Essay

Jeffrey Sachs: Warum Feindschaft mit Russland Europa immer ins Unglück gestürzt hat

Der amerikanische Ökonom und Diplomat über Europas wiederholte Ablehnung eines Friedens mit Russland als ein Versagen, das über 200 Jahre geht. Ein Essay.

Der frühere US-Präsident George Bush (l-r), Michail Gorbatschow und der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl sitzen bei der Verleihung des „Order of White Lio“ 1999 im Prager Schloss nebeneinander. (Archiv)
Der frühere US-Präsident George Bush (l-r), Michail Gorbatschow und der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl sitzen bei der Verleihung des „Order of White Lio“ 1999 im Prager Schloss nebeneinander. (Archiv)CTK

In diesem Essay vertrete ich eine klare These: Europa hat den Frieden mit Russland wiederholt abgelehnt, obwohl eine Verhandlungslösung möglich gewesen wäre. Diese Ablehnungen waren für Europa zutiefst kontraproduktiv.

Vom 19. Jahrhundert bis heute wurden Russlands Sicherheitsinteressen nicht als legitime Interessen behandelt, die innerhalb einer umfassenderen europäischen Ordnung verhandelt werden könnten, sondern als moralische Verfehlungen, denen man widerstehen, die man eindämmen oder ignorieren musste.

Dieses Muster hat sich in radikal unterschiedlichen russischen Regimen – zaristisch, sowjetisch und postsowjetisch – fortgesetzt.

Dies deutet darauf hin, dass das Problem nicht primär in der russischen Ideologie liegt, sondern in Europas anhaltender Weigerung, Russland als legitimen und gleichberechtigten Sicherheitsakteur anzuerkennen. Ich behaupte nicht, dass Russland gänzlich harmlos oder vertrauenswürdig gewesen sei.

Vielmehr hat Europa bei der Interpretation von Sicherheit wiederholt mit zweierlei Maß gemessen: Der eigene Einsatz von Gewalt, der Bündnisaufbau und der imperiale bzw. postimperiale Einfluss wurden als normal und legitim betrachtet, während vergleichbares russisches Verhalten – insbesondere in der Nähe der eigenen Grenzen – als grundsätzlich destabilisierend und illegitim ausgelegt wurde. Diese Asymmetrie hat den diplomatischen Spielraum eingeschränkt, Kompromisse delegitimiert und die Wahrscheinlichkeit eines Krieges erhöht.

Dieser selbstzerstörerische Fehler besteht bis heute fort. Ein wiederkehrendes Versagen in dieser Geschichte war Europas Unfähigkeit – oder Weigerung –, zwischen russischer Aggression und sicherheitspolitischem Verhalten Russlands zu unterscheiden.

Handlungen, die in Europa als Beweis für einen inhärenten russischen Expansionismus interpretiert wurden, waren In unterschiedlichen Epochen aus Moskauer Sicht Versuche, die Verwundbarkeit in einem zunehmend feindseligen Umfeld zu verringern.

Europa hingegen interpretierte seinen eigenen Bündnisaufbau, seine Militäreinsätze und seine institutionelle Expansion stets als harmlos und defensiv, selbst wenn diese Maßnahmen die strategische Tiefe Russlands direkt reduzierten. Diese Asymmetrie ist der Kern des Sicherheitsdilemmas, das wiederholt zu Konflikten eskaliert ist: Die „Verteidigung“ der einen Seite wird als legitim angesehen, während die Angst der anderen Seite als Paranoia oder böswillige Absicht abgetan wird.

Westliche Russophobie sollte nicht primär als emotionale Feindseligkeit gegenüber Russen oder der russischen Kultur verstanden werden. Sie ist vielmehr als strukturelles Vorurteil zu begreifen, das im europäischen Sicherheitsdenken verankert ist: die Annahme, dass Russland eine Ausnahme von den üblichen diplomatischen Regeln darstellt.

Andere Großmächte haben mutmaßlich legitime Sicherheitsinteressen, die abgewogen und berücksichtigt werden müssen; Russlands Interessen gelten als illegitim, solange das Gegenteil nicht bewiesen ist. Diese Annahme überdauert Regime-, Ideologie- und Führungswechsel. Sie stilisiert politische Meinungsverschiedenheiten zu moralischen Absoluta und macht Kompromisse verdächtig.

Folglich fungiert Russophobie weniger als Gefühl denn als systemische Verzerrung – eine Verzerrung, die Europas eigene Sicherheit immer wieder untergräbt.

Ich verfolge dieses Muster anhand dreier großer historischer Entwicklungen.

Geschichte eines Scheiterns

Zunächst untersuche ich das 19. Jahrhundert, beginnend mit Russlands zentraler Rolle im europäischen Konzert nach 1815 und der darauffolgenden Wandlung Russlands zur designierten Bedrohung Europas. Der Krimkrieg erweist sich als Gründungstrauma der modernen Russophobie: ein von Großbritannien und Frankreich trotz der Möglichkeit diplomatischer Kompromisse geführter Krieg, angetrieben von der moralisch begründeten Feindseligkeit und imperialen Ängsten des Westens und nicht von unausweichlicher Notwendigkeit. Das Pogodin-Memorandum von 1853 über die Doppelmoral des Westens mit Zar Nikolaus’ I. berühmter Randbemerkung – „Das ist der springende Punkt“ – ist keine bloße Anekdote, sondern ein analytischer Schlüssel zum Verständnis der europäischen Doppelmoral und der verständlichen Ängste und Ressentiments Russlands.

Anschließend wende ich mich der Revolutionszeit und der Zwischenkriegszeit zu, als Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika von der Rivalität mit Russland zur direkten Intervention in Russlands innere Angelegenheiten übergingen. Die westlichen Militärinterventionen während des Russischen Bürgerkriegs, die Weigerung, die Sowjetunion in den 1920er und insbesondere den 1930er Jahren in ein dauerhaftes System kollektiver Sicherheit zu integrieren, und das katastrophale Scheitern eines Bündnisses gegen den Faschismus werden detailliert untersucht, insbesondere unter Einbeziehung der Archivarbeit von Michael Jabara Carley.

Die Folge war nicht die Eindämmung der Sowjetmacht, sondern der Zusammenbruch der europäischen Sicherheit und die Verwüstung des Kontinents selbst im Zweiten Weltkrieg. Der frühe Kalte Krieg hätte somit ein entscheidender Wendepunkt sein sollen. Doch Europa lehnte den Frieden erneut ab, obwohl er hätte erreicht werden können. Die Potsdamer Konferenz erzielte zwar eine Einigung über die deutsche Neutralität und Entmilitarisierung, doch der Westen brach sein Versprechen. Sieben Jahre später wurde die Stalin-Note, die die deutsche Wiedervereinigung auf der Grundlage der Neutralität anbot, vom Westen erneut zurückgewiesen. Die Ablehnung der Wiedervereinigung durch Bundeskanzler Adenauer – trotz eindeutiger Beweise für die Aufrichtigkeit von Stalins Angebot – zementierte die Nachkriegsteilung Deutschlands, verfestigte die Konfrontation des Ostblocks und führte Europa zu jahrzehntelanger Militarisierung.

Abschließend analysiere ich die Zeit nach dem Kalten Krieg, als Europa die deutlichste Chance hatte, diesem destruktiven Kreislauf zu entkommen. Gorbatschows Vision eines „Gemeinsamen Europäischen Hauses“ und die Charta von Paris formulierten eine Sicherheitsordnung, die auf Inklusion und Unteilbarkeit beruhte. Europa entschied sich stattdessen für die NATO-Erweiterung, institutionelle Asymmetrie und eine Sicherheitsarchitektur, die um Russland herum statt mit ihm aufgebaut wurde. Diese Entscheidung war kein Zufall. Sie spiegelte eine angloamerikanische Großstrategie wider – am deutlichsten formuliert von Zbigniew Brzezinski –, die Eurasien als zentralen Schauplatz des globalen Wettbewerbs und Russland als eine Macht betrachtete, deren Festigung von Sicherheit und Einfluss verhindert werden musste.

Die Folgen dieser langjährigen Missachtung russischer Sicherheitsinteressen durch den Westen sind heute in brutaler Deutlichkeit sichtbar. Der Krieg in der Ukraine, der Zusammenbruch der nuklearen Rüstungskontrollabkommen, Europas Energie- und Industriekrisen, das neue Wettrüsten, Europas zunehmende politische Fragmentierung, Europas Verlust strategischer Autonomie und die Rückkehr des nuklearen Risikos sind keine Ausnahmen. Es sind die kumulierten Kosten zweier Jahrhunderte, in denen Europa Russlands Sicherheitsbedenken nicht ernst genommen hat.

