche Verdrängung aus.
Der in Deutschland nur selten thematisierte Umstand, dass Ostjuden, Jüdinnen und Juden aus dem postsowjetischen Raum, den weitaus größten Opferanteil der jüdischen Gemeinschaft am späteren Holocaust zu erleiden hatten, weswegen noch mal mehr Sensibilität im aktuellen Vorgehen Deutschlands an den Tag gelegt werden sollte, kann nur darauf zurückzuführen sein, dass in westdeutschen Eliten schlichtweg kaum Wissen, kaum Verständnis für die inhärenten Zusammenhänge existiert. Empfohlen sei Wassili Grossman und sein Spätwerk „Leben und Schicksal“. Eines der wichtigsten Werke russischer Literatur über Mechanismen hinter den Tragödien des 20. Jahrhunderts.
So können wir überausaus korrekten Erinnerungsbeamten aus Hessen Orden verleihen, wie jüngst dem Leiter der Gedenkstätte des KZ Buchenwald Wagner durch den thüringischen Ministerpräsidenten Voigt im Auftrag des Bundespräsidenten Steinmeier. Es wird nichts nutzen.
Missbrauch historischer Verantwortung für moralische Ermächtigung
Deutschland trägt in diesem Zusammenhang eine besondere Verantwortung – nicht als moralisches Vorrecht, sondern als historische Verpflichtung. Als Staat, der jüdisches Eigentum systematisch enteignet und zur Finanzierung eigener politischer und militärischer Ziele genutzt hat, kann erneuter staatlicher Zugriff auf Vermögen, die jüdischen Eigentümerinnen und Eigentümern gehören, nicht als rein technischer oder rechtlicher Vorgang behandelt werden.
Wo politische Maßnahmen faktisch erneut jüdisches Eigentum betreffen, wäre ein besonderes Maß an Zurückhaltung, Differenzierung und rechtlicher Strenge geboten, das über formale Rechtfertigungen hinausgeht. Eigentlich müsste Deutschland hier zumindest die lautesten Bedenken anmelden. Stattdessen herrscht häufig eine auffällige Stille – nach dem impliziten Muster: „Es geht um Russland. Und wir haben hier die Sonderlizenz, richtig auszuholen.“ So mein Kollege.
In New York, in Moskau, in Kiew und Jerusalem, selbst in den Berliner Gemeinden wird daher auf Festen und in den Synagogen in den letzten Wochen auffallend laut darüber diskutiert, wie viele der von der EU sanktionierten Russen und Ukrainer Juden sind, dass Teile des in der EU blockierten Vermögens jüdisches Eigentum darstellen und dass der insbesondere von Deutschland unter der Führung von Kanzler Merz betriebene Zugriff der EU, nicht nur als ungerecht, sondern als illegal eingestuft wird. Nachforschen lässt sich dies einfach. Die vom deutschen Ministerium für Bildung und Forschung sowie vom Deutschen Prototyp Fund geförderte Sanktionsplatform opensanctions.org mit Sitz in Berlin liefert allfällige Informationen.
Im Gegenzug könnten deutsche Schiffe beschlagnahmt werden
Selbst während des Zweiten Weltkrieges wurden die Reserven der jeweiligen Zentralbanken wechselseitig nicht beschlagnahmt. Das wird in Washington, Brüssel und in Moskau so gesehen und in Deutschland weder in Politik noch in den Medien angemessen thematisiert.
An der US-Ostküste, in Brüssel und in Moskau hört man übereinstimmend die Einschätzung, dass eine neue Eskalationswelle drohe. Die russische Administration würde sie als Raub sowie als Kriegserklärung der EU interpretieren und sich berechtigt fühlen, reziprok zu antworten. Beispielsweise deutsche Schiffe oder Schiffe mit deutschen Ladungen zu beschlagnahmen. Was die überaus strapazierten Lieferketten für Deutschland noch mehr unter Stress setzen würde. Ursache und Wirkung, Aktion und Reaktion. Das Handeln deutscher Politik der letzten 20 Jahre hat nicht nur Brücken in Deutschland zum Einstürzen gebracht.
So zuckt man in den jüdischen Gemeinden mit den Schultern und verweist in Gesprächen auf die Nützlichkeit für die deutschen Vermögen. Damals die Werhahns, die Klattens oder die Erben der Familie Siemens. Und heute? Wenig habe sich geändert, und auch damit würde umzugehen sein. So viel zum „Nie wieder!“ und dem Fluch zeitgeistiger Gier für zukünftige Generationen.
Interessanterweise zeigen innerjüdische Diskussionen zu diesen Vermögenswerten Lösungen auf. Diese erscheinen fair, angemessen und auf zukünftige Versöhnung zwischen der Ukraine, Russland und dem Westen ausgerichtet. Der aktuelle deutsche Furor, sich dieses Geld zur Finanzierung eines weiterzuführenden Krieges anzueignen, es nicht für die Konfliktmoderation und den Wiederaufbau in der Ukraine nutzen zu wollen, wird mittlerweile mehr als irritiert zur Kenntnis genommen.
Trumps Unterhändler rufen Deutschland zur Ordnung
Deutschland, in seinem moralischen Überschwang westdeutsch geprägter Eliten, muss offenbar unter persönlichem Einsatz Vertrauter von Präsident Trump zur Ordnung gerufen werden. Denn nicht anders ist die Besprechung am Montag in Berlin zu verstehen, zu der Kushner und Witkoff schon diesen Sonntagmorgen angereist sind. Das Zeitfenster für Deutschland in den letzten Wochen und Monaten, moderierend zu agieren, schließt sich. Und es wird wieder einmal von außen geschlossen.
Lösungen sind das Gebot der Stunde, nicht weitere Eskalation. Wenn Kiew nicht das Schicksal Saigons 1975 oder Kabuls 2021 erleiden möchte, versunken in Korruption und Selbsttäuschung über die Stärke des Westens, auf Jahrzehnte für den Westen verloren, sind klügere Antworten als Durchhalteparolen und Rechtsbeugung der Koalition der Willigen notwendig.
Sanktionen und Vermögensraub gegenüber jüdischen Strukturen – halbseiden, moralisch überhöht, begründet in Auslegungen rechtsstaatlicher Prinzipien in doppelten Standards, von deutschen Politikern beschlossen und erneut eilfertig von Beamten in Vorlagen, Anweisungen und Bescheide gegossen, sollten uns stutzig machen. Im Zweifel wiederholt sich Geschichte und unsere Kinder werden einen Preis zu zahlen haben.




