Streitgespräch

Jarasch vs. Wegner: Hier streiten sie um die Zukunft von Berlins Straßen

Vizebürgermeisterin gegen Oppositionsführer. Grüne gegen CDU. Die Berliner Zeitung bat Bettina Jarasch und Kai Wegner zum Streitgespräch.

Bettina Jarasch macht deutlich, was sie meint.
Bettina Jarasch macht deutlich, was sie meint.Emmanuele Contini

Die eine will den Berliner Verkehr auf den Kopf stellen und glaubt, dass ganz viele Berliner das auch wollen. Der andere sieht sich als Schutzpatron der Autofahrer. Und beide wollen ins Rote Rathaus einziehen. Doch was ist eigentlich mit der SPD, die dort seit zwei Jahrzehnten sitzt? Und was hat die Mobilitätswende mit sozialer Marktwirtschaft zu tun? Verkehrssenatorin Bettina Jarasch von den Grünen und Oppositionsführer Kai Wegner von der CDU trafen sich zum Schlagabtausch bei der Berliner Zeitung an der Alten Jakobstraße. In sieben Wochen wird in Berlin gewählt.

Berliner Zeitung: Früher kam in Berlin ein Krankenwagen, wenn man einen Unfall hatte. Und zwar relativ schnell. Früher verließen Grundschulkinder die Grundschule und konnten lesen und schreiben. Früher sind keine Hochhäuser auf U-Bahn-Tunnel abgesackt, und früher musste eine Wahl nicht wiederholt werden. Was passiert eigentlich in Berlin?

Kai Wegner: Ich gehöre grundsätzlich nicht zu denjenigen, die sagen, früher alles besser war. Aber offenkundig funktioniert vieles in Berlin nicht mehr richtig. Und dass die Wahl wiederholt werden muss, ist da nur die Spitze des Eisberges von etwas, was wir seit Jahren kritisieren. Die Verwaltung, sprich die Strukturen in der Verwaltung, sind nicht mehr zeitgemäß, um die Herausforderungen unserer Zeit wirklich zu bewältigen. Deswegen haben wir in Berlin jetzt eine Situation, wo wir zum Beispiel zu wenig Schulneubau haben, zu wenig Kitaplätze. Wir kriegen nicht schnell genug einen Termin im Bürgeramt und vieles, vieles mehr. Mit der Gerichtsentscheidung wird es jetzt noch deutlicher. Nicht einmal eine Wahl funktioniert mehr in Berlin. Jetzt muss sich wirklich was ändern. Es kann nicht so bleiben, wie es ist. Und dafür treten wir an.

Mit „wir“ meinen Sie Frau Jarasch und sich?

Wegner: Mit „wir“ meine ich selbstverständlich die CDU. Denn offensichtlich gibt es nur Veränderungen in dieser Stadt, wenn die CDU ein starkes Ergebnis bekommt.

Wie sehen Sie das, Frau Jarasch? Was ist der Grund dafür, dass in Berlin die Grundfesten wackeln?

Bettina Jarasch: Das war jetzt ein klassischer Wahlkampfeinstieg von Herrn Wegner. Insofern, geschenkt!

Wegner: Ich dachte, wegen des Wahlkampfs sind wir hier?

Jarasch: Tatsache ist, dass in Berlin in den vergangenen rund 20 Jahren viele Dinge nicht mit der Konsequenz angepackt worden sind, mit der man sie anpacken muss. Da gehört Schule dazu und die Frage, wie diese Stadt überhaupt funktioniert. Da sage ich ganz klar: Das Wahldebakel war nun wirklich der allerletzte Weckruf. Das Traurige ist nur, dass die Vorschläge, wie man eine Verwaltung modernisieren kann und gut aufstellen kann, schon länger auf dem Tisch liegen. Seit dem Wahldebakel, seit dem Verfassungsgerichtsurteil, reden plötzlich alle darüber, als wäre das vom Himmel gefallen.

Sie sprechen von rund 20 Jahren. Genauso lange sitzt die SPD im Roten Rathaus. Sind die Sozialdemokraten Schuld an Berlins Misere?

Jarasch: Nun, sie haben seit 21 Jahren durchgängig Regierungsverantwortung und es gibt eine Reihe von Problemen, die verschleppt worden sind. Es gibt eine Kultur des Durchwurschtelns, die sich ändern muss und die sich sonst einschleicht, wenn eine Partei zu lange an der Macht ist.