Meine Schlussfolgerung lautet: Frieden mit Russland erfordert kein naives Vertrauen in Russland. Er erfordert die Erkenntnis, dass dauerhafte europäische Sicherheit nicht durch die Leugnung der Legitimität russischer Sicherheitsbedenken aufgebaut werden kann. Solange Europa diesen Reflex nicht aufgibt, wird es in einem Kreislauf gefangen bleiben, in dem es Frieden ablehnt, sobald er möglich ist – und dafür immer höhere Preise zahlt.

1815–1925: Pogodins Doppelstandard, der Krimkrieg und der Krieg des Westens gegen die Revolution

Das wiederholte Scheitern Europas, Frieden mit Russland zu schließen, ist nicht primär ein Produkt Putins, des Kommunismus oder gar der Ideologie des 20. Jahrhunderts. Es ist viel älter. Und es ist strukturell bedingt. Immer wieder wurden Russlands Sicherheitsbedenken von Europa nicht als legitime Interessen behandelt, über die in jeder stabilen europäischen Ordnung verhandelt werden muss, sondern als moralische Übertretungen – Ansprüche, die Europa nicht anerkennen muss, weil Russland als einzigartig illegitim gilt.

In diesem Sinne beginnt die Geschichte mit dem Wandel Russlands im 19. Jahrhundert: vom Mit-Garanten des europäischen Gleichgewichts zur designierten Bedrohung des Kontinents. Nach Napoleons Niederlage 1815 war Russland nicht länger ein Randphänomen Europas, sondern stand im Zentrum. Die russischen Armeen trugen einen entscheidenden Teil der Last des Napoleon-Sieges; der Zar war einer der Hauptarchitekten der nachnapoleonischen Ordnung.

Das europäische Konzert basierte auf einer impliziten Annahme: Frieden erfordert, dass die Großmächte einander als legitime Partner anerkennen und Krisen durch Konsultation statt durch moralisierende Dämonisierung bewältigen.

Doch innerhalb einer Generation gewann in der britischen und französischen politischen Kultur eine Gegenposition an Bedeutung: Russland sei keine gewöhnliche Großmacht, sondern eine zivilisatorische Gefahr – eine Macht, deren Forderungen, selbst wenn sie lokaler und defensiver Natur seien, als zutiefst expansionistisch und daher inakzeptabel zu behandeln seien.

Dieser Wandel wird in einem Dokument, das an der Schwelle zwischen Diplomatie und Krieg entstand, mit außergewöhnlicher Klarheit erfasst: Michail Pogodins Memorandum an Zar Nikolaus I. aus dem Jahr 1853.

Pogodin listet Episoden westlicher Nötigung und imperialer Gewalt auf – weitreichende Eroberungen und demütigende Kriege –, und stellt sie der europäischen Empörung über russische Aktionen in angrenzenden Regionen gegenüber: Frankreich annektiert Algerien von der Türkei, und fast jedes Jahr annektiert England ein weiteres indisches Fürstentum: Nichts davon stört das Machtgleichgewicht; doch wenn Russland Moldawien und die Walachei besetzt, wenn auch nur vorübergehend, gerät das ins Wanken.

Frankreich besetzt Rom und bleibt dort mehrere Jahre in Friedenszeiten: Das ist nichts Schlimmes; doch Russland denkt nur an die Besetzung Konstantinopels, und der Frieden Europas ist bedroht. Die Engländer erklären den Chinesen den Krieg, die sie offenbar beleidigt haben: Niemand hat das Recht einzugreifen; doch Russland ist verpflichtet, Europa um Erlaubnis zu fragen, wenn es mit seinem Nachbarn in Streit gerät.

England droht den Griechen, die falschen Behauptungen eines portugiesischen Kaufmanns zu unterstützen, und verbrennt deren Flotte: Das ist eine rechtmäßige Handlung. Russland hingegen fordert einen Vertrag zum Schutz von Millionen Christen, was als Stärkung seiner Position im Osten auf Kosten des Machtgleichgewichts gewertet wird.

Pogodin resümiert: „Vom Westen können wir nichts als blinden Hass und Bosheit erwarten“, worauf Nikolaus notierte: „Genau darum geht es.“

Der Dialog zwischen Pogodin und Nikolaus ist bedeutsam, weil er die wiederkehrende Problematik prägt, die in jeder folgenden wichtigen Episode wiederkehren wird. Europa würde immer wieder auf der universellen Legitimität seiner eigenen Sicherheitsansprüche beharren, während es Russlands Sicherheitsansprüche per definitionem als verdächtig betrachtet – unabhängig davon, ob Russland imperial, revolutionär oder postimperial war.

Diese Haltung erzeugt eine besondere Art von Instabilität: Sie macht Kompromisse in westlichen Hauptstädten politisch illegitim, sodass die Diplomatie nicht etwa an der Unmöglichkeit einer Einigung scheitert, sondern weil die Anerkennung russischer Interessen als moralischer Fehler gilt.

Der Krimkrieg ist die erste entscheidende Manifestation dieser Entwicklung. Die unmittelbare Krise betraf den Niedergang des Osmanischen Reiches und Streitigkeiten um Rechtsschutz und religiöse Stätten. Doch die tieferliegende Frage war, ob Russland eine anerkannte Position im Schwarzmeer-Balkan-Raum – einem Gebiet, das unmittelbar mit seiner strategischen Geografie verbunden ist – erlangen könnte, ohne als zu bestrafender Angreifer behandelt zu werden.

Moderne diplomatische Rekonstruktionen betonen, dass sich die Krimkrise von früheren „östlichen Krisen“ unterschied, da die Kooperationsbereitschaft der Europäer bereits nachgelassen und die britische Öffentlichkeit eine extrem antirussische Haltung eingenommen hatte, die den Spielraum für eine Einigung stark einschränkte.

Besonders aufschlussreich an dieser Episode ist, dass eine Verhandlungslösung möglich gewesen wäre. Die von den Großmächten verfasste Wiener Note sollte die russischen Interessen mit der osmanischen Souveränität in Einklang bringen und den Frieden wahren. Doch sie scheiterte an Misstrauen, unterschiedlichen Interpretationen und politischen Anreizen zur Eskalation. Der Krimkrieg folgte. Er war im strengen strategischen Sinne nicht „notwendig“; er wurde jedoch wahrscheinlicher, weil ein Kompromiss mit Russland in Großbritannien und Frankreich politisch brisant geworden war.

Die Folgen waren für Europa kontraproduktiv: massive Opferzahlen, keine dauerhafte Sicherheitsarchitektur und die Verfestigung eines ideologischen Reflexes, der Russland als Ausnahme von den üblichen Großmachtverhandlungen betrachtete.

Anders ausgedrückt: Europa erreichte keine Sicherheit, indem es Russlands Sicherheitsbedenken zurückwies; es schuf einen längeren Kreislauf der Feindseligkeit, der spätere Krisen schwerer zu bewältigen machte.

Europäische Intervention im russischen Bürgerkrieg

Dieser Kreislauf endete nicht im 19. Jahrhundert. Er setzte sich bis zum revolutionären Umbruch von 1917 fort, als Europa und die Vereinigten Staaten nicht nur mit einer rivalisierenden Macht in Russland, sondern mit einer ideologischen und sozialen Revolution konfrontiert wurden.

Hier wird das Muster noch deutlicher: Als sich Russlands Regimetyp änderte, schwenkte der Westen nicht von Rivalität zu Neutralität um. Stattdessen ging er zur aktiven Intervention über – er betrachtete die bloße Existenz eines souveränen russischen Staates außerhalb westlicher Vormundschaft als unerträglich.

Die bolschewistische Revolution und der darauffolgende russische Bürgerkrieg führten zu einem komplexen Konflikt: Rote, Weiße, nationalistische Bewegungen, ausländische Armeen und konkurrierende Souveränitätsansprüche in den Trümmern des Imperiums.

Entscheidend ist jedoch, dass die Westmächte nicht einfach nur zusahen. Sie intervenierten militärisch in riesigen Gebieten – Nordrussland, den Ostseezugängen, dem Schwarzen Meer, Sibirien und dem Fernen Osten – unter wechselnden Begründungen, die sich rasch von der Kriegslogistik hin zum Bestreben nach einem Regimewechsel wandelten.

