Interview

Top-Völkerrechtler rechnet mit EU ab: Russland-Enteignung „absolut illegal“

Robert Volterra, Londoner Spitzenanwalt, sagt: Russisches Vermögen zu konfiszieren, würde die EU auf Generationen verfolgen. Moskau kündigt Vergeltung an.

Wollen Zugriff auf das russische Staatsvermögen: Friedrich Merz und Ursula von der Leyen, hier am 5. Dezember in Brüssel
Wollen Zugriff auf das russische Staatsvermögen: Friedrich Merz und Ursula von der Leyen, hier am 5. Dezember in Brüsselwww.imago-images.de

Die Idee der Europäischen Union (EU), die eingefrorenen Vermögen der russischen Zentralbank als Sicherheiten für neue Ukraine-Kredite zu verwenden, stößt bei Völkerrechts-Experten auf Unverständnis: „Der Plan, eingefrorene russische Staatsvermögen für Reparationskredite zu verwenden, ist nach Völkerrecht absolut illegal und ein eklatanter Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit“, sagte Robert Volterra der Berliner Zeitung.

Volterra ist Partner der Londoner Kanzlei Volterra Fietta und einer der angesehensten Anwälte für Internationales Recht. Er ist Gastprofessor für Völkerrecht am University College London (UCL) und Gastdozent am King’s College London. Volterra findet deutliche Worte für die Brüsseler Pläne: „Wenn ein Staat mithilfe von Verordnungen das Staatsvermögen eines anderen Staates beschlagnahmt, ist das ein ebenso schwerwiegender Verstoß gegen das Völkerrecht, wie wenn ein Staat mit Waffengewalt das Staatsgebiet eines anderen Staates besetzt.“

Sind Garantien nur Rhetorik?

Für Volterra ist entscheidend, ob die juristische Ausgestaltung wirklich so weit geht, dass ein echter Zugriff auf die russischen Vermögenswerte erfolgt. Er sieht nämlich zwei mögliche Strategien der EU: „Entweder schafft die EU einen Rechtsrahmen, der die Enteignung souveräner russischer Vermögenswerte oder deren Wert tatsächlich ermöglicht oder zulässt. Jedes Gericht der Welt, das sich an den Rechtsstaat hält, würde dies sofort für illegal erklären. Oder die EU entwickelt ein System, bei dem die Vermögenswerte in Wirklichkeit unberührt bleiben und die wahren Garantien von der EU selbst kommen – dann handelt es sich um eine Scheinoperation, lediglich eine Drohung der öffentlichen Diplomatie gegenüber Russland, und jegliche Bezugnahme auf Garantien für souveräne russische Vermögenswerte ist leere Rhetorik.“

Erinnerung an Subprime-Crash

Volterra, ein gebürtiger Kanadier, berät und vertritt Regierungen, internationale Organisationen und Privatpersonen in einer Vielzahl von streitigen und nichtstreitigen Fragen des Völkerrechts und der internationalen Streitbeilegung, darunter internationale Grenzen, grenzüberschreitende Ressourcen und bilaterale Investitionsabkommen. Er sagt, der EU-Plan erinnere ihn „ein wenig an die US-Hypothekenderivate, die die Finanzkrise von 2008 auslösten“: „Hochriskante Schulden wurden gebündelt und als risikoarme Schulden an Zahnärzte, Anwälte und Rentner verkauft, indem man ihnen eine attraktive, sichere Rendite versprach.“ Es könnte sich demnach „um ein Schneeballsystem handeln“. Dies wäre nicht ungewöhnlich: „Es gibt viele Schneeballsysteme, von denen wir nichts wissen und die nie zusammenbrechen“, sagt der Völkerrechtler.

Das Vorgehen der EU wird international stark beobachtet, sagt Volterra: „Alle Länder, einschließlich mächtiger Konkurrenten der EU, beobachten genau, was die EU tut.“ Der Plan könnte am Ende „von anderen Ländern, denen einige Maßnahmen der EU nicht gefallen, als Präzedenzfall genutzt werden“. Volterra: „Was passiert, wenn eine Großmacht die Umweltpolitik der EU ablehnt, sie für völkerrechtswidrig erklärt und dann beginnt, die souveränen Vermögenswerte der EU-Staaten zu beschlagnahmen?“

„Verletzung der Rechtsstaatlichkeit“

Für die EU hätte der Zugriff auch langfristige politische Konsequenzen. Ein solcher Schritt „würde die EU über Generationen hinweg verfolgen“. Volterra: „Die bewusste Verletzung der Rechtsstaatlichkeit ist ein Verstoß gegen die Grundprinzipien, auf denen die EU angeblich basiert. Jede zukünftige Behauptung der EU, sie verfolge eine ,moralische Außenpolitik‘, würde von anderen Staaten den Vorwurf der ,Heuchelei‘ auslösen. Die EU würde dafür lange Zeit einen hohen Preis zahlen.“

Äußerlich lassen sich die Europäer nicht beirren: Die EU-Kommission soll über eine „Notstandsregelung“ die Enteignung ohne Vetomöglichkeit eines einzelnen Staats durchziehen können. Allerdings ist unklar, welche Staaten wirklich Garantien für die bis zu 210 Milliarden hohen Kredite übernehmen wollen. Nach massivem Widerstand der Belgier hat die EU-Kommission jede Erwähnung von Euroclear aus den neuen Rechtstexten gestrichen. Bundeskanzler Friedrich Merz unterstützt den Plan dagegen. Er positioniert sich damit gegen Donald Trump. In einem Beitrag für die FAZ schrieb Merz, man könne es „nicht anderen, außereuropäischen Staaten überlassen, was mit den Finanzmitteln eines Aggressors geschieht“.