Wegner: Ich stelle bei der SPD nach 21 Jahren Verantwortung vor allen Dingen wenig Demut fest. Dass die Wahl wiederholt werden muss, liegt maßgeblich in ihrer Verantwortung. Verantwortlich war der damalige Innensenator Geisel. Ich habe den Eindruck, dass die SPD sich in dieser Stadt nach dem Motto geriert: Das ist unsere Stadt, die Stadt gehört uns.

Kai Wegner hält dagegen.
Kai Wegner hält dagegen.Emmanuele Contini

Jarasch: Das allererste, was wir brauchen, sind klare Zuständigkeiten. Das ist die Grundlage von allem – und das Mühsame. Wenn man da nicht ran will, dann kann man tatsächlich die schönsten Vorhaben aufschreiben. Man kann auch mehr Geld reinschütten ins System, aber das wird nichts bringen.

Aber schon so lange wird in Berlin über eine Verwaltungsreform gesprochen, auch als CDU und SPD gemeinsam regiert haben. Und doch hat sich wenig bewegt. Ist nicht die Zeit gekommen, radikaler zu denken? Die FDP will die Bezirksverwaltungen abschaffen.

Jarasch: Wenn man nur redet, aber die nötigen Reformen nicht anpackt, kommt man an einen Punkt, wo alles vermeintlich immer radikaler werden muss, nur um zu überdecken, dass das, was nötig ist, nicht angepackt wurde. Davon halte ich nichts. Es braucht vor allem ein konsequentes Herangehen.

Wegner: Wer glaubt, wir lösen das Problem ausschließlich mit mehr Personal und mehr Geld, der irrt. Es geht auch darum bestehende Strukturen zu modernisieren. Das Allerwichtigste ist, dass wir die organisierte Verantwortungslosigkeit beenden müssen.

Gehen Sie bei dieser Analyse mit, Frau Jarasch? Wie finden Sie den Unterton, dass Herr Wegner andeutet, das Ganze gehe nur in einer anderen Konstellation als in der, die im Moment regiert?

Jarasch: Ich sage ja, es geht zuallererst darum, die Strukturen zu verändern, damit die Mitarbeiterinnen im öffentlichen Dienst wieder erfolgreich arbeiten und mit ihrer Arbeit zufrieden sein können.

Und da fühlen Sie sich auch noch in der richtigen Koalition aufgehoben? Oder wäre das nicht sogar einfacher in einem schwarz-grünen oder grün-schwarzen Bündnis?

Jarasch: Wir haben die klare Präferenz, dass wir mit Rot und Rot weiterregieren wollen. Aber wir wollen die nächste Regierung anführen. Denn das macht den Unterschied.

Wegner: Da sehen Sie den entscheidenden Unterschied zwischen Bettina Jarasch und mir. Ich bin überzeugt, wir brauchen einen echten Politikwechsel. Die entscheidende Frage wird am 12. Februar lauten: Wer liegt vorn, die Grünen oder die CDU?

Dann sehen Sie die SPD schon nicht mehr als Konkurrenz?

Jarasch: Ich möchte die SPD gerne als Partnerin in der Koalition haben. Ich frage mich jedoch, ob die SPD auch Juniorpartnerin kann.

Wegner: Wie Sie wissen, habe ich grundsätzlich nichts gegen eine Koalition mit der SPD. Aber es kann auch gut sein, dass die SPD nach der Wahl entscheiden muss: Geht sie in ein Bündnis, das für ein Weiter-so sorgt, nämlich Grün-Rot-Rot, oder ist auch die SPD bereit für den Modernisierungskurs?

Sie sagen, Herr Wegner, die Stadt braucht echte Erneuerung. Wären Sie auch bereit, im Falle eines Grünen Wahlsiegs, eine echte Erneuerung zu gewährleisten und Frau Jarasch zur Regierenden Bürgermeisterin zu wählen?

Kai Wegner mit dem Politikchef der Berliner Zeitung, Moritz Eichhorn (r.).
Kai Wegner mit dem Politikchef der Berliner Zeitung, Moritz Eichhorn (r.).Emmanuele Contini

Wegner: Die Frage stellt sich nach den aktuellen Umfragewerten nicht. In einer Umfrage liegen die Grünen knapp vorne, in anderen sind wir deutlich vorne. Ich finde es immer schwierig, etwas auszuschließen, weil ich finde, Demokraten müssen immer miteinander reden können. Nur mit der Linkspartei und erst recht mit der AfD werden wir nicht zusammenarbeiten.