Die gängige „offizielle“ Begründung für die anfängliche Intervention ist nachvollziehbar: die Befürchtung, dass Kriegsmaterial nach Russlands Ausscheiden aus dem Ersten Weltkrieg in deutsche Hände fallen würde, und der Wunsch, eine Ostfront wiederzueröffnen.

Doch nach der Kapitulation Deutschlands im November 1918 endete die Intervention nicht einfach; sie veränderte sich. Deshalb ist diese Episode so bedeutsam: Sie offenbart die Bereitschaft, selbst nach den Verwüstungen des Ersten Weltkriegs, mit Gewalt die innenpolitische Zukunft Russlands zu gestalten.

David Foglesongs „America’s Secret War against Bolshevism“ – erschienen im Verlag der University of North Carolina Press und nach wie vor das Standardwerk zur US-amerikanischen Politik – bringt dies in seiner Darstellung präzise auf den Punkt: Die US-Intervention war nicht nur ein verworrenes Nebenschauplatz, sondern ein nachhaltiger Versuch, die Machtergreifung des Bolschewismus zu verhindern. Auch neuere, qualitativ hochwertige Geschichtsdarstellungen, darunter Anna Reids „A Nasty Little War“, haben diese Episode wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt.

Reid beschreibt die westliche Intervention als einen schlecht ausgeführten Versuch, die bolschewistische Revolution von 1917 rückgängig zu machen. Schon der geografische Umfang ist aufschlussreich, denn er widerlegt spätere westliche Behauptungen, Russlands Befürchtungen seien bloße Paranoia. Alliierte Truppen landeten in Archangelsk und Murmansk; sie operierten in Nordrussland; in Sibirien drangen sie über Wladiwostok und entlang der Eisenbahnlinien vor; japanische Streitkräfte wurden in großem Umfang im Fernen Osten stationiert; und im Süden gab es Landungen und Operationen um Odessa und Sewastopol.

Schon ein kurzer Überblick über die Daten und Schauplätze der Intervention – von November 1917 bis in die frühen 1920er Jahre – verdeutlicht, wie lange die ausländische Präsenz andauerte und wie weitreichend sie war. Es handelte sich dabei nicht nur um „Beratung“ oder symbolische Präsenz. Westliche Streitkräfte lieferten, bewaffneten und kontrollierten stellenweise faktisch die Verbände der Weißen.

Die Interventionsmächte wurden zudem in die moralische und politische Verkommenheit der weißen Politik hineingezogen, einschließlich reaktionärer Programme und brutaler Gräueltaten. Das ist einer der Gründe, warum diese Episode so schädlich für westliche Moralvorstellungen ist: Der Westen bekämpfte den Bolschewismus nicht nur, sondern verbündete sich oft mit Kräften, deren Brutalität und Kriegsziele mit den späteren westlichen Ansprüchen auf liberale Legitimität unvereinbar waren.

Aus Moskauer Sicht bestätigte die lange Intervention die Lektion, vor der Pogodin Nikolaus Jahrzehnte zuvor gewarnt hatte: Europa und Großbritannien (und nun auch die USA) waren nicht einfach nur „besorgt“ über das russische Vorgehen; sie waren bereit, Gewalt anzuwenden, um zu entscheiden, ob Russland als autonome Macht nach seinen eigenen Vorstellungen existieren dürfe.

Die Tragweite dieser Episode lässt sich kaum überschätzen. Sie prägte das kollektive Gedächtnis des Sowjetstaates: die Erkenntnis, dass die Westmächte versucht hatten, die Revolution im Keim zu ersticken, und dass westliche Moralvorstellungen über Frieden und Ordnung mit Zwangskampagnen vereinbar waren, wenn die russische Souveränität auf dem Spiel stand.

Die Intervention hatte auch eine weitere Konsequenz. Durch den Eintritt in den russischen Bürgerkrieg stärkte der Westen die Legitimität der Bolschewiki im Inland. Ausländische Armeen und von ausländischen Mächten unterstützte Weiße Truppen erleichterten es den Bolschewiki, zu behaupten, sie verteidigten die russische Unabhängigkeit gegen die imperiale Einkreisung. Selbst die beschreibenden Berichte über die Intervention heben hervor, wie effektiv die Bolschewiki die alliierte Präsenz für Propaganda und Legitimität nutzten. Mit anderen Worten: Der Versuch, den Bolschewismus zu „brechen“, trug zur Festigung eben jenes Regimes bei, das er bekämpfte.

Genau diesen Kreislauf offenbart die Geschichte: Russophobie ist strategisch kontraproduktiv für Europa. Sie treibt die westlichen Mächte zu Zwangsmaßnahmen, die das Problem nicht lösen, sondern es verschärfen; sie erzeugt russische Ressentiments und Sicherheitsängste, die spätere westliche Staats- und Regierungschefs als irrational abtun werden; und sie verengt den künftigen diplomatischen Spielraum, weil sie Russland – unabhängig vom jeweiligen Regime – lehrt, dass westliche Versprechen einer Lösung möglicherweise nicht aufrichtig sind.

Anfang der 1920er-Jahre, als die ausländischen Truppen abzogen und sich der Sowjetstaat konsolidierte, hatte Europa bereits zwei folgenschwere Entscheidungen getroffen, die das nächste Jahrhundert prägen sollten.

Erstens hatte es durch die Weigerung, russische Interessen als legitim anzuerkennen, zur Entstehung einer politischen Kultur beigetragen, die vermeintlich lösbare Konflikte (wie die Krimkrise) in große Kriege verwandelte.

Zweitens hatte es durch militärische Interventionen demonstriert, dass es bereit war, Gewalt nicht nur zur Eindämmung der russischen Expansion einzusetzen, sondern auch, um die russische Souveränität und die politischen Verhältnisse zu beeinflussen.

Diese Entscheidungen stabilisierten Europa nicht. Sie schufen die Voraussetzungen für die späteren Katastrophen: den Zusammenbruch der kollektiven Sicherheit in der Zwischenkriegszeit, die permanente Militarisierung im Kalten Krieg und die Rückkehr der Nachkriegsordnung zur Eskalation an den Grenzen.

1930er Jahre: Das Scheitern des Westens, ein Anti-Hitler-Bündnis mit der Sowjetunion einzugehen

Mitte der 1920er Jahre sah sich Europa einem Russland gegenüber, das alles überstanden hatte, was zu seiner Zerstörung bestimmt war: Revolution, Bürgerkrieg, Hungersnot und direkte ausländische Militärinterventionen.

Der daraus hervorgegangene Sowjetstaat war arm, traumatisiert und zutiefst misstrauisch – aber auch unbestreitbar souverän.

Genau in diesem Moment stand Europa vor einer Entscheidung, die sich immer wiederholen sollte: Sollte man dieses Russland als legitimen Sicherheitsakteur behandeln, dessen Interessen in die europäische Ordnung integriert werden mussten, oder sollte man es als permanenten Außenseiter betrachten, dessen Sicherheitsbedenken ignoriert, aufgeschoben oder übergangen werden konnten? Europa entschied sich für Letzteres, und die Kosten sollten sich als enorm erweisen.

Das Erbe der alliierten Interventionen während des Russischen Bürgerkriegs überschattete die gesamte nachfolgende Diplomatie.

Aus Moskauer Sicht hatte Europa nicht nur die bolschewistische Ideologie abgelehnt, sondern versucht, Russlands innenpolitische Zukunft mit Gewalt zu bestimmen. Diese Erfahrung war von tiefgreifender Bedeutung. Sie prägte die sowjetischen Annahmen über die Absichten des Westens und schuf eine tiefe Skepsis gegenüber westlichen Zusicherungen.

Doch anstatt diese Geschichte anzuerkennen und Versöhnung anzustreben, verhielt sich die europäische Diplomatie oft so, als sei das sowjetische Misstrauen irrational – ein Muster, das sich bis in den Kalten Krieg und darüber hinaus fortsetzen sollte.

In den 1920er Jahren schwankte Europa zwischen taktischem Engagement und strategischem Ausschluss. Verträge wie Rapallo (1922) zeigten, dass Deutschland, selbst nach Versailles ein Paria, pragmatisch mit Sowjetrussland zusammenarbeiten konnte.