Die russische Zentralbank hat unteressen ihre erste Klage gegen Euroclear eingebracht.

Italien lehnt Plan überraschend ab

Offenbar gibt es auch in Italien massive rechtliche Bedenken: Laut einem internen Dokument, über das Politico berichtet, will das drittstärkste Land nicht für eine Enteignung stimmen. Gemeinsam mit Belgien, Malta und Bulgarien lehnen die Italiener den Plan ab. Auch Euractiv und Bloomberg berichten von der Ablehnung.

Ministerpräsidentin Georgia Meloni hatte bisher immer für die Verlängerung der Sanktionen gestimmt, hat aber auch einen guten Draht zu Präsident Donald Trump. Die Amerikaner haben die europäische Panik ausgelöst, weil sie das Geld gemeinsam mit Russland für den Wiederaufbau der Ukraine verwenden wollen. Nach Ansicht von Robert Volterra ist jede Maßnahme rechtswidrig, bei der nicht vorher die Zustimmung der Russen eingeholt wurde. In dieser Hinsicht haben die Amerikaner Ursula von der Leyen und Friedrich Merz auf dem falschen Fuß erwischt.

Für die EU-Führung besonders unerfreulich: Laut Politico sagen die Italiener, sie hätten am Freitag der Gewährung von Notstandsrechte für die EU aus reiner Solidarität zugestimmt. Daraus folge keine Zustimmung zu der Enteignung. Die vier Abweichler fordern statt der Enteignung Eurobonds - womit das Risiko auf Deutschland übergehen würde. Bundeskanzler Merz scheint dergleichen schon geahnt zu haben, als er seinen FAZ-Beitrag mit den fatalistischen Worten schloss: „Was wir jetzt entscheiden, entscheidet über die Zukunft Europas.“

Merz spricht von „europäischer Solidarität“

Die EU hatte am Freitag die Grundlage für die Nutzung von russischem Staatsvermögen für die Ukraine geschaffen. 25 der 27 Mitgliedstaaten stimmten dafür, mit Hilfe von Artikel 122 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union das Veto-Recht auszuschließen. In dem Artikel ist festgelegt, dass bei gravierenden Wirtschaftsschwierigkeiten in der EU mit sogenannter qualifizierter Mehrheit angemessene Maßnahmen beschlossen werden können. Dagegen votierten Ungarn und die Slowakei.

Nach der am Freitag getroffenen Vereinbarung würde die Kommission die Situation alle zwölf Monate überprüfen, wobei die Gelder so lange auf EU-Boden gesperrt blieben, bis sie feststellt, dass die außergewöhnlichen Umstände, die diesen Schritt rechtfertigen, nicht mehr bestehen, berichtet Bloomberg unter Verweis auf anonyme Quellen.

Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas erklärte laut dpa, der Beschluss stelle sicher, dass bis zu 210 Milliarden Euro an russischen Mitteln auf EU-Boden blieben - es sei denn, Russland leiste der Ukraine vollständige Wiedergutmachung für die durch den Krieg verursachten Schäden. Bundeskanzler Friedrich Merz sagte laut dpa, er freue sich über „ein klares Signal europäischer Souveränität“ und verwies darauf, dass am Ende sogar die zunächst kritischen Länder Italien und Belgien zustimmten - was sich in der Sache allerdings nicht halten lässt.

Moskau ist erbost und kündigt Vergeltung an

Russland zeigte sich an Samstag erzürnt, so die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass: „Brüssel verschweigt sorgfältig, dass letztendlich die Bürger der EU-Länder für diese politischen Ambitionen bezahlen werden. Unsere Vergeltungsmaßnahmen werden in Kürze folgen“, sagte Maria Sacharowa, Sprecherin des Außenministeriums. Die Sprecherin weiter: „Die russische Zentralbank veröffentlichte am 12. Dezember eine detaillierte Stellungnahme zu diesem Thema. Konkrete Schritte werden bereits eingeleitet. Am selben Tag gab die russische Aufsichtsbehörde bekannt, dass sie beim Moskauer Schiedsgericht Klage gegen die Euroclear-Depotbank eingereicht hat, um Schadensersatz für die der russischen Zentralbank entstandenen Verluste zu fordern. Gleichzeitig wird die Europäische Union selbst nicht mehr in der Lage sein, den Schaden auszugleichen, den solche Aktionen sowohl ihrem eigenen Finanz- und Wirtschaftssystem als auch ihrem weltweiten Ruf als einst verlässlicher Handels- und Investitionspartner zufügen. Solche Vergehen in den internationalen Beziehungen bleiben nicht ohne Folgen.“ Sacharowa sagte, dass die Aktion der EU „einen absolut rechtswidrigen Akt darstellt, der grob gegen die Normen des Völkerrechts verstößt“. Es handle sich um „regelrechten Diebstahl“.


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