Im Moment ändern sich Umfragewerte im Wochentakt. Aber hat Herr Wegner nicht insgesamt recht, Frau Jarasch? Bei all den Problemen, die diese Stadt hat, geht ein echter Neustart mit alten Koalitionspartnern? Mit Grün-Rot-Rot statt Rot-Grün-Rot? Haben Sie beide nicht auch die Verantwortung, dieser Stadt einen echten Neuanfang zu bescheren?

Jarasch: Mein Anspruch ist es, dass wir nicht nur die Menschen jetzt in der Krise entlasten und absichern, sondern dass wir es schaffen, dass wir aus diesen Krisen besser rauskommen, als wir reingegangen sind. Das bedeutet eine klare Vision davon zu haben, was Berlin in Zukunft krisenfest und stabil, aber auch lebenswert macht. Allerdings glaube ich nicht, dass die Modernisierung, die Kai Wegner vor Augen hat, die ist, die wir brauchen. Zwar sind rhetorisch immer alle dabei, die Hand für mehr Klimaschutz zu heben, aber wenn es um die Frage geht, was das konkret bedeutet, hört es schnell auf mit der Bereitschaft zu echten Veränderungen.

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Berliner Zeitung/Markus Wächter/Waechter
Zur Person
Bettina Jarasch, 54, ist seit genau einem Jahr Bürgermeisterin, also Vizeregierungschefin, von Berlin. Am 12. Februar möchte die Senatorin für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz Berlins Regierende Bürgermeisterin werden. Sie wäre die erste Grüne in diesem Amt.
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dpa
Zur Person
Kai Wegner, 50, ist als CDU-Partei- und Fraktionschef Berlins wichtigster Oppositionspolitiker. Der frühere Bundestagsabgeordnete will seine Partei nach sechs Jahren zurück in den Senat führen. Mit ihm als Regierenden Bürgermeister an der Spitze.

Das scheint wirklich sehr mühsam zu sein.

Jarasch: Es gibt sehr viele Beharrungskräfte in der Politik. Wir Grüne sind bereit, beim Klimaschutz wirklich zu sagen: Das hat Priorität. Ohne Klimaschutz ist nichts mehr von dem, was wir tun, wirklich sozial und gerecht. Meiner Meinung nach gibt es in der Bevölkerung eine viel größere Bereitschaft, als es die Politik glaubt.

Wenn das so ist, warum stellt sich dann die CDU gegen den Willen der Bevölkerung?

Wegner: Wir handeln konsequent nach dem Willen der Bevölkerung, indem wir mit aller Kraft für Klimaschutz eintreten, der auch sozial und wirtschaftlich funktioniert. Wir wollen die Bevölkerung zusammenbringen und sie nicht spalten. Klimaschutz heißt auch nicht: Ich mache eine Politik gegen Autofahrer, sondern ich muss gucken, wie kriege ich alle mitgenommen auf diesen wichtigen Weg. Mir ist Klimaschutz unglaublich wichtig. Ich habe drei Kinder und will, dass sie auch in einer lebenswerten Stadt aufwachsen. Ich hätte mir nur gewünscht, dass in den letzten sechs Jahren auch die Grünen mehr Mut gehabt hätten. Wir haben in Berlin etwa 1300 Dächer auf öffentlichen Gebäuden. Auf nur rund 160 Dächern davon ist Photovoltaik.

Ausdrucksstark im Dialog: Bettina Jarasch.
Ausdrucksstark im Dialog: Bettina Jarasch.Emmanuele Contini

Muss auch über heilige Kühe der Grünen wie das Tempelhofer Feld neu nachgedacht werden, Frau Jarasch?

Jarasch: Es bringt nichts, das Wort „Klima“ vor alle möglichen Projekte zu setzen, dann wird noch lange kein konsequenter Klimaschutz daraus. Das Tempelhofer Feld wird kein Klimaprojekt, indem man eine Randbebauung macht. Das will nämlich die CDU. Auch eine Autobahn wird niemals im Leben etwas, was dem Klimaschutz hilft, egal wie oft man sie als Klima-Autobahn bezeichnet, wie es die CDU bei der A100 macht. Klimaschutz bedeutet weniger CO2. Ich möchte Autofahrern Angebote machen. Ich möchte Autofahrern aber auch sagen, dass es Zeit ist, sich umzustellen. Es gibt Alternativen zum eigenen Auto.