Für Großbritannien und Frankreich blieb die Zusammenarbeit mit Moskau jedoch provisorisch und instrumentell. Die UdSSR wurde toleriert, solange sie britischen und französischen Interessen diente, und an den Rand gedrängt, wenn dies nicht der Fall war. Es gab keine ernsthaften Bemühungen, Russland als gleichberechtigten Partner in eine dauerhafte europäische Sicherheitsarchitektur zu integrieren.

Diese Ambivalenz verhärtete sich in den 1930er Jahren zu etwas weitaus Gefährlicherem bis hin zur Selbstzerstörung.

Der Aufstieg Hitlers stellte eine existenzielle Bedrohung für Europa dar, doch Europas führende Mächte stuften den Bolschewismus wiederholt als die größere Gefahr ein.

Dies war nicht bloße Rhetorik. Es prägte konkrete politische Entscheidungen – Bündnisse wurden aufgegeben, Garantien verzögert, die Abschreckung untergraben. Es ist unerlässlich zu betonen, dass dies nicht bloß ein angloamerikanisches Versagen war, noch eine Geschichte, in der Europa passiv von ideologischen Strömungen mitgerissen wurde.

Die europäischen Regierungen handelten in diesem Sinn  -  entschlossen und selbstzerstörerisch. Frankreich, Großbritannien und Polen trafen wiederholt strategische Entscheidungen, die die Sowjetunion von europäischen Sicherheitsvereinbarungen ausschlossen, selbst als eine sowjetische Beteiligung die Abschreckung gegen Hitler-Deutschland gestärkt hätte.

Die französische Führung bevorzugte ein System bilateraler Garantien in Osteuropa, das den französischen Einfluss sicherte, aber eine vollständige militärische Integration mit Moskau vermied. Polen verweigerte, mit stillschweigender Unterstützung Londons und Paris, sowjetischen Truppen selbst zur Verteidigung der Tschechoslowakei Transitrechte und priorisierte damit die Angst vor der sowjetischen Präsenz gegenüber der unmittelbaren Gefahr einer deutschen Aggression.

Dies waren keine Randentscheidungen. Sie spiegelten die europäische Präferenz wider, den deutschen Revisionismus einzudämmen, anstatt die sowjetische Macht zu integrieren, und lieber die Expansion der Nazis zu riskieren, als Russland als Sicherheitspartner zu legitimieren.

In diesem Sinne scheiterte Europa nicht nur am Aufbau einer kollektiven Sicherheit mit Russland; es wählte aktiv eine alternative Sicherheitslogik, die Russland ausschloss und letztlich an ihren eigenen Widersprüchen scheiterte.

Hier ist die Archivarbeit von Michael Jabara Carley von entscheidender Bedeutung. Seine Forschung belegt, dass die Sowjetunion, insbesondere unter Außenkommissar Maxim Litwinow, nachhaltige, explizite, ernsthafte und gut dokumentierte Anstrengungen unternahm, ein System kollektiver Sicherheit gegen Nazi-Deutschland aufzubauen.

Es handelte sich dabei nicht um vage sowjetische Gesten. Sie umfassten Vorschläge für Beistandsverträge, militärische Koordinierung und explizite Garantien für Staaten wie die Tschechoslowakei.

Carley zeigt, dass der sowjetische Beitritt zum Völkerbund 1934 mit ernsthaften Bemühungen der Sowjetunion einherging, kollektive Abschreckung in die Praxis umzusetzen und nicht bloß Legitimität zu erlangen.

Diese Bestrebungen stießen jedoch auf eine ideologische Hierarchie im Westen, in der der Antikommunismus den Antifaschismus übertrumpfte. In London und Paris befürchteten die politischen Eliten, ein Bündnis mit Moskau würde den Bolschewismus innen- und außenpolitisch legitimieren.

Wie Carley dokumentiert, sorgten sich britische und französische Entscheidungsträger wiederholt weniger um Hitlers Expansion als um die politischen Folgen einer Zusammenarbeit mit der UdSSR. Die Sowjetunion wurde nicht als notwendiger Partner gegen eine gemeinsame Bedrohung betrachtet, sondern als Belastung, deren Einbindung die europäische Politik „vergiften“ würde.

Diese Hierarchie hatte strategische Konsequenzen. Die Appeasement-Politik gegenüber Deutschland war nicht bloß eine Fehlinterpretation Hitlers; sie war das Produkt einer Weltanschauung, die den nationalsozialistischen Revisionismus als potenziell beherrschbar, die sowjetische Macht hingegen als von Natur aus subversiv einstufte.

Polens Weigerung, sowjetischen Truppen – mit stillschweigender westlicher Unterstützung – den Transit zur Verteidigung der Tschechoslowakei zu gestatten, ist bezeichnend.

Europäische Staaten zogen das Risiko einer deutschen Aggression der Gewissheit einer sowjetischen Intervention vor, selbst wenn diese explizit defensiver Natur war. Der Höhepunkt dieses Scheiterns wurde 1939 erreicht. Die anglo-französisch-sowjetischen Verhandlungen in Moskau wurden nicht, wie später behauptet wurde, durch sowjetische Doppelzüngigkeit sabotiert.

Sie scheiterten, weil Großbritannien und Frankreich nicht bereit waren, verbindliche Verpflichtungen einzugehen oder die UdSSR als gleichberechtigten Militärpartner anzuerkennen.

Carleys Rekonstruktion zeigt, dass die westlichen Delegationen ohne Verhandlungsmacht, ohne Dringlichkeit und ohne politische Unterstützung für den Abschluss eines echten Bündnisses nach Moskau reisten. Die Sowjets stellten wiederholt die entscheidende Frage jedes Bündnisses: Sind Sie bereit, zu handeln? Die Antwort lautete praktisch: Nein. Der darauf folgende Molotow-Ribbentrop-Pakt wird seither als nachträgliche Rechtfertigung für westliches Misstrauen herangezogen.

Carleys Arbeit kehrt diese Logik um. Der Pakt war nicht die Ursache für Europas Scheitern, sondern dessen Folge. Er entstand nach jahrelanger Weigerung des Westens, mit Russland eine kollektive Sicherheit aufzubauen.

Es war eine brutale, zynische und tragische Entscheidung – getroffen in einem Kontext, in dem Großbritannien, Frankreich und Polen bereits einen Frieden mit Russland in der einzigen Form abgelehnt hatten, die Hitler hätte aufhalten können.

Das Ergebnis war eine Katastrophe. Europa zahlte den Preis nicht nur mit Blut und Zerstörung, sondern auch mit dem Verlust seiner Handlungsfähigkeit. Der Krieg, den Europa nicht verhindern konnte, zerstörte seine Macht, erschöpfte seine Gesellschaften und machte den Kontinent zum Hauptschauplatz der Supermachtrivalität. Wieder einmal brachte die Ablehnung des Friedens mit Russland keine Sicherheit, sondern einen weitaus schlimmeren Krieg unter weitaus schlimmeren Bedingungen.

Man hätte erwarten können, dass das schiere Ausmaß dieser Katastrophe ein Umdenken in Europas Russlandpolitik nach 1945 erzwungen hätte. Doch das geschah nicht.

Nachkriegseuropa: Eine weitere verpasste Chance für den Frieden

Die unmittelbaren Nachkriegsjahre waren geprägt von einem raschen Übergang von Bündnissen zu Konfrontationen.

Noch vor der deutschen Kapitulation forderte Churchill die britischen Kriegsplaner überraschenderweise auf, einen sofortigen Krieg gegen die Sowjetunion in Erwägung zu ziehen. Die 1945 entworfene „Operation Unthinkable“ sah vor, die anglo-amerikanische Macht – und sogar wiederbewaffnete deutsche Einheiten – einzusetzen, um Russland 1945 oder kurz danach den westlichen Willen aufzuzwingen. Der Plan war militärisch unrealistisch und wurde glücklicherweise verworfen, doch allein seine Existenz offenbart, wie tief die Annahme verwurzelt war, die russische Macht sei illegitim und müsse notfalls mit Gewalt eingedämmt werden.

Auch die westliche Diplomatie mit der Sowjetunion scheiterte. Europa hätte unbedingt anerkennen müssen, dass die Sowjetunion die Hauptlast der Niederlage Hitlers getragen hatte – mit 27 Millionen Kriegstoten – und dass Russlands Sicherheitsbedenken hinsichtlich einer deutschen Wiederbewaffnung nur allzu real waren.