Wegner: Es gibt so viele Menschen, für die das nicht infrage kommt, Pflegekräfte beispielsweise.

Jarasch: Selbstverständlich wird es Ausnahmen geben müssen, zum Beispiel für Handwerker. Aber klar ist, dass wir weniger Autos brauchen, weil wir nur so das Klima schützen und die Sicherheit in der Stadt erhöhen. Und dass wir den Platz, den Autos verbrauchen, indem sie irgendwo abgestellt sind, brauchen, um Platz für andere Verkehrsteilnehmer zu schaffen, für Fußgängerinnen, für Fahrradwege und Busspuren. Das sind die beiden Wahrheiten. Und die sieht abstrakt auch jeder ein. Nur wenn es einen selbst betrifft, wird es manchmal schwierig.

Wegner: Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Wir haben Rekordstände bei Kfz-Neuzulassungen. Und diese Autos brauchen auch Abstellmöglichkeiten. Warum kümmern wir uns nicht um mehr Parkhäuser auch für den Individualverkehr? Warum reden wir nicht über neue Antriebsarten? Über den Stand der Ladeinfrastruktur muss man sich fast schämen als Metropole. Das sind Versäumnisse der letzten Jahre. Die 500 Meter Friedrichstraße waren ein furchtbarer Ort, wo Fußgänger unsicherer waren als vorher, wo der Stau drum herum sich organisiert hat, wo es für Fahrradfahrer auch nicht viel besser war, außer dass sie durchrasen konnten. Die Gewerbetreibenden hatten schwere Zeiten. Das stärkt meinen Eindruck, dass eigentlich eher das Ziel des SPD-Grünen-Linken-Senats ist, nicht für jemanden Politik zu machen, sondern gegen das Auto. Ich werde von den Grünen mittlerweile als Schutzpatron der Autofahrer bezeichnet – und der bin ich gern.

Jarasch: Das ist die übliche Halbherzigkeit, die mir immer begegnet, wenn es um Klimaschutz geht: Angebote ja, Veränderungen nein. Alle wollen mehr ÖPNV, und wir investieren massiv in den ÖPNV. Aber Angebote auszubauen allein wird nicht genügen. Wir müssen schaffen, dass weniger Autos hier unterwegs sind. Sonst wird es nichts mit der Klimaneutralität. Gegenfrage, Herr Wegner: Wie schnell will die CDU denn klimaneutral sein?

Wegner: Im Gebäudebereich ist deutlich mehr CO2 einzusparen. Das muss man über neue Förderinstrumente machen. Wir brauchen mehr erneuerbare Energien, wir müssen die Fernwärme neu organisieren. Ich glaube, eine einfache Rekommunalisierung, einen Rückkauf der ehemals landeseigenen Versorgungsunternehmen, wie die SPD es fordert, ist nicht der richtige Ansatz.

Jarasch: Und was ist jetzt mit den Parkplätzen? Weniger? Ja oder nein?

Wegner: Ich habe Ja gesagt, wir brauchen Parkhäuser. Wir wollen die Kreuzungsbereiche sicherer machen für Fahrradfahrer. Wenn du so viele Kfz-Neuzulassungen hast, musst du dir doch auch Gedanken über Parkmöglichkeiten machen.

Jarasch: Das heißt, wir bleiben jetzt beim Du, Kai?

Wegner: Wenn du magst, Bettina, gern.

Bettina Jarasch: Kai, du organisierst, dass der Autoverkehr reibungslos läuft

Jarasch: Okay, das heißt aber, du betreibst im Grunde klassische CDU-Politik, ein bisschen grün angestrichen. Du organisierst vor allem, dass der Autoverkehr reibungslos funktioniert.

Wegner: Ich will, dass Mobilität reibungslos funktioniert – für alle.

Jarasch: Ich will mehr Mobilität mit weniger Autos. Ich werde Autos niemandem verbieten, aber ich will die Alternativen, und ich werde sie pushen.

Wegner: Aber das ist doch de facto ein Verbot.

Jarasch: Nein, wenn wir Parkgebühren maßvoll erhöhen, sind wir von jeder Art Verbot noch weit weg. Aber klar ist, in welche Richtung es gehen soll. Ich mache den ÖPNV günstiger und attraktiver. Müsste eine marktwirtschaftliche Partei wie die CDU das nicht begrüßen?

Anderthalb Stunden lang tauschten Kai Wegner und Bettina Jarasch ihre politischen Position aus – moderiert von Politikredakteuren der Berliner Zeitung.
Anderthalb Stunden lang tauschten Kai Wegner und Bettina Jarasch ihre politischen Position aus – moderiert von Politikredakteuren der Berliner Zeitung.Emmanuele Contini

Wegner: Wieso reden wir nicht über andere Antriebsformen als den Verbrenner? Mehr Klimaschutz heißt doch nicht, ich muss Individualverkehr abschaffen. Was ist mit den Elektroautos? Ich trete dafür an, dass wir mehr Barrierefreiheit auf dem Fußweg hätten. Dass der Kreuzungsbereich für Leute frei ist, die eine Gehhilfe brauchen, dass die nicht mit Sorge den Gehweg über die Straße überqueren müssen.

Jarasch: Du sagst, du willst die Gehwege freikriegen. Aber als ich neulich darauf hinwies, dass Straßen für Fahrzeuge da sind, also Stellplätze auch für Lastenräder, gab es einen Riesenaufschrei von euch. Dabei habe ich nur die geltende Rechtslage zitiert. Mir geht es darum, die Gehwege frei zu kriegen. Dir auch?

Wegner: Das ist ein wunderbares Beispiel. Ja, es ist geltende Rechtslage. Aber du hast quasi dazu aufgerufen, den Konflikt zu suchen – so empfinden das viele. Warum organisieren wir nicht Abstellflächen an den Orten, wo diese Dinger besonders häufig rumstehen?

Klare Kante bei Kai Wegner.
Klare Kante bei Kai Wegner.Emmanuele Contini

Jarasch: Scooter-Anbieter sind dazu bereit, solche Flächen verpflichtend zu machen, weil wir seit Monaten mit ihnen drüber verhandeln. Ich möchte aber vor allem, dass die ganze Sharing Mobility auch außerhalb des S-Bahn-Rings verfügbar ist. Wir haben am Stadtrand zu wenig davon. Und natürlich will ich, dass Autos künftig als Elektroautos unterwegs sind. Aber wenn wir das hinkriegen wollen, reicht dieses „Wir nehmen mal ein oder zwei Parkplätze hier und da weg“ nicht. Dann brauchst du ein Gesamtkonzept.

Das Mobilitätsgesetz sieht unter anderem vor, dass alle Hauptverkehrsstraßen in Berlin mit geschützten Radverkehrsanlagen auszustatten sind. In der Praxis fallen dafür Fahrstreifen und/oder Stellplätze weg. Herr Wegner, wären Sie dafür, dieses Landesgesetz zu ändern?

Kai Wegner: Die Berliner wissen nicht, wo sie ihr Auto abstellen sollen

Wegner: Ja! Die Menschen verstehen nicht, warum Straßen, auf denen kaum Radfahrer unterwegs sind, auf beiden Seiten alle Parkplätze verlieren sollen, damit dort 2,50 Meter breite Radwege entstehen. Sie wissen nicht, wo sie künftig parken sollen. Warum müssen Radwege so breit sein? Reichen für die Sicherheit nicht auch andere Standards aus?

Jarasch: Sicherheit ist das Stichwort. In einer Stadt wie Berlin, in der immer mehr Menschen mit dem Fahrrad unterwegs sind, brauchst du Radwege, die so breit sind, dass sich Radfahrer sicher überholen können. Radwege auf Bürgersteigen sind nicht sicher, weil Kraftfahrer beim Abbiegen Radfahrer auf Hochbordradwegen oft nicht sehen. Radwege auf der Straße sind sicherer, das ist nachgewiesen.

Wegner: Wenn Autos und Lkw rechts abbiegen, entstehen auch Gefahren auf Radwegen, die sich auf der Fahrbahn befinden.

Jarasch: Richtig, deshalb müssen wir auch generell in der Stadt die Geschwindigkeit verringern. Autos und Lkw sollen langsamer fahren und langsamer abbiegen. Und Abbiegeassistenten müssen verpflichtend in Lkw eingebaut sein.