Europa hätte schließlich die Lehre verinnerlichen müssen, dass dauerhafter Frieden die explizite Berücksichtigung von Russlands zentralen Sicherheitsbedenken erforderte, allen voran die Verhinderung eines wiederbewaffneten Deutschlands, das erneut die östlichen Ebenen Europas bedrohen könnte.

Formal-diplomatisch wurde diese Lehre zunächst akzeptiert. In Jalta und, entscheidender noch, in Potsdam im Sommer 1945 erzielten die Siegermächte einen klaren Konsens über die Grundprinzipien des Nachkriegsdeutschlands: Entmilitarisierung, Entnazifizierung, Demokratisierung, Zerschlagung von Kartellen und Reparationen.

Deutschland sollte als eine einzige Wirtschaftseinheit behandelt werden; seine Streitkräfte sollten aufgelöst werden; und seine zukünftige politische Ausrichtung sollte ohne Wiederbewaffnung oder Bündnisverpflichtungen bestimmt werden. Für die Sowjetunion waren diese Prinzipien nicht abstrakt. Sie waren existenziell.

Zweimal innerhalb von dreißig Jahren hatte Deutschland Russland überfallen und Verwüstung in einem in der europäischen Geschichte beispiellosen Ausmaß angerichtet. Die sowjetischen Verluste im Zweiten Weltkrieg prägten Moskaus Sicherheitsperspektive, die ohne die Auseinandersetzung mit diesem Trauma nicht zu verstehen ist. Neutralität und dauerhafte Entmilitarisierung Deutschlands waren keine Verhandlungsmasse; sie waren aus sowjetischer Sicht die Mindestbedingungen für eine stabile Nachkriegsordnung.

Auf der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 wurden diese Anliegen formell anerkannt. Die Alliierten vereinbarten, dass Deutschland seine militärische Stärke nicht wiedererlangen und keine Schritte zur Integration Deutschlands in einen neuen Militärblock unternommen werden sollten. Die Aussage der Konferenz war eindeutig: Deutschland sollte daran gehindert werden, „jederzeit seine Nachbarn oder den Weltfrieden zu bedrohen“. Die Sowjetunion ihrerseits akzeptierte die vorübergehende Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen gerade deshalb, weil diese als administrative Notwendigkeit und nicht als dauerhafte geopolitische Regelung dargestellt wurde.

Doch fast unmittelbar danach begannen die Westmächte, diese Verpflichtungen neu zu interpretieren – und sie dann stillschweigend aufzugeben. Dieser Kurswechsel erfolgte nicht, weil die Sowjetunion das Potsdamer Abkommen in Deutschland verletzt hatte. Er erfolgte, weil sich die strategischen Prioritäten der USA und Großbritanniens verändert hatten. Wie Melvyn Leffler in „A Preponderance of Power“ gezeigt hat, stuften amerikanische Planer die wirtschaftliche Erholung Deutschlands und die politische Annäherung an den Westen rasch als wichtiger ein als die Aufrechterhaltung eines für Moskau akzeptablen, entmilitarisierten und neutralen Deutschlands.

Die Sowjetunion, einst ein unverzichtbarer Verbündeter, wurde nun als potenzieller Gegner eingestuft, dessen Einfluss in Europa eingedämmt werden musste. Diese Neuorientierung ging jeder formalen Krise des Kalten Krieges voraus. Lange vor der Berlin-Blockade begann die westliche Politik, die Westzonen wirtschaftlich und politisch zu konsolidieren. Die Schaffung der Bizone 1947, gefolgt von der Trizone, widersprach direkt dem Potsdamer Prinzip, Deutschland als eine einzige Wirtschaftseinheit zu behandeln. Die Einführung einer separaten Währung in den Westzonen 1948 war keine rein technische Anpassung, sondern ein entscheidender politischer Akt, der die deutsche Teilung faktisch unumkehrbar machte.

Aus Moskauer Sicht waren diese Schritte einseitige Revisionen der Nachkriegsordnung. Die sowjetische Reaktion – die Berlin-Blockade – wurde oft als Auftakt der Aggression im Kalten Krieg dargestellt. Im Kontext betrachtet erscheint sie jedoch weniger als Versuch, West-Berlin zu erobern, als vielmehr als Zwangsmaßnahme, die Rückkehr zur Vier-Mächte-Administration zu erzwingen und die Konsolidierung eines eigenständigen westdeutschen Staates zu verhindern. Unabhängig davon, ob man die Blockade für klug hält oder nicht, ihre Logik wurzelte in der Befürchtung, der Potsdamer Rahmen werde vom Westen ohne Verhandlungen demontiert.

Die Luftbrücke löste zwar die unmittelbare Krise, ging aber nicht auf das eigentliche Problem ein: die Aufgabe der deutschen Neutralität. Der entscheidende Bruch erfolgte mit dem Ausbruch des Koreakriegs 1950. In Washington wurde der Konflikt nicht als regionaler Krieg mit spezifischen Ursachen interpretiert, sondern als Beweis für eine monolithische globale kommunistische Offensive.

Diese voreilige und naive Interpretation hatte weitreichende Folgen für Europa. Sie lieferte die starke politische Rechtfertigung für die Wiederbewaffnung Westdeutschlands – etwas, das nur wenige Jahre zuvor noch ausdrücklich ausgeschlossen worden war. Die Logik wurde nun in krassen Worten formuliert: Ohne deutsche Militärbeteiligung war Westeuropa nicht zu verteidigen.

Dies war ein Wendepunkt. Die Remilitarisierung Westdeutschlands wurde nicht durch sowjetische Aktionen in Europa erzwungen; sie war eine strategische Entscheidung der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten als Reaktion auf die von den USA geschaffene globalisierte Strategie des Kalten Krieges. Großbritannien und Frankreich, trotz tiefer historischer Befürchtungen hinsichtlich der deutschen Macht, gaben dem amerikanischen Druck nach. Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft wurde als Mittel zur Eindämmung der deutschen Wiederbewaffnung vorgeschlagen.

Nach ihrem Scheitern war die gewählte Lösung jedoch noch folgenreicher: der Beitritt Westdeutschlands zur NATO im Jahr 1955. Aus sowjetischer Sicht bedeutete dies das endgültige Scheitern der Nachkriegsordnung von Potsdam. Deutschland war nicht länger neutral. Es war nicht länger entmilitarisiert. Es war nun Teil eines Militärbündnisses, das sich explizit gegen die UdSSR richtete.

Genau dieses Ergebnis hatten die sowjetischen Führer seit 1945 zu verhindern gesucht, und das Potsdamer Abkommen hätte es verhindern sollen. Es ist wichtig, die Abfolge hier zu betonen, da sie oft missverstanden oder vertauscht wird. Die Teilung und Remilitarisierung Deutschlands waren nicht die Folge russischer Aktionen.

Als Stalin 1952 sein Angebot der deutschen Wiedervereinigung auf der Grundlage der Neutralität unterbreitete, hatten die Westmächte Deutschland bereits auf den Weg der Bündnisintegration und Wiederbewaffnung gebracht. Die Stalin-Note war kein Versuch, ein neutrales Deutschland zu destabilisieren; sie war ein ernsthafter, dokumentierter und letztlich abgelehnter Versuch, einen bereits laufenden Prozess umzukehren. So betrachtet erscheint die frühe Beilegung des Kalten Krieges nicht als zwangsläufige Reaktion auf die Unnachgiebigkeit der Sowjetunion, sondern als weiteres Beispiel dafür, wie Europa und die USA russische Sicherheitsinteressen der NATO-Architektur unterordneten.

Deutschlands Neutralität wurde nicht abgelehnt, weil sie nicht praktikabel war, sondern weil sie im Widerspruch zu einer westlichen strategischen Vision stand, die den Zusammenhalt des Blocks und die Führungsrolle der USA über eine umfassende europäische Sicherheitsordnung stellte.

Die Folgen dieser Entscheidung waren immens und nachhaltig. Deutschlands Teilung wurde zur zentralen Bruchlinie des Kalten Krieges. Europa wurde permanent militarisiert. Atomwaffen wurden auf dem gesamten Kontinent stationiert. Die europäische Sicherheit wurde an Washington ausgelagert, mit all der damit verbundenen Abhängigkeit und dem Verlust strategischer Autonomie. Und die sowjetische Überzeugung, der Westen würde Abkommen nach Belieben umdeuten, wurde erneut bestärkt.