Frau Jarasch, muss Ihre Partei nicht befürchten, dass Wähler aus dem bürgerlichen Spektrum, die bisher Grün gewählt haben, zur CDU oder SPD überlaufen, sobald die grüne Mobilitätspolitik in ihrem Viertel, auf ihrer Straße, Gestalt annimmt? Wer seinen Autostellplatz verliert, ärgert sich über die Grünen.

Jarasch: Einen großen Unterschied zwischen der CDU und der SPD kann ich bei der Mobilitätspolitik nicht erkennen. Beide sagen Ja zur Mobilitätswende und sagen Nein, wenn wir übers Auto sprechen. Doch in dieser Stadt wünschen sich immer mehr Menschen eine andere Mobilität. Viele haben ihr privates Auto noch nicht abgeschafft, aber auch ihnen ist klar, dass sich auf den Straßen viele Dinge ändern müssen. Manchmal braucht es einen Kick, wie in unserer Familie. Unser Auto musste vor zweieinhalb Jahren kaputtgehen, damit wir sagten: Jetzt reicht es, wir schaffen kein neues mehr an.

Wegner: Bei dir war es eine freie Entscheidung. So sollte es sein: Jeder soll frei entscheiden können, welche Fortbewegungsart er nutzt. Wir wollen keinen zwingen.

Jarasch: Verkehrswende funktioniert mit guten Angeboten. So soll jeder die Wahl haben, überall zuverlässig mit den Öffis und sicher mit dem Rad zu fahren – da gibt es in Berlin noch einiges zu tun. Aber es sind auch Push-Faktoren nötig. Natürlich wird es in Berlin weiterhin möglich sein, Auto zu fahren. Aber es wird auch so sein, dass weitere Stellplätze für klimafreundliche Zwecke umgewidmet werden, dass Parkgebühren erhöht und Parkraumbewirtschaftung ausgedehnt werden. Für Wohnraum zahlst du immer mehr – warum soll es dann nur 10, 20 Euro kosten, sein Auto ein ganzes Jahr lang abstellen zu dürfen? Wir wollen, dass die Anwohnerparkvignette auch in Berlin künftig angemessen bepreist wird und dass die Größe des Autos dabei eine Rolle spielt.

Wegner: Damit wird das Wohnen für viele Menschen teurer.

Jarasch: Damit sind wir bei einem anderen Thema, über das wir sprechen sollten.

Das sollten wir tun. Der Senat versucht, in einem Bündnis mit Bauwirtschaft und Mietervertretungen, eine Neubauoffensive in Gang zu bringen und gleichzeitig Mieter vor horrenden Mietsteigerungen zu schützen. Reicht das, Herr Wegner?

Wegner: Offenkundig nicht. Die Neubauzahlen sinken, die Zahl der Baugenehmigungen geht zurück. Das Einzige, was in Berlin steigt, sind die Mieten, und zwar stärker als zum Beispiel in Hamburg. Es gibt zu wenig bezahlbaren Wohnraum, keiner findet mehr eine Wohnung. Ich höre auch, dass überall gebaut wird – nur nicht in Berlin. Diese Stadt braucht ein Bündnis für bezahlbares Bauen und Wohnen, das wirklich etwas bringt. Bei der Regierenden Bürgermeisterin habe ich das Gefühl, dass das Thema für sie eine Showveranstaltung ist. Dabei geht es hier um die drängendste soziale Frage unserer Zeit.

Noch mehr Bauen – wie verträgt sich das mit einer grünen, entsiegelten Stadt?

Bettina Jarasch: Die rot-grün-rote Koalition hat für Mieter einiges getan

Jarasch: Kai Wegner weiß, dass Neubau nicht die ganze Lösung ist. Sicher, wir brauchen Neubau – platzsparender als bisher, ökologischer als bisher. Doch Berlin ist nach wie vor eine Mieterstadt, in der mehr als 80 Prozent der Menschen zur Miete wohnen. Für diese Menschen hat unsere Koalition schon einiges getan.

Wegner: Welche Maßnahme hat denn funktioniert? Ich kenne keine.