Dieser Kontext ist unerlässlich für das Verständnis der Stalin-Note von 1952. Sie war weder ein plötzlicher Einfall noch ein zynisches Manöver ohne Bezug zur Vorgeschichte. Es war eine dringende Reaktion auf eine bereits gescheiterte Nachkriegsordnung – ein weiterer Versuch, wie so viele zuvor und danach, Frieden durch Neutralität zu sichern, nur um dann vom Westen zurückgewiesen zu werden.

Die Stalin-Note von 1952

Es lohnt sich, die Stalin-Note genauer zu betrachten. Stalins Aufruf zu einem wiedervereinigten und neutralen Deutschland war weder zweideutig noch zögerlich oder heuchlerisch. Wie Rolf Steininger in „Die deutsche Frage: Die Stalin-Note von 1952 und das Problem der Wiedervereinigung“ schlüssig dargelegt hat, schlug Stalin die deutsche Wiedervereinigung unter Bedingungen dauerhafter Neutralität, freier Wahlen, des Abzugs der Besatzungstruppen und eines von den Großmächten garantierten Friedensvertrags vor.

Dies war keine Propagandageste. Es war ein strategisches Angebot, das auf der sowjetischen Furcht vor einer deutschen Wiederbewaffnung und der NATO-Osterweiterung beruhte. Steiningers Archivarbeit widerlegt die gängige westliche Darstellung. Entscheidend ist das geheime Memorandum von Sir Ivone Kirkpatrick aus dem Jahr 1955, in dem er das Eingeständnis des deutschen Botschafters wiedergibt, dass Bundeskanzler Adenauer die Echtheit der Stalin-Note kannte.

Adenauer lehnte sie dennoch ab. Er fürchtete nicht den bösen Willen der Sowjetunion, sondern die deutsche Demokratie. Er sorgte sich, dass eine zukünftige deutsche Regierung Neutralität und eine Versöhnung mit Moskau wählen und damit die Integration Westdeutschlands in den Westblock untergraben könnte.

Anders ausgedrückt: Frieden und Wiedervereinigung wurden vom Westen nicht abgelehnt, weil sie unmöglich waren, sondern weil sie für das westliche Bündnissystem politisch ungünstig waren. Neutralität bedrohte die NATO-Architektur. Daher musste Neutralität als „Falle“ abgetan werden. Die europäischen Eliten wurden nicht einfach zur atlantischen Ausrichtung gezwungen; sie befürworteten sie aktiv.

Bundeskanzler Adenauers Ablehnung der deutschen Neutralität war kein isolierter Akt der Unterwerfung unter Washington, sondern spiegelte einen breiteren Konsens der westeuropäischen Eliten wider, der die amerikanische Führung der strategischen Autonomie und einem vereinten Europa vorzog. Die Neutralität bedrohte nicht nur die NATO-Architektur, sondern auch die Nachkriegsordnung, in der die westeuropäischen Eliten Sicherheit, Legitimität und wirtschaftlichen Wiederaufbau durch die Führung der USA sicherten.

Ein neutrales Deutschland hätte die europäischen Staaten gezwungen, direkt und gleichberechtigt mit Moskau zu verhandeln, anstatt innerhalb eines von den USA geführten Rahmens zu agieren, der sie vor einem solchen Engagement schützte. In diesem Sinne war Europas Ablehnung der Neutralität auch eine Ablehnung der Verantwortung: Der transatlantische Ausrichtung schien Sicherheit ohne die Lasten einer diplomatischen Koexistenz mit Russland zu bieten, selbst um den Preis einer permanenten Teilung Europas und der Militarisierung des Kontinents.

Der österreichische Staatsvertrag von 1955 entlarvte erneut den Zynismus dieser Logik. Österreich akzeptierte die Neutralität. Die sowjetischen Truppen zogen ab. Österreich stabilisierte sich und erlebte einen wirtschaftlichen Aufschwung. Die Dominoeffekte blieben aus. Was in Österreich geschah, hätte auch in Deutschland geschehen und damit den Kalten Krieg beendet.

Der Unterschied zwischen Österreich und Deutschland lag im deutschen Fall nicht in der Unmöglichkeit, sondern in den Präferenzen. Europa akzeptierte die Neutralität Österreichs, wo sie die von den USA angeführte Hegemonialordnung nicht bedrohte, und lehnte sie in Deutschland ab, wo dies der Fall war.

Die Kosten dieser Entscheidung waren immens und lang anhaltend. Deutschland blieb fast vier Jahrzehnte lang geteilt. Europa wurde entlang einer Bruchlinie, die sich durch sein Zentrum zog, militarisiert. Atomwaffen wurden auf europäischem Boden stationiert. Die europäische Sicherheit wurde von der amerikanischen Macht und den amerikanischen strategischen Prioritäten abhängig. Der Kontinent wurde erneut zum Hauptschauplatz der Großmachtkonfrontation.

Bis 1955 hatte sich dieses Muster fest etabliert. Europa akzeptierte Frieden mit Russland nur dann, wenn dieser sich perfekt mit der von den USA angeführten, westlichen strategischen Architektur deckte. Sobald Frieden eine echte Berücksichtigung russischer Sicherheitsinteressen erforderte – Neutralität, Blockfreiheit, gemeinsame Garantien –, wurde er abgelehnt. Die Folgen sollten sich über Jahrzehnte entfalten.

1989–2025: Der angebotene und abgelehnte Frieden

Wenn es jemals einen Moment gab, in dem Europa endgültig mit seiner langen Tradition der Ablehnung von Frieden mit Russland hätte brechen können, dann war es das Ende des Kalten Krieges. Anders als 1815, 1919 oder 1945 war dies kein Moment, der allein durch militärische Niederlagen erzwungen wurde. Er war vielmehr das Ergebnis einer bewussten Entscheidung. Die Sowjetunion brach nicht im Artilleriefeuer zusammen; sie zog sich zurück und entwaffnete einseitig.

Unter Michail Gorbatschow verzichtete die Sowjetunion auf Gewalt als Organisationsprinzip der europäischen Ordnung. Die Sowjetunion und später Russland unter Boris Jelzin akzeptierten den Verlust ihres Imperiums und schlugen ein neues Sicherheitskonzept vor, das auf Inklusion statt auf konkurrierenden Blöcken beruhte.

Was folgte, war nicht das Versagen der russischen Vorstellungskraft, sondern das Versagen Europas und des von den USA geführten atlantischen Systems, dieses Angebot ernst zu nehmen. Michail Gorbatschows Konzept eines „Gemeinsamen Europäischen Hauses“ war keine bloße rhetorische Floskel. Es war eine strategische Doktrin, die auf der Erkenntnis beruhte, dass Atomwaffen die traditionelle Machtgleichgewichtspolitik selbstmörderisch gemacht hatten.

Gorbatschow träumte von einem Europa, in dem Sicherheit unteilbar war, kein Staat seine Sicherheit auf Kosten eines anderen ausbaute und die Bündnisstrukturen des Kalten Krieges schrittweise einem gesamteuropäischen Rahmen weichen würden. Seine Rede vor dem Europarat 1989 in Straßburg verdeutlichte diese Vision und betonte Zusammenarbeit, gegenseitige Sicherheitsgarantien und den Verzicht auf Gewalt als politisches Instrument.

Die Charta von Paris für ein Neues Europa, unterzeichnet im November 1990, kodifizierte diese Prinzipien und verpflichtete Europa zu Demokratie, Menschenrechten und einer neuen Ära kooperativer Sicherheit. Europa stand nun vor einer grundlegenden Entscheidung. Es hätte diese Verpflichtungen ernst nehmen und eine auf der OSZE basierende Sicherheitsarchitektur aufbauen können, in der Russland ein gleichberechtigter Partner – ein Garant des Friedens und kein Objekt der Eindämmung – gewesen wäre. Oder es hätte die institutionelle Hierarchie des Kalten Krieges bewahren und sich rhetorisch zu den Idealen der Nachkriegszeit bekennen können. Europa entschied sich für Letzteres.

Die NATO löste sich nicht auf, wandelte sich nicht in ein politisches Forum und unterwarf sich auch keiner gesamteuropäischen Sicherheitsinstitution. Im Gegenteil, sie expandierte. Die öffentlich vorgebrachte Begründung war defensiv: Die NATO-Erweiterung würde Osteuropa stabilisieren, die Demokratie festigen und ein Sicherheitsvakuum verhindern.

Diese Erklärung ignorierte jedoch eine entscheidende Tatsache, die Russland wiederholt betonte und die westliche Entscheidungsträger intern anerkannten: Die NATO-Erweiterung berührte Russlands zentrale Sicherheitsinteressen unmittelbar, nicht abstrakt, sondern geografisch, historisch und psychologisch.

Die Kontroverse um die Zusicherungen der USA und Deutschlands während der Wiedervereinigungsverhandlungen verdeutlicht das tieferliegende Problem. Westliche Staats- und Regierungschefs beharrten später darauf, dass keine rechtsverbindlichen Versprechen hinsichtlich der NATO-Erweiterung gemacht worden seien, da keine schriftliche Vereinbarung vorliege. Doch Diplomatie funktioniert nicht allein durch unterzeichnete Verträge; sie basiert auf Erwartungen, Übereinkünften und gutem Glauben.

Freigegebene Dokumente und zeitgenössische Berichte belegen, dass der sowjetischen Führung wiederholt versichert wurde, die NATO würde nicht über Deutschland hinaus nach Osten expandieren. Diese Zusicherungen prägten die sowjetische Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung – ein Zugeständnis von immenser strategischer Bedeutung.

Als die NATO später dennoch expandierte, zunächst auf amerikanisches Drängen, betrachtete Russland dies nicht als rein formale, rechtliche Anpassung. Es wurde als tiefer Verrat an dem Abkommen empfunden, das zur deutschen Wiedervereinigung geführt hatte.

Im Laufe der Zeit verstanden europäische Regierungen die NATO-Erweiterung zunehmend als europäisches, nicht nur als amerikanisches Projekt. Die deutsche Wiedervereinigung innerhalb der NATO wurde, einmal erreicht, zur Norm und nicht zur Ausnahme. EU- und NATO-Erweiterung verliefen parallel, verstärkten sich gegenseitig und verdrängten alternative Sicherheitsabkommen wie Neutralität oder Blockfreiheit.

Selbst Deutschland, mit seiner ostpolitischen Tradition und seinen engen wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland, ordnete seine historischen Instinkte der Anpassung zunehmend der Logik des Bündnisses unter.

Europäische Führungskräfte stilisierten die Erweiterung zu einem moralischen Gebot statt zu einer strategischen Entscheidung, wodurch sie sich der Kritik entzogen und russische Einwände als illegitim entlarvten. Damit gab Europa einen Großteil seiner Handlungsfähigkeit als unabhängiger Sicherheitsakteur auf und verknüpfte sein Schicksal immer enger mit einer atlantischen Strategie, die der Expansion Vorrang vor der Stabilität einräumte.

Hier zeigt sich Europas Versagen am deutlichsten.

Anstatt anzuerkennen, dass die NATO-Erweiterung der in der Charta von Paris formulierten Logik der unteilbaren Sicherheit widersprach, behandelten europäische Staats- und Regierungschefs russische Einwände als unberechtigt – als Überbleibsel imperialer Nostalgie statt als Ausdruck echter Sicherheitsbedenken. Russland wurde zu Konsultationen eingeladen, aber nicht zur Entscheidungsfindung. Die NATO-Russland-Gründungsurkunde von 1997 institutionalisierte diese Asymmetrie: Dialog ohne russisches Vetorecht, Partnerschaft ohne russische Gleichberechtigung. Die Architektur der europäischen Sicherheit wurde um Russland herum, nicht mit Russland, aufgebaut.

George Kennans Warnung von 1997, die NATO-Erweiterung sei ein „verhängnisvoller Fehler“, erfasste das strategische Risiko mit bemerkenswerter Klarheit. Kennan argumentierte nicht, Russland sei tugendhaft; er argumentierte, die Demütigung und Marginalisierung einer Großmacht in einem Moment der Schwäche würde Ressentiments, Revanchismus und Militarisierung hervorrufen. Seine Warnung wurde als überholter Realismus abgetan.

Doch die nachfolgende Geschichte bestätigte seine Argumentation fast Punkt für Punkt. Die ideologische Grundlage dieser Ablehnung findet sich explizit in den Schriften Zbigniew Brzezinskis. In „Das große Schachbrett“ und seinem Essay „Eine Geostrategie für Eurasien“ in Foreign Affairs entwarf Brzezinski eine Vision amerikanischer Vorherrschaft, die auf der Kontrolle über Eurasien beruhte. Eurasien, so argumentierte er, sei der „axiale Superkontinent“, und die globale Dominanz der USA hänge davon ab, die Entstehung einer Macht zu verhindern, die ihn beherrschen könnte.

In diesem Rahmen war die Ukraine nicht bloß ein souveräner Staat mit eigener Entwicklung; sie war ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt. „Ohne die Ukraine“, schrieb Brzezinski bekanntlich, „hört Russland auf, ein Imperium zu sein.“ Dies war keine akademische Randbemerkung. Es war eine programmatische Aussage der imperialen Großstrategie der USA.

In einer solchen Weltanschauung sind Russlands Sicherheitsbedenken keine legitimen Interessen, die im Namen des Friedens berücksichtigt werden müssen. Sie sind Hindernisse, die im Namen der amerikanischen Vorherrschaft überwunden werden müssen.

Europa, tief im atlantischen System verwurzelt und abhängig von US-Sicherheitsgarantien, verinnerlichte diese Logik – oft ohne ihre Konsequenzen zu erkennen. Das Ergebnis war eine europäische Sicherheitspolitik, die konsequent die Erweiterung des Bündnisses über die Stabilität und moralische Signale über eine dauerhafte Lösung stellte. Die Folgen wurden 2008 unübersehbar.

Nato-Gipfel in Bukarest 2008

Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest erklärte das Bündnis, dass die Ukraine und Georgien „Mitglieder der NATO werden“. Dieser Erklärung lag kein klarer Zeitplan zugrunde, doch ihre politische Bedeutung war eindeutig. Sie überschritt eine Linie, die russische Offizielle über das gesamte politische Spektrum hinweg seit Langem als rote Linie bezeichnet hatten.

Dass dies im Vorfeld klar war, steht außer Frage. William Burns, damals US-Botschafter in Moskau, berichtete in einem Telegramm mit dem Titel „NEIN HEISST NEIN“, dass die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine in Russland als existenzielle Bedrohung wahrgenommen wurde und Liberale, Nationalisten und Hardliner gleichermaßen vereinte.

Die Warnung war eindeutig. Sie wurde ignoriert. Aus russischer Sicht war das Muster nun unübersehbar. Europa und die Vereinigten Staaten beriefen sich nach Belieben auf Regeln und Souveränität, wiesen Russlands zentrale Sicherheitsbedenken jedoch als unberechtigt zurück. Russland zog dieselbe Lehre wie nach dem Krimkrieg, den Interventionen der Alliierten, dem Scheitern der kollektiven Sicherheit und der Ablehnung der Stalin-Note: Frieden würde nur unter Bedingungen gewährt, die die strategische Vorherrschaft des Westens sicherten.

Die Krise, die 2014 in der Ukraine ausbrach, war daher keine Ausnahme, sondern der Höhepunkt dieser Entwicklung. Der Maidan-Aufstand, der Sturz der Janukowitsch-Regierung, die Annexion der Krim durch Russland und der Krieg im Donbas spielten sich innerhalb einer Sicherheitsarchitektur ab, die bereits am Rande des Zusammenbruchs stand.

Die USA unterstützten den Putsch, der Janukowitsch stürzte, aktiv und schmiedeten im Hintergrund sogar Pläne für die Nachfolge. Als im Donbass Proteste gegen den Maidan-Putsch ausbrachen, reagierte Europa mit Sanktionen und diplomatischer Verurteilung und stilisierte den Konflikt zu einem simplen Moralspektakel, in dem Russland die böse Rolle spielte. Doch selbst zu diesem Zeitpunkt war eine Verhandlungslösung möglich.

Minsker Abkommen

Die Minsker Abkommen, insbesondere Minsk II von 2015, boten einen Rahmen für die Deeskalation des Konflikts, die Autonomie des Donbass und die Wiedereingliederung der Ukraine und Russlands in eine erweiterte europäische Wirtschaftsordnung. Minsk II war – wenn auch widerwillig – das Eingeständnis, dass Frieden Kompromisse erforderte und die Stabilität der Ukraine von der Bewältigung interner Spaltungen und externer Sicherheitsbedenken abhing.