Jarasch: Da gibt es Milieuschutz, Vorkaufsrechte und vieles andere. Doch du weißt, dass uns der Bund weitere Instrumente an die Hand geben muss. Schließlich warst du baupolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, zuständig für Großstädte. In dieser Funktion hast du entweder versucht, solche Instrumente zu verhindern, oder du hast dafür gesorgt, dass sie nicht wirken. Am Ende mussten wir in Berlin zum Mittel des Mietendeckels greifen. Und weil alle anderen Maßnahmen so unwirksam gemacht worden sind, dass wir hier keinen richtigen Mieterschutz hinbekommen, kam der Vergesellschaftungs-Volksentscheid.

Kai Wegner: Bettina, ihr wusstet, dass der Mietendeckel rechtswidrig ist

Wegner: Das stimmt nicht, was du mir vorhältst. Erstens wurde während meiner Zeit im Bundestag die Mietpreisbremse deutlich verschärft. Zweitens hat unsere Schwesterpartei CSU einen Mietwucherparagrafen eingebracht, und ich wundere mich, dass er im Bundesrat keine Mehrheit bekam. Drittens hat der Bund für das Verbot der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen, über das ihr hier in Berlin sprecht, die Grundlagen gelegt. Das habe ich zusammen mit unseren Partnern von der SPD gegen Widerstände in meiner eigenen Fraktion durchgesetzt. Zum Mietendeckel: Ihr wusstet von Anfang an, dass er rechtswidrig war.

Verwaltungsreform, bezahlbare Mieten, mehr Mobilität – da haben Sie sich ziemlich dicke Bretter ausgesucht. Haben Sie keine Angst, dass Sie wie Frau Giffey oder andere vor ihr Erwartungen aufbauen, die nicht erfüllbar sind?

Jarasch: Optimistisch muss man sein, wenn man Politik betreiben will. Ich bin bereit, die Prozesse zu verbessern, dranzubleiben, die Dinge zu steuern. So lange, bis wir es gut hingekriegt haben.

Wegner: Ich bin von Natur aus Optimist. Wir müssen Lösungen finden. Ich will nicht mehr akzeptieren, dass neidisch auf andere Städte geschaut wird, wenn wir über Digitalisierung, Radverkehr, Wohnungsbau sprechen. Viel zu viel ist über die Jahre in Berlin gegen die Wand gefahren worden. Dabei ist Berlin eine großartige Stadt mit tollen Menschen, mit tollen Möglichkeiten.

Bettina Jarasch und Kai Wegner im Foyer der Berliner Verlags in der Alten Jakobstraße in Kreuzberg.
Bettina Jarasch und Kai Wegner im Foyer der Berliner Verlags in der Alten Jakobstraße in Kreuzberg.Emmanuele Contini

Wir haben eine grundsätzliche Frage zur Verantwortung: Was halten Sie vom österreichischen Modell, wonach jedes Ressort ohne koalitionsbedingte Fesseln handeln kann, je nachdem, welche Partei dort das Sagen hat? 

Wegner: Wir brauchen eine neue Form der Zusammenarbeit, eine neue Form des Vertrauens, das stimmt. Aber ich möchte nicht, dass Bettina Jarasch Verkehrspolitik nur nach ihrem Willen betreibt, und sie möchte sicher nicht, dass ich bei der Bau- und Mietenpolitik allein das Sagen habe.

Jarasch: Ich sitze dann im Roten Rathaus und sage dir, wie du das machen darfst.

Wegner: Im Ernst: In anderen Landesregierungen sehe ich deutlich mehr Verantwortungsübernahme. Wer hätte es für möglich gehalten, dass in Hessen ein eher linker Landesverband der Grünen und ein eher konservativer Landesverband der CDU geräuschlos und erfolgreich regieren? Weil man einander vertraut. Man verbringt viele Stunden hinter verschlossenen Türen, und dann tritt man gemeinsam vor die Bürger.

Vertrauen Sie Frau Jarasch?

Wegner: Wir kennen uns schon lange. Wir haben in Spandau gemeinsam für den Bundestag kandidiert. Das merkt man auch. Es gibt große Unterschiede, das ist klar, sonst wären wir in einer Partei. Aber das Entscheidende ist die Bereitschaft, sich an einen Tisch zu setzen, zu verhandeln und dann das Beschlossene gemeinsam zu vertreten.

Vertrauen Sie Herrn Wegner?

Jarasch: Vertrauen ist weniger die Frage als die, ob wir auch zusammenpassen würden. Da wurden heute mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten deutlich.