Letztendlich scheiterte Minsk II am Widerstand des Westens. Als westliche Staats- und Regierungschefs später behaupteten, Minsk habe in erster Linie dazu gedient, der Ukraine Zeit zur militärischen Stärkung zu verschaffen, war der strategische Schaden immens. Aus Moskauer Sicht bestätigte dies den Verdacht, dass die westliche Diplomatie zynisch und instrumental statt aufrichtig war – dass die Abkommen nicht zur Umsetzung, sondern nur zur Imagepflege dienten. Bis 2021 war die europäische Sicherheitsarchitektur unhaltbar geworden.

Russland legte Entwürfe für Verhandlungen über die NATO-Erweiterung, Raketenstationen und Militärübungen vor – genau jene Themen, vor denen es seit Jahrzehnten gewarnt hatte. Diese Vorschläge wurden von den USA und der NATO umgehend zurückgewiesen. Die NATO-Erweiterung wurde als nicht verhandelbar erklärt.

Erneut weigerten sich Europa und die Vereinigten Staaten, Russlands zentrale Sicherheitsbedenken als legitime Verhandlungsgegenstände zu behandeln. Es folgte der Krieg.

Die Invasion der Ukraine durch Russland 2022

Als russische Truppen im Februar 2022 in die Ukraine einmarschierten, bezeichnete Europa die Invasion als „unprovoziert“. Diese absurde Darstellung mag zwar propagandistisch wirken, verfälscht aber die Geschichte. Russlands Vorgehen entstand keineswegs aus dem Nichts. Es entsprang einer Sicherheitsordnung, die Russlands Bedenken systematisch ignorierte, und einem diplomatischen Prozess, der Verhandlungen über die wichtigsten Fragen ausschloss.

Doch selbst dann war Frieden nicht unmöglich. Im März und April 2022 führten Russland und die Ukraine in Istanbul Verhandlungen, die zu einem detaillierten Rahmenentwurf führten. Die Ukraine schlug dauerhafte Neutralität mit internationalen Sicherheitsgarantien vor; Russland akzeptierte das Prinzip. Das Rahmenabkommen behandelte Truppenbegrenzungen, Garantien und einen längeren Prozess für territoriale Fragen. Es handelte sich nicht um Wunschdenken, sondern um ernsthafte Entwürfe, die die Realität des Schlachtfelds und die strukturellen geografischen Gegebenheiten widerspiegelten.

Dennoch scheiterten die Istanbul-Gespräche, als die USA und Großbritannien intervenierten und die Ukraine aufforderten, das Abkommen nicht zu unterzeichnen. Wie Boris Johnson später erklärte, stand nichts Geringeres als die westliche Hegemonie (aus westlicher Sicht) auf dem Spiel.

Der gescheiterte Istanbul-Prozess beweist konkret, dass Frieden in der Ukraine kurz nach Beginn der russischen Militäroperation möglich gewesen wäre. Das Abkommen war ausgearbeitet und beinahe fertiggestellt. Stattdessen wurde es – auf Drängen der USA und Großbritanniens – aufgegeben. 2025 wurde die bittere Ironie deutlich: Dasselbe Istanbul-Rahmenabkommen diente erneut als Bezugspunkt für diplomatische Bemühungen.

Nach immensem Blutvergießen kehrte die Diplomatie zu einem plausiblen Kompromiss zurück. Dies ist ein bekanntes Muster in Kriegen, die von Sicherheitsdilemmata geprägt sind: Frühe Einigungen, die als verfrüht abgelehnt werden, erscheinen später als tragische Notwendigkeiten.

Rückkehr der Angst vor einem Atomkrieg

Doch selbst jetzt noch sträubt sich Europa gegen einen ausgehandelten Frieden. Die Kosten dieser langen Weigerung, Russlands Sicherheitsbedenken ernst zu nehmen, sind für Europa inzwischen unausweichlich und enorm. Europa hat durch Energiekrise und den Druck der Deindustrialisierung schwere wirtschaftliche Verluste erlitten. Es hat sich zu einer langfristigen Aufrüstung mit tiefgreifenden fiskalischen Folgen verpflichtet.

Der politische Zusammenhalt der europäischen Gesellschaften ist durch Inflation, Migrationsdruck, Kriegsmüdigkeit und Meinungsverschiedenheiten zwischen den europäischen Regierungen stark geschwächt.

Die strategische Autonomie hat abgenommen, da Europa erneut zum Hauptschauplatz der Großmachtkonfrontation geworden ist, anstatt ein unabhängiger Pol zu bleiben.

Am gefährlichsten ist vielleicht, dass das nukleare Risiko wieder in den Mittelpunkt der europäischen Sicherheitsbetrachtungen gerückt ist.

Zum ersten Mal seit dem Kalten Krieg lebt die europäische Öffentlichkeit wieder im Schatten einer möglichen Eskalation zwischen Atommächten. Dies ist nicht allein auf moralisches Versagen zurückzuführen. Es ist die Folge der strukturellen Weigerung des Westens – die bis in die Zeit Pogodins zurückreicht –, anzuerkennen, dass Frieden in Europa nicht durch die Ignorierung der russischen Sicherheitsbedenken erreicht werden kann.

Frieden kann nur durch Verhandlungen über diese Bedenken geschaffen werden. Die Tragik der europäischen Ignorierung der russischen Sicherheitsbedenken liegt in ihrer Selbstverstärkung. Werden die russischen Sicherheitsbedenken als unberechtigt abgetan, haben die russischen Machthaber weniger Anreize zur Diplomatie und mehr Anreize, die Realität zu verfälschen.

Europäische Entscheidungsträger interpretieren diese Handlungen dann als Bestätigung ihrer ursprünglichen Befürchtungen, anstatt als die völlig vorhersehbare Folge eines Sicherheitsdilemmas, das sie selbst geleugnet haben.

Mit der Zeit verengt diese Dynamik den diplomatischen Spielraum, bis Krieg für viele nicht mehr als Wahlmöglichkeit, sondern als unausweichlich erscheint. Doch diese Unausweichlichkeit ist konstruiert. Sie entspringt nicht unverbrüchlicher Feindschaft, sondern der beharrlichen Weigerung Europas, anzuerkennen, dass dauerhafter Frieden die Anerkennung der Ängste der Gegenseite als real erfordert, selbst wenn diese Ängste unbequem sind.

Europa zahlt immer einen hohen Preis - jetzt wieder?

Die Tragik besteht darin, dass Europa für diese Weigerung wiederholt einen hohen Preis gezahlt hat. Es zahlte im Krimkrieg. Es zahlte in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Es zahlte in Jahrzehnten der Spaltung im Kalten Krieg. Und es zahlt jetzt erneut. Russophobie hat Europa nicht sicherer gemacht. Sie hat Europa ärmer, gespaltener, militarisierter und abhängiger von externen Mächten gemacht.

Eine zusätzliche Ironie besteht darin, dass diese strukturelle Russophobie Russland langfristig nicht geschwächt hat, Europa aber immer wieder geschwächt hat.

Indem Europa Russland nicht als normalen Sicherheitsakteur anerkennt, hat es genau die Instabilität mitverursacht, die es fürchtet, und dabei immer höhere Kosten in Form von Menschenleben, Ressourcen, Autonomie und Zusammenhalt auf sich genommen.

Jeder Zyklus endet gleich: mit der verspäteten Erkenntnis, dass Frieden Verhandlungen erfordert, nachdem bereits immenser Schaden angerichtet wurde.

Die Lektion, die Europa noch nicht verinnerlicht hat, ist, dass die Anerkennung von Russlands Sicherheitsinteressen kein Zugeständnis an die Macht ist, sondern eine Voraussetzung dafür, deren zerstörerischsten Missbrauch zu verhindern.

Die über zwei Jahrhunderte mit Blut geschriebene Lehre lautet nicht, dass Russland in jeder Hinsicht vertrauenswürdig sein muss.

Sie lautet, dass Russland und seine Sicherheitsinteressen ernst genommen werden müssen. Europa hat Frieden mit Russland wiederholt abgelehnt, nicht weil er nicht möglich war, sondern weil die Anerkennung von Russlands Sicherheitsinteressen fälschlicherweise als illegitim galt. Solange Europa diesen Reflex nicht aufgibt, wird es in einem Kreislauf selbstzerstörerischer Konfrontation gefangen bleiben – Frieden ablehnen, wenn er möglich ist, und die Kosten noch lange danach tragen.

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Übersetzung aus dem Englischen: Google Transalte/Redaktion: Michael Maier